(Dieses Kapitel erschien in verkürzter Form vor mehreren Jahren in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XII, Heft 1.) Bei dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Individualität und dem sozialen Interesse ist vielfach zu beobachten, daß die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir zwei soziale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specialität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so muß er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, daß, je größer die Unähnlichkeit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im ändern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Complex für sich giltigen Norm muß notwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des ändern erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen sozialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u.s.w. Die Wirkung dieses Prozesses - von der blos formalen Seite -kann man häufig in der internationalen Sympathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstoßung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist. Nachdem der soziale Differenzierungsprozeß zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig; geführt hat, bringt die blos formale Thatsache einer bestimmten sozialen Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der verschiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch äußerliche Beziehung. Dazu kommt, daß mit einer solchen Differenzierung der sozialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu ändern Gruppen zu setzen. Wenige Beispiele werden für diesen an sich einleuchtenden Vorgang genügen. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Produktion einschränkte, die alle ändern gleichfalls leisteten, andererseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes vor Überflügelung durch den ändern zu schützen suchte, - war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgendwelche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigene Fabrikat zu verkaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle und eine sehr beschränkte Anzahl von Gehülfen zu halten, und Ähnliches. Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren Kämpfen, gewann, mußte ein Doppeltes eintreten: einmal mußte sich die ursprünglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleichheitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, daß Einer den Ändern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so mußten eben jene persönlichen Eigenschaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch steigern und zu immer schärferen Specialisierungen und Individualisierungen innerhalb der Genossenschaft und schließlich zur Sprengung derselben führen. Andererseits aber wurde durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, daß der Producent und der Händler, früher in einer Person vereinigt, sich von einander differenzierten, gewann der letztere eine unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher unmögliche kommerzielle Anknüpfungen erzielt. Die individuelle Freiheit und die Vergrößerung des Betriebes stehen in Wechselwirkung. So zeigte sich bei dem Zusammenbestehen zünftiger Beschränkungen und großer fabrikmäßiger Betriebe, wie es etwa anfangs dieses Jahrhunderts in Deutschland stattfand, stets die Notwendigkeit, den letzteren die Produktions- und Handelsfreiheit zu lassen, die man den Kreisen kleinerer und engerer Betriebe kollektivistisch einschränken konnte oder wollte. Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Entwicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbereiten sollte: einmal die individualisierende Differenzierung und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. Die Geschichte der Bauernbefreiung zeigt z.B. in Preußen einen in dieser Beziehung ähnlichen Prozeß. Der erbunterthänige Bauer, wie er in Preußen bis etwa 1810 existierte, befand sich sowohl dem Lande wie dem Herrn gegenüber in einer eigentümlichen Mittelstellung; das Land gehörte zwar dem letzteren, aber doch nicht so, daß der Bauer nicht gewisse Rechte auf dasselbe gehabt hätte. Andererseits mußte er zwar dem Herrn auf dessen Acker frohnden, bearbeitete aber daneben das ihm zugewiesene Land für seine eigene Rechnung. Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde nun dem Bauer ein gewisser Teil seines bisherigen, zu beschränkten Rechten besessenen Landes zu vollem und freiem Eigentum übermacht, und der Gutsherr war auf Lohnarbeiter angewiesen, die sich jetzt zumeist aus den Besitzern kleinerer, ihnen abgekaufter Stellen rekrutierten. Während also der Bauer in den früheren Verhältnissen die teilweisen Qualitäten des Eigentümers und des Arbeiters für fremde Rechnung in sich vereinigte, trat nun scharfe Differenzierung ein: der eine Teil wurde zu reinen Eigentümern, der andere zu reinen Arbeitern. Wie aber hierdurch die freie Bewegung der Person, das Anknüpfen entfernterer Beziehungen hervorgerufen wurde, liegt auf der Hand; nicht nur die Aufhebung der äußerlichen Bindung an die Scholle kam dafür in Betracht, sondern auch die Stellung des Arbeiters als solchen, der bald hier, bald dort angestellt wird, andererseits der freie Besitz, der Veräußerlichungen und damit kommerzielle Beziehungen, Umsiedlungen u. s. w. ermöglicht. So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues -reales und ideales - zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und dasselbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, daß die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unterabteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbildung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schärferes Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer größeren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns versichert wird, daß die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Abteilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich; dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber; je enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzierung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, daß die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines ändern Volkes durch schärfere Charakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muß Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psychologischen Regel, daß differente, aber zu dem gleichen Genus gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefaßte Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegenseitig derart paralysieren, daß ein mittlerer Eindruck herauskommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere ausgeglichen, und wie die äußerst verschiedenen Farben das farblose weiße...