Erste Etappe:
Dovadola bis Rifugio Marzanella 22 km
Da waren wir nun angelangt, in Dovadola, dem Ausgangspunkt unserer Pilgerreise nach Assisi. Man kann den Weg an verschiedenen Stationen offiziell beginnen. Wir haben uns für die nördlichste entschieden, gut eine halbe Autostunde von Forli entfernt in den Bergen. In den noch sanften Hügeln, wie wir später retrospektiv anmerken werden, denn der kleine Ort liegt auf einer Höhe von lediglich 134 Metern ü.d.M. Noch war alles facile. Die Rucksäcke meiner beiden Begleiter lehnten an den altehrwürdigen Mauern der kleinen, mittelalterlichen Wallfahrtskirche. Die Sonne lachte vom Vormittagshimmel, und die Stimmung war entspannt, fröhlich, als der professionelle Teil eines jeden Franziskuspilgers seinen bürokratischen Anfang nahm. Ein Pilgerausweis musste her. Siegel und Unterschrift auf der hochoffiziellen Urkunde, die man vielleicht nach 300 Kilometern Plackerei am Ziel bekommen würde, ja erringen musste, haben wohl primär symbolischen Wert. Dennoch sollten die – in unserem Fall – dreimal 15 Euro investiert werden, um später einmal ein schönes Beweisstück für den Freundes- und Bekanntenkreis zu haben. Egal ob am spanischen Jakobsweg oder hier, es ist eine nette und auch hilfreiche Tradition geworden, sich in den Herbergen und Klöstern einen Pilgerstempel in den Pass drücken zu lassen. Vielleicht ist es auch nur ein psychologischer Krückstock, ein Schmeicheln der eigenen Seele, sich am Ende des Tages mit der jeweiligen Etappenstampiglie als „echter Pilger“ zu identifizieren. Das sollte jeder für sich entscheiden. Darüber hinaus hat dieser Ausweis auch einen sehr praktischen Nutzwert, denn beigefügt ist eine vielerprobte Wegekarte der einzelnen Tagesetappen. Grafisch gut aufgelöst, mit Kilometer- und Stundenangaben und eingezeichneten Höhenmetern. Trotz der guten Vorbereitung, der Landkarten und schwergewichtigen Reiseführer, die meine Begleiter in ihre Rucksäcke gestopft hatten, wären wir wohl schon am ersten Tag ohne die simplen, aber präzise angelegten Etappenkarten an mancher Weggabelung etwas dumm vor nicht ganz vollendeten Tatsachen gestanden.
Ausgestellt wurden uns diese Pilgerpässe von Pater Don Alfeo. Wie vieles in Italien dauerte das. Obwohl – ganz im Gegensatz zur ersten Station des Jakobswegs – keine Horde Pilger seine kleine Kirche belagerte. Genauer gesagt war es einer. Moreno, ein Physiopraktiker aus Vicenza, wie sich später herausstellte. Der durchtrainierte Mittfünfziger sollte im Laufe der kommenden Tage zu unserem „Pilgerschatten“ avancieren. Er hatte seinen Ausweis schon und machte sich eiligen Schrittes auf den Weg. Nun waren unsere drei Pässe an der Reihe, denn auch ich sollte zum offiziellen pellegrino d’Assisi geadelt werden. Ein Umstand, den sich meine beiden Begleiter als Gag unbedingt eingebildet hatten, der allerdings bei Don Alfeo vorerst Verwunderung, dann leichte Bedenken und etwas später schallendes Gelächter auslöste. Der Franziskaner konnte sich nicht daran erinnern, jemals in seiner Tätigkeit als Passaussteller einem „Nichtmenschen“ den Pilgertitel verliehen zu haben. Ein Pilger aus Berlin war vor einigen Jahren mit seinen drei Hunden auf der Wanderschaft durchgereist. Ein Holländer hatte seinen Schäferhund als Wegbegleiter mitgebracht, aber einen Hund als offiziellen Pilger, das hatte der gottesfürchtige Mann noch nie erlebt. Waren es meine treuen Augen oder die erläuternde Erklärung, dass ich doch ein berühmter Hund sei und letztendlich über Don Alfeos und Francescos Pilgerweg berichten werde – egal, ich bekam den Ausweis. Neben den genauen Angaben über Herkunft, Wohnort und sonstige Personalia fügte der überraschte, aber freundliche Gottesmann zu meinem Namen in Klammer die kurze Erklärung cane hinzu. Als hätte man auf dem obligaten Foto nicht erkannt, dass es sich bei mir nicht um ein Schäfchen oder einen Affen, sondern um einen wunderschönen Hund handelt. Um der kirchlichen Bürokratie vollends gerecht zu werden, signierte ich das Antragsformular mit einem Abdruck meiner linken Vorderpfote. Mit diesem Footprint war meine Pilgerschaft nun auch amtlich.
Auf meinen Schultern ruhte vorerst nur die Last, sich gut ablichten zu lassen. Einmal noch in meinem langen Leben als Star unzähliger farbenprächtiger Bildbände wollte ich meinem Herrchen beweisen, dass ein Hund mit zwölf Lenzen auf dem Buckel immer noch gut vor dem Objektiv agieren kann. Weder musste ich nach dem Sinn des Lebens fahnden – den habe ich längst gefunden – noch die notwendige Last meiner Wegbegleiter in Form von zwei überdimensionierten Rucksäcken tragen. 14 Kilo der Schreiber, 18 der Fotograf. Was alles in den Aufbewahrungsbehältnissen steckte und was fehlte, sollte ich im Laufe der Wanderung nur zu genau erfahren.
Da war er nun, der erste Wegweiser, der uns auf die lange Wanderstrecke einstimmen sollte. Ein schlichtes, verwittertes Holzschild mit dem eingeschnitzten Hinweis: „Il Cammino di Assisi. Dovadola–Assisi 300 km“. Eine nicht zu unterschätzende Distanz, die Franziskus wohl nur ein mitleidiges Schmunzeln entlockt hätte. Hat der doch seine Reisen bis nach Ägypten größtenteils per pedes bewältigt. Zuerst als Lebemann und weltoffener Bürger, später dann als Prediger, Eremit und Mönch. Für die Identität der Italiener, wie ich einer bin, ist Franziskus das, was Jakobus für die Spanier ist. Vielleicht aber sogar noch mehr, denn er war schon ein richtiger Italiener, bevor es Italien überhaupt gab. Bereits im 12. Jahrhundert vereinte er alle Merkmale, welche den Bewohnern dieses Landes noch heute gerne als typisch italienisch zugeschrieben werden. Anfangs war er extrovertiert, kreativ, poetisch, fröhlich und äußerst reiselustig. Ein Mann, der aus gutem Hause stammte, der gerne Geschichten lauschte und sie noch lieber erzählte. Er war redselig, mitteilsam, aber gleichzeitig vor allem in seinem späteren Leben auch fähig zu einsamen geistigen Höhenflügen. Der große italienische Dichterfürst Dante Alighieri sprach von ihm als „die Sonne“. Dabei war der gebürtige Giovanni Battista Bernadone eher ein kleiner, unansehnlicher und kränklicher Mann, wie aus den Porträts von Giotto bis Rubens leicht ersichtlich ist. Nach der Rückkehr von einer Handelsreise in Frankreich verpasste ihm sein Vater, ein Tuchhändler aus Assisi, kurzerhand den Rufnamen „Francesco“ – also Franzose. Damit sollte er dann auch in die Annalen eingehen und nicht nur Kirchengeschichte schreiben.
Die stattliche Wegstrecke von 300 Kilometern also wollen wir in zwölf ausgeglichenen Etappen meistern. Der Ort Dovadola liegt längst unter uns. Ruhig, friedlich, malerisch. So, wie der Großteil der Landschaft in der Emilia Romagna eben wirkt … Es ist immer gut, sich das, was man genießen möchte, zu verdienen! Also beginnt der erste Wegabschnitt bis zum Eremo Sant‘ Antonio gleich einmal mit einer ziemlichen Steigung. Die berühmte Einsiedelei liegt nicht direkt am steinigen Pfad, sondern etwas abseits im Wald. Der kleine Umweg, in seiner Summe vielleicht drei Kilometer, zahlt sich aus. Wir sind schließlich erst in der Aufwärmphase, und noch vergleichen wir den Pilgermarsch mit einem gemütlichen Gassi-Gehen.
An der Wallfahrtskirche angelangt, lächelt uns ein bekanntes Gesicht entgegen: Moreno. Als wir schon etwas erschöpft ankommen – die Mittagssonne brennt bereits auf die asphaltierte Straße vor der anmutigen Kapelle –, bricht der emsige Therapeut gerade wieder auf zum nächsten Etappenziel, dem Monte Trebbo. Dessen Gipfel will allerdings bereits auf einer Höhe von 800 Metern ü.d.M. erklommen werden. Für mich wird hier der Ernst des Lebens beginnen. Aber zuvor hat Toni, Herrchen und Fotograf, das erste unvermeidliche Pilgermotiv ausgemacht: die Kapelle. Gestört wird unser Shooting nur von unzähligen Radfahrern, die von allen Seiten ins Bild stürmen. Nach geglückter Bergwertung tanken sie ihre Wasserflaschen am Brunnen der Kapelle neu auf. Dieser verspielte Brunnen ist allerdings nicht dem heiligen Franz gewidmet, sondern Glaubensbruder Antonius, dem Eremiten der nahen Einsiedelei.
Fast zwei Stunden später und knapp acht Kilometer weiter durch grüne, hügelige, menschenleere Landschaft haben auch wir den Monte Trebbo erreicht. Und wieder ist es ein Radfahrer, der uns am Gipfel entgegenstrahlt. Diesmal aber in Form eines Denkmals. Eine moderne Skulptur aus Eisen wurde hier für die zahlreichen, bedauernswerten Opfer des Giro d’Italia installiert. Übrigens ist dieses nach der Tour de France wohl bekannteste Radrennen der Welt gerade wieder on tour, was schon bei unserer Anreise nach Rimini zu einigen Verkehrsbehinderungen und allgemeiner Volksfeststimmung geführt hat. Es ist Zeit für die erste längere Rast. Wasser. Ausruhen im Schatten der Bäume rund um das Radfahrer-Denkmal. Zeit zum Entspannen, Schlafen und Nachdenken.
Ja, Radfahrer verfolgen mich schon mein ganzes Leben lang. Professionelle Radfahrer. Denn bevor mein Herrchen vor vielen Jahren zur Kamera gegriffen hatte, um damit sein Brot und mein Hundefutter zu verdienen, war er Radfahrer. Professioneller Rennradfahrer. Oft habe...