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Zeitenschwelle

Gegenwartsfragen an die Geschichte

AutorDan Diner
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641047092
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Geschichte deutet Gegenwart
In den letzten zwanzig Jahren haben sich unsere Wirklichkeit und mit ihr die Koordinaten der Wahrnehmung massiv verändert. Der Zusammenbruch des Kommunismus, der Siegeszug neuer Technologien, das Auseinander driften des Westens, Zweifel an der Moderne, die Krise des Islam, das Aufkommen bis lang unbekannter Formen der Gewalt und das Weiterwirken althergebrachter Konflikte in neuer Konstellation markieren einen lang andauernden Übergang in eine schwer einsehbare Zukunft. In dieser Zwischenzeit plädiert Dan Diner für eine Wiedergewinnung historischer Urteilskraft. So gibt der Tiefenblick in die Geschichte den Verwerfungen der Gegenwart Kontur.

Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Der international renommierte Historiker war von 1999 bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Dan Diner steht der Alfred Landecker Stiftung vor. Zu seinen Hauptwerken gehört »Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte« (2010); »Das Jahrhundert verstehen. 1917-1989« (2015) und »Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage« (2015).

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Leseprobe
"Narrative der Vernichtung (S. 121-122)

Ultimative Katastrophen - Historische Unterscheidungen - Kaleidoskopisches Erzählen 

Ist es zulässig, zwischen Tod und Tod, zwischen Sterben und Sterben zu unterscheiden? Eine solche Absicht rührt an ein tief verwurzeltes, an ein grundlegendes Gefühl der Ehrfurcht vor dem Tode, nämlich an das Empfinden von Pietät. Und trotz alledem sind wir fortwährend gehalten, der uns geschenkten Urteilskraft wegen Unterscheidungen zu treffen. Den uns dabei auferlegten Konflikt zwischen Pietät und Reflexivität auszuhalten, ist ein Preis der Humanität. Zum Auseinandertreten von Pietät und Reflexivität möchte ich eine Geschichte erzählen. Diese Geschichte hat sich wirklich zugetragen, und doch kommt ihr bei aller gewesenen Realität auch der Charakter einer Parabel zu - einer Parabel über den Unterschied zwischen Tod und Tod, zwischen Sterben und Sterben.

Zugetragen hat sich die Geschichte nicht weit weg von hier - in Oederan, knapp sechzig Kilometer von Dresden entfernt. Genau besehen handelt es sich beim Ort des Geschehens um das 1944 dort angesiedelte Außenlager des KZ Flossenbürg. In das so genannte Außenlager Oederan waren damals an die tausend weibliche Häftlinge verbracht worden - allesamt jüdische Frauen aus dem Ghetto Lodz, aus Theresienstadt und aus Auschwitz. Dort hatten sie Zwangsarbeit zu verrichten für das Rüstungsunternehmen »Freia GmbH«, das wiederum den Messerschmittwerken zulieferte.

Die Zeit, zu der sich das wiederzugebende Geschehen abspielte, war die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 - ein Datum, das hier keiner weiteren Erläuterung bedarf. Die zu beschreibende Begebenheit ereignete sich im Wirtschaftsgebäude des Außenlagers. Dort war zur nächtlichen Stunde und bei spärlichem Licht ein weiblicher Häftling, die 19 Jahre alte Liselotte Z. aus Prag, damit beschäftigt, den wie immer um 2 Uhr früh von der Nachtschicht zurückerwarteten Sklavenarbeiterinnen in einem großen Kessel eine dürftige Rübensuppe zu bereiten. Liselotte Z. war im November mit vierhundert weiteren weiblichen Häftlingen aus Auschwitz kommend nach Oederan überstellt worden.

Dass sie als Jüdinnen dem Tod im Vernichtungslager entgangen waren, hatten sie angesichts des von den Nazis über alle Juden verhängten kollektiven, nur ihrer Herkunft geschuldeten Todes allein dem Zufall zu verdanken. Liselottes Eltern, der ihr noch in Theresienstadt angetraute Ehemann sowie ihr Bruder waren zuvor im Gas erstickt worden, sie selbst war in Auschwitz mit anderen weiblichen Häftlingen bereits auf dem Weg ins Gas gewesen, als der in Sechserreihen formierten Kolonne überraschend der Befehl zum Anhalten gegeben wurde.

Nach längerem Warten hieß es dann Kehrtmachen - zurück in die Unterkünfte. Der Grund für jene unverhoffte Wende hatte sich alsbald herumgesprochen: Die Verbrennungsanlagen waren wieder einmal an die Grenze ihrer Kapazität gestoßen. Das Verbrennen des schier endlosen Stroms von aus den Gaskammern in die Öfen geleiteten Leichen drohte das Material, aus dem jene gefertigt."
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