Einleitung
Älter werden wir von alleine. Aber ob und wie uns das Älterwerden gelingt, das ist eine andere Frage. „Zu wissen, wie man älter wird, – das ist das Meisterstück der Weisheit und eines der schwierigsten Kapitel in der Lebenskunst“, meint Fréderic Amiel. Kunst kommt von Können, ist also nichts Selbstverständliches. Wir müssen erlernen, wie wir auf gute Weise älter werden. Können hängt mit Verstehen und wissen und weise zusammen. Um die Kunst des Älterwerdens zu erlernen, braucht es das Verstehen dessen, was in diesem Prozess an uns und mit uns geschieht. Kunst hängt übrigens auch mit dem deutschen Wort „kund“ zusammen. Wer die Kunst des Älterwerdens erlernt, wird nicht allein für sich in guter Weise alt. Wir lernen die Kunst des Älterwerdens nie nur für uns selbst, sondern immer auch für die anderen. Wir zeigen ihnen mit unserem Leben etwas, das ihr Leben bereichert.
Der griechische Philosoph Platon meint, Kunst sei Nachahmung. Und er denkt an die Natur, die der Künstler in seinen Werken nachahmen soll. Die Natur lehrt uns nach diesem Verständnis auch, wie wir auf gute Weise alt werden. Der Herbst steht für das Alter. Im Herbst wird geerntet. Auch das Alter zeigt die Ernte eines Lebens. Wir dürfen dankbar auf die Früchte schauen, die das Leben gebracht hat. Die Farben des Herbstes sind bunter als die des übrigen Jahres. Und es sind milde Farben. Das ist eine Lehre, die uns die Natur erteilt: auf gute Weise alt wird der, der milder wird, nicht nur in seinem Urteil, sondern in seinem ganzen Sein. Und zugleich wird er entdecken, dass sein Leben innerlich reicher wird, bunter, oft so leuchtend wie ein goldener Oktober. Der Blick in die Natur zeigt noch etwas anderes: Zur Kunst des Älterwerdens gehört es auch, loszulassen, so wie die Bäume das Laub loslassen, es auf die Erde fallen lassen, damit es zum Wurzelgrund für neues Leben werden kann.
In dem Wort „Älterwerden“ ist noch etwas Wichtiges, etwas Positives beschrieben: Älterwerden ist nichts Statisches oder ein für alle mal klar Abgeschlossenes. Es ist eine Bewegung. Da wird noch etwas im Menschen. Da wächst etwas.
Wenn jemand alt ist, dann hat das zwei Bedeutungen. Zum einen: er ist alt geworden. Man merkt ihm seine Schwächen an. Aber das ist nur eine Seite. Die andere Seite: er ist alt, er ist sein Alter. Er muss nichts mehr leisten. Er genießt das reine Sein. Da ist jemand präsent, ganz er selbst.
Worte wandeln sich und nehmen immer neue Bedeutungen in sich auf. Vom Wortstamm kommt „alt“ von einem Verb, das „wachsen, aufziehen, ernähren“ bedeutet. Es hängt auch mit dem lateinischen Wort „altus = hoch“ zusammen, das von „alere = nähren, großziehen“ stammt. Der hochgewachsene Baum ist alt. Vom Ursprung hat „alt“ also eine positive Bedeutung. Aber in Redewendungen wie „wenn du verlierst, siehst du alt aus“ kommt eine negative Wertung in dieses Wort. Die Abwertung des Alters in einer Zeit, in der nur das Junge und Jugendliche gilt, hat sich bis in unsere Sprache hinein ausgewirkt. Daher ist es wichtig, so von Altsein und Älterwerden zu sprechen, wie es der ursprünglichen positiven Bedeutung entspricht.
Die Kunst des Älterwerdens ist nicht nur auf das Alter beschränkt. Von Geburt an – so sagt schon der hl. Augustinus – altern wir. Die uns zugemessenen Tage werden weniger. Wir werden älter. Das ist nichts, was statisch oder festgeschrieben wäre, es ist ein lebenslanger Prozess. Aber es ist nicht nur ein Prozess des Abnehmens, sondern des Reifens. Älterwerden, wie schon gesagt, drückt genau diese positive Bewegung aus: Es wird etwas.
Die Natur macht es uns auch hier wieder vor. Jede Phase in unserem Leben hat ihre eigene Bedeutung. Der Frühling steht für das Aufbrechen des Lebens, für die Frische und Lebendigkeit. Der Sommer steht für die Fülle des Lebens, der Herbst für die Buntheit und für die Ernte und der Winter für die Stille und für das Ausruhen, damit neues Leben aufbrechen kann.
Wie jede Jahreszeit voller Bedeutung ist, so hat auch jede Lebenszeit des Menschen eine je eigene Bedeutung. Und es ist gut, in jeder Lebensphase das zu leben, was ihr entspricht. Der Jugendliche muss andere Werte betonen als der alte Mensch. Man sagt zwar, Jugend sei ein Geschenk, Älterwerden eine Aufgabe. Aber auch der junge Mensch muss die Aufgabe erfüllen, die ihm die Jugend stellt. Und die besteht darin, zu kämpfen, sich das Leben zu erobern und seine eigene Identität zu finden. Wenn der alte Mensch immer noch um seinen Platz im Leben kämpfen würde, wäre das für uns eher lächerlich. Jeder Mensch braucht ein Gespür für das je Eigene, das in seiner Lebensphase verwirklicht werden will.
Im Herbst, sagten wir, wird geerntet. So geht es beim Älterwerden um das Reifen einer Frucht, an der wir uns erfreuen, die wir genießen, die aber auch andere Menschen befruchtet. Die Frucht, die im Alter heranreift, will – um im Bild zu bleiben – auch anderen das Leben versüßen. Wer vom Älterwerden redet, spricht nicht nur von nachlassenden Kräften, Verfall und Schwäche, im Gegenteil: Bis ins hohe Alter gibt es Chancen und positive Möglichkeiten, des Wachsens, des Reifens und der Vollendung.
Der bekannte Altersforscher Paul Baltes erzählte gern eine Anekdote über Arthur Rubinstein. Der 80-jährige wurde demnach einmal gefragt, wie er denn in seinem hohen Alter immer noch ein so begnadet guter Konzerpianist sein könne. Der Künstler spricht in seiner Antwort von drei Prinzipien, die es ihm immer noch erlaubten, so gut Klavier zu spielen: Auswählen, Optimieren, Ausgleichen. Er habe durch eine Auswahl ihm wichtiger Stücke sein Repertoire verkleinert – also eine Wahl getroffen. Durch diese Selektion könne er diese Stücke auch mehr und intensiver üben als früher. Dadurch verbessere er sich technisch. Das ist also eine Optimierung. Und weil er die ausgewählten Stücke nicht mehr so schnell wie früher spielen konnte, wandte er einen Kunstgriff an: Vor besonders schnellen Passagen verlangsamte er sein Tempo; im Kontrast erschienen diese Passagen dann wieder ausreichend schnell. Das ist eine sehr wirksame Form der Kompensation und Teil einer positiven Strategie. Sie widerlegt das Vorurteil, Älterwerden sei nur unter dem Vorzeichen des Nachlassens und der Verminderung zu sehen. Sich auf wenige Ziele zu beschränken, diese aber sehr energisch zu verfolgen und dabei nach geeigneten inneren und äußeren Ressourcen der Kompensation zu suchen – das ist die Kunst des guten Älterwerdens.
Was Arthur Rubinstein da als Geheimnis seiner Kunst im Älterwerden beschrieben hat, gilt nicht nur für Künstler, sondern für jeden, der sein Alter spürt. Er kann vielleicht nicht mehr soviel schaffen wie früher. Also muss er auswählen, was ihm wichtig ist, um seine Kräfte besser einzusetzen. Das, was ihm wichtig ist, soll er bewusst leben und sich ganz darauf einlassen. Natürlich braucht er Methoden, um mit den Defiziten gut umzugehen. Er muss manche Lücken in seinem Wissen mit seiner Erfahrung ausfüllen und manche Lücken in seiner körperlichen Leistungskraft wettmachen durch die Fähigkeit, mit weniger Energieeinsatz trotzdem etwas zu vollbringen.
Man lebt nur einmal, sagt man. Das heißt: Das Leben jedes Menschen ist einmalig. Jeder Mensch ist einzigartig. Romano Guardini meint, Gott habe über jeden Menschen ein Passwort gesprochen, das nur für diesen ganz bestimmten Menschen „passt“. Unsere Aufgabe in jeder Lebensphase ist es, dieses einmalige Wort, das Gott nur über uns spricht, in dieser Welt vernehmbar werden zu lassen. Wir leben nur dann wirklich gut, wenn wir uns unserer Einzigartigkeit bewusst werden und wenn wir verinnerlichen, dass wir nur einmal leben. Jesus hat uns in seiner Predigt immer wieder ermahnt, aufzuwachen und wirklich zu leben – nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn wir haben nur dieses eine Leben. Und das sollen wir nicht verschlafen. Leben ist immer jetzt: Wir sollen nicht einfach so dahin leben, sondern mit offenen Augen durch die Welt gehen und unsere Lebensspur bewusst in diese Welt eingraben.
Manche bekommen Angst, wenn sie sich bewusst machen, dass sie nur einmal leben. Sie stopfen alles ins Leben hinein, was schnellen Genuss verspricht. Für sie ist Älterwerden eine Katastrophe. Denn im Alter könnte ja alles zu spät sein. Aber so werden sie unfähig, ihr Leben in jedem Moment wirklich zu genießen. Sie starren auf das zu kurze Leben und meinen, sie müssten alle ihre Sehnsüchte vom Leben auch ausleben. Doch da sie das nie schaffen, weil Sehnsucht keine Grenze kennt, werden sie immer hektischer und zugleich unzufriedener.
Manch einer mag dieser Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit seines Lebens vielleicht aus dem Weg gehen, indem er an ein nochmaliges Kommen auf die Erde glaubt, an die Reinkarnation. Doch das ist für mich eine Flucht vor der Einmaligkeit des Lebens. Anstatt bewusst und intensiv zu leben,...