Nach Stosch, Im fernen Indien. (1896.)
Das Gefühl des berühmten Dichters, der im blühenden Talgelände jenseits der Alpen versicherte, daß ihm sei, als nahe er sich seiner Heimat, teilen alle lebhafter Empfindenden, wenn ihnen vergönnt ist, nach dem Süden zu reisen. Aus dem Lande der Nebel in das Land der Sonne, von Eis und Schnee zu Licht und Leben: wer so reisen darf, dem schwellt wohl die Ahnung das Herz, daß die Menschheit für eine lichte und blütenreiche Heimat ursprünglich bestimmt war. Solche Empfindungen bewegten uns nirgends so sehr als in Colombo auf Ceylon, wo wir einige kurze Stunden weilten. Aber auch dies Paradies hat seine Schlangen. Auch in Indien sieht man Tage und Wochen lang die Sonne nicht.
Es hatte etwas Melancholisches für uns, als kurz nach unserer Ankunft in Indien die Regenzeit begann, und das Strömen und Plätschern wochenlang andauerte. Die Luft scheint dann nichts als feuchter Nebel zu sein, der alles mit Nässe und Moder durchzieht. Und doch lernt man nach der Regenzeit sich sehnen wie nach einem unaussprechlichen Glück, wenn, wie in diesem Jahre, fünf Monate lang kein Regentropfen fällt, nachdem es auch in der Regenzeit nur wenig geregnet, – wenn die glühende Sonne alles versengt und der grüne Rasen wie weggebrannt ist, wenn die Erde wie zerklüftetes Gestein erscheint und der Himmel wie eine eherne Decke bewegungslos über der Erde ruht. Keine Wolke monatelang! Einen Tag wie den andern weckt uns die blitzende Sonne, unverhüllt von wohltätigen Schleiern. Doch siehe, da steigen Wolken auf – endlich! Es blitzt rings um den Horizont und der Donner grollt allabendlich. "Es ist nichts," sagte der Eingeborene, "je mehr es blitzt, desto weniger regnet's." O Indien, o Land der Maja (Täuschung), in der Tat, du bist kein Paradies! "Unser Saft vertrocknet, wie es im Sommer dürre wird." Wir wollten's wohl ertragen, aber unsere Kinder – sie sind wie welke Blümlein. Wird's ihr kleines Gehirn ertragen, daß die Hitze jeden Tag um Mittag auf 31, ja 32 Grad Reaumur im Schatten steigt, und daß sie auch nachts nicht unter 26 Grad sinkt, daß jeder Windhauch wie Glut ist, daß Stühle und Tische im Zimmer sich wie brennend anfühlen? – Und unsere Armen! Es ist nirgends Arbeit. Der Preis des Reises ist längst auf das Doppelte gestiegen. Auch unsere Missionsdiener klagen, daß ihr Gehalt nicht mehr reicht. Was soll werden, wenn kein Regen kommt? – Wie manches Gebet um Regen mag in der Stille aufsteigen! Auch in der Kirche beten wir um Regen. Siehe, das ist keine Täuschung, das sind wirklich Regenwolken. Mit unbeschreiblicher Sehnsucht sehen wir ihnen nach, wie sie über uns hineilen. Kein Tropfen fällt. Der Wind treibt unsere Hoffnung hinweg. Land der Maja, du bist kein Paradies. Wie oft blicken wir auf in der Meinung, es regne. Der Wind bringt uns feuchten Erdenduft zu. Es hat in der Ferne geregnet; die Palmenkronen rauschen und bringen ein Geräusch hervor, täuschend ähnlich dem des fallenden Regens.
Endlich aber hat es geregnet. Was wir so lang erwartet, kam schließlich unerwartet. Kein Wölkchen war tagsüber am Himmel und am Abend strömte der Regen. Seitdem hat's mehrmals geregnet. Wahrhaftig, man begreift's, daß der größte Dichter Indiens dem Regen ein gar liebliches Loblied singt, und daß er die Ehre der mildspendenden Wolke preist, unmittelbar nachdem er das Lob der Gottheit gesungen.
"Indien ist schön," das sage ich mir vielmal. Wenn ich am Abend, auf dem Dach meines Hauses stehend, auf das Immergrün der Bäume in unserem Garten blicke, wenn der Abendstern silberklar aus dem weichen Rot des Abendhimmels hervortritt, dann meine ich wohl, ich möchte nie wieder in einem andern Lande leben. Und doch ist's eine fremde Schönheit. Die Lichtstimmung ist eine andere als im lieben Deutschland. Etwas Traumhaftes liegt über dem Lande. Man begreift es, daß die Indier zum Träumen neigen.
Wir freuen uns jedesmal, wenn wir durch das kleine Wäldchen von Kasuarinos, ähnlich unseren Lärchenbäumen, an den Meeresstrand fahren. Das erinnert etwas an die Fichtenwälder der Heimat. Die Landschaft um Petnamkuppam gemahnt mich jedesmal, wenn ich dahin komme, an eine Landschaft, die ich in Holstein sah. Vor einigen Monaten war ich in einem kleinen Dorfe, weit ab von den anderen Dörfern, auf einer Hochebene gelegen. Ich mußte an Neuendettelsau denken. Der weite Blick aus stiller Höhe, – das war's, was mich im Geist an jenen gesegneten Ort versetzte. Aber hier wehte nicht die stärkende Luft der fränkischen Höhe. Hier brannte die indische Maisonne; unter ihrer sengenden Glut blieb wenig Lebenshauch übrig.
"Das reiche Indien," sagt man wohl. In der Tat gibt es Felder in Kudelur, die dreimal im Jahr vom lichten Grün der Reissaat erglänzen. Aber fahre mit mir nach dem Dorfe Tukenampakam, du wirst kaum sagen "ein reiches Land". So oft ich dahin fahre, meine ich etwas von dem Fluche zu sehen, der auf dem abgöttischen Lande lastet; – die heiße, stauberfüllte Luft, diese ängstliche Stimmung des öden Landes erzählt vom Seufzen der Kreatur. Da siehst du die vielgerühmten Bananen. Aber ihre Luftwurzeln sind aus der Erde gerissen und verdorrt, – ein eigentümlich melancholisches Bild.
Man sagt, daß der Charakter der Völker sich durch die Natur des Landes bildet, das sie bewohnen. Das mag wahr sein in seinem Maße. Wahr aber ist das andere, daß der Charakter des Landes abhängig ist von dem Geistesleben seiner Bewohner. Als Deutschland von Heiden bewohnt war, da war es beinahe nichts als Heide und Moor. Als aber das Kreuz zur Herrschaft kam, da ergrünten Felder und Wiesen. Mit dem Glauben kommt der Segen des Allmächtigen über Wald und Feld. – Als Israel glaubte, da war sein Land das köstlichste Land der Erde. Als das Volk zu glauben aufhörte, da ward sein Land zur Wüste. Sollte es mit Indien anders sein? Wenn das Kreuz hier zur Herrschaft kommt, dann wird auch Indien ein Land des Segens werden, während es jetzt voll Seufzens und Klagens ist, so daß auch seine Freude nicht Freude ist, weil auf seinen Fruchtfeldern ein hungerndes Volk arbeitet.
Neulich las ich in der "Madras Mail" unter der Überschrift: "Wie die Armen leben" folgendes: "Man kann nicht ohne aufrichtiges Mitleiden die statistischen Angaben über Preis- und Lohnverhältnisse lesen, die die Regierung veröffentlicht. Sie zeigen, daß auf weiten Strecken ehrliche und fleißige Arbeiter nicht mehr verdienen, als einen Groschen täglich. Keine Macht der Beredsamkeit kann dem Gewicht dieser Tatsachen etwas hinzufügen. Sie spricht für sich selbst. Ein Groschen täglich für Nahrung, Wohnung, Kleidung, Heirat, Altersversorgung, das ist die soziale Lage von Arbeitern in Radschutana, den Nordwestprovinzen und sonst! Der höchste Verdienst eines kräftigen Feldarbeiters ist durchschnittlich 2 – 3 Rupien (= 3 – 5 Mark) im Monat. In anderen Provinzen und Distrikten ist die ökonomische Lage der Feldarbeiter ein wenig besser. Aber nirgends in den drei Präsidentschaften beträgt der Monatslohn für Feldarbeit sehr viel mehr als 5 Rupien. Der Grund dieses Zustandes ist schwer anzugeben. Er scheint in keinem Zusammenhange mit Übervölkerung zu stehen, denn die Armut ist ebenso groß in den spärlich bevölkerten Gegenden, als in denen, die überreich sind an Arbeitern."
Man tröste sich nicht damit, daß das Leben sehr billig sei und Eingeborene mit einer Hand voll Reis zufrieden sind. Das Leben ist so billig nicht und indische Feldarbeiter haben einen gesunden Appetit. Es ist wirklich so, daß die Armen von diesem Lohn nicht leben können. Glücklich, wer einen Verwandten hat, einen Bruder, Onkel oder Vetter, der ein wenig mehr einnimmt, der muß helfen. Und er hilft auch, bis er selbst in Schulden gerät. Verschuldung ist das Gepräge des indischen Volkslebens. Den Bauern aber verschuldet sein ist nicht viel anderes als Sklaverei. Ist jemand nicht früher verschuldet, ist er nicht schon in seiner Jugend einem Herrn verschrieben, so gerät er durch seine Verheiratung in Schuldknechtschaft. Nach der Sitte muß er eine für seine Verhältnisse große Summe aufwenden, um Hochzeit zu halten. Ist die Hochzeit vorüber, so pocht der Hunger und Kummer an der Tür. Wenn sich dann das Ehepaar nun auch durch das Leben schlägt, so lange beide arbeitskräftig sind; wer sorgt für sie im Alter, in Krankheit? Es gibt hier keine öffentliche Armenpflege. Wird Barmherzigkeit geübt, so wird sie von Verwandten geübt. Aber der Arm dieser Hilfe ist schwach bei so allgemeiner Verarmung.
Über diesem öffentlichen Elend der untersten Volksklassen thronen die englischen Herren in unnahbarer Höhe. Das heißt nicht, daß sie persönlich keine offene Hand hätten. Aber sie kommen mit dem armen Volke in gar keine Berührung. Was sollen sie auch tun? Eine Frage von solchem Umfang, die mit tausend anderen Fragen im Zusammenhang steht, deren letzte Ursachen sich zudem der Beobachtung entziehen, kann weder schnell, noch durch äußere Mittel allein gelöst werden. Soll man von Staats wegen Fabriken anlegen? Soll man Industriezweige schaffen? Das wird wohl das Interesse der englischen Fabriken noch auf lange Zeit hinaus verhindern.
Und sollte eine Zeit kommen, da den Herren des Landes das Gewissen schlägt, sollte das englische Volk je hochherzig genug sein, um die Not des fremden Volkes wie seine eigene zu fühlen, dann werden es die...