EINLEITUNG1* EMANZIPATION ODER WEIBLICHKEIT
Es sieht so aus, als sei das Spiel gewonnen. Die Zukunft kann nur zu einer immer tiefgreifenderen Integration der Frau in die einst männliche Gesellschaft führen.«1 (AG 179) Simone de Beauvoir erscheint mit diesen Zeilen, die sie 1949 in ihrem monumentalen Hauptwerk Das andere Geschlecht schrieb, heute mehr als bestätigt, wiewohl sie sich damals darin irrte.
Genau deshalb insistieren Traditionalisten jedweder Couleur darauf, die Frauen wieder unter die Kontrolle der Religion oder der Familie zu bringen: unter den Schleier oder das Kopftuch, jungfräulich in die Ehe, hinter den Küchenherd, in die aufopferungsvolle Hingabe an Kinder und Ehemann; allemal weg von der Idee, ein eigenes Leben selbst und jenseits der Traditionen gestalten zu dürfen, um eben nicht nur altruistische Zuträgerin für Familie, Volk und Vaterland zu sein.
Viele Aspekte des modernen Lebens, die Technologien, die Ökonomie, ja selbst politische Vorstellungen der Republik oder der Demokratie lassen sich leichter mit überlieferten Lebensformen verbinden als die Emanzipation der Frau. Diese unterwandert die innere Hierarchie traditioneller Gemeinschaften, basieren diese doch praktisch überall auf der Unterordnung der Frauen unter die Männer. Selbst wer die Vorzüge der aufgeklärten, liberalen, demokratischen und pluralistischen Lebensform schätzt, der spürt als Mann genau hier, dass die euro-amerikanische Welt seine soziale Position ins Wanken bringt, ihm die Kontrolle über seine Familie, besonders über das Leben seiner Frau und seiner Kinder entzieht. Dagegen weltweit die Menschen aufzustacheln, fällt den traditionellen, vor allem den religiösen Eliten leicht, denn hier prallen die Interessen unmittelbar und hart aufeinander.
Daher erstaunt es, dass de Beauvoir schon um die Mitte des 20. Jahrhunderts das Spiel der Emanzipation für gewonnen erachtet, das um so mehr, als Das andere Geschlecht die Lage der Frauen in den etwa hundert Jahren zuvor, also unter dem Patriarchat dokumentiert. Das Werk präsentiert sich als Bestandsaufnahme in einer Zeit, in der Frauen noch längst nicht die Anerkennung als eigenständige Personen mit einem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben erfuhren, wie es sich am Anfang des 21. Jahrhunderts zumindest in der westlichen Welt deutlich herauskristallisiert.
Damals dominierten die Männer praktisch alle öffentlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bereiche, während Frauen weitgehend ein Leben im Verborgenen des privaten Hauses führen, um dessen monotone, ständig wiederkehrende Beschäftigungen kaum ein Mann mit ihnen konkurrieren möchte. Nicht zuletzt daher wirkt auf de Beauvoir das Leben von Frauen weitgehend als unwesentlich, es hinterlässt keine persönlichen Spuren. Deshalb formuliert sie ihre Leitfrage, an der auch ich mich im vorliegenden Buch orientiere: »Wie kann ein Mensch sich im Frau-Sein verwirklichen?« (AG 26) Eine keineswegs nur ironische Frage, deren Sinn die heutigen Traditionalisten erneut fleißig bestreiten. Insoweit weist Das andere Geschlecht weit über die eigene Epoche hinaus.
Nicht nur dass der Prozess der Emanzipation vor allem global noch längst nicht abgeschlossen ist. Vielmehr – das möchte das vorliegende Buch vorführen – entwickelt de Beauvoir eine Perspektive, die in der heutigen Diskussion um die Familie und die Emanzipation der Frau wiederkehrt. Ihr Buch schildert einerseits die Lage der Frau in jener Welt, an deren Werten sich Traditionalisten orientieren. Andererseits bringt sie eine Perspektive auf den Begriff, die sich heute in der westlichen Welt weitgehend durchsetzt und in der sich daher die gegenwärtigen Unterschiede zwischen Traditionalismus und Feminismus konturieren: Was heißt Emanzipation und Selbstverwirklichung? Was bedeutet Wesen der Frau? Was heißt Sinn des Lebens? Insoweit wird sich de Beauvoirs Buch und ihr Denken als hochaktuell erweisen, auch wenn man ihm ablehnend gegenübersteht: das existentielle Denken der vierziger Jahre, dem es sich verdankt, erfasst die Problematik von Frauen am Anfang des 21. Jahrhunderts nach wie vor.
»Wie kann ein Mensch sich im Frau-Sein verwirklichen?« Mit dieser Frage zieht de Beauvoir alle traditionellen Rollenverständnisse der Frau in Zweifel, die sich auf einen naturgegebenen Charakter der Frau berufen, der durch ihre Gebärfähigkeit begründet scheint. Die Frau bekomme die Kinder und nicht der Mann: Also müsse sie sich auch um sie kümmern. Ja mehr noch, das zu tun, entspreche ihrer fürsorglichen und liebevollen Natur, so dass auch ihr monotones Leben im Haus, im Schatten der Öffentlichkeit, die natürliche Form des richtigen und guten Lebens der Frau darstellt. Nur um den Preis der Entfremdung vermag sie sich daher dieser naturgegebenen Weiblichkeit – also ihrer Gebärfähigkeit, Mütterlichkeit, Häuslichkeit, Fürsorglichkeit und Opferbereitschaft – zu entziehen. Traditionelles Denken beruft sich fast immer auf eine vorhandene Natur oder auf eine gottgegebene Ordnung, sei es wenn Aristoteles die Sklaverei legitimiert oder Thomas von Aquin die feudale Fürstenherrschaft. Der US-amerikanische politische Philosoph Leo Strauss, Lehrer zahlreicher konservativer Politiker wie Paul Wolfowitz, schreibt 1952: »Es ist für Aristoteles wie für Moses offensichtlich, dass Mord, Diebstahl, Ehebruch etc. unbedingt schlecht sind. Griechische Philosophie und die Bibel stimmen insoweit überein, dass der richtige Rahmen der Moral die patriarchalische Familie ist, die monogam ist oder dazu tendiert und die die Zelle der Gesellschaft formt, in der die freien erwachsenen Männer, und besonders die alten, vorherrschen. Was immer die Bibel und die Philosophie uns über die Vornehmheit gewisser Frauen erzählen mag, im Prinzip beruht beides auf der Dominanz des männlichen Geschlechts.«2 Die patriarchalische, monogame Familie verbannt damit die Frau ins Haus – eine damals weit verbreitete konservative Position, wie sie heute vor allem in Teilen der katholischen Kirche wiederkehrt.
Gegenüber der biblisch instruierten patriarchalischen Familie gelangt die Emanzipation der Frau in rechtlicher wie in familiärer Hinsicht während der Aufklärung im 18. Jahrhundert mit der Idee der Gleichheit auf die soziale und politische Agenda. Aber erst im 20. Jahrhundert, vor allem in dessen zweiter Hälfte, beschleunigt sich der Emanzipationsprozess. Um 1950 stehen Frauen vor großen Schwierigkeiten, wollen sie aus ihren eingeübten Rollenmustern aussteigen. Aber nicht nur de Beauvoir selbst, die eine tief katholische Erziehung in einem bürgerlichen Pariser Elternhaus genoss, beschloss irgendwann, nicht mehr an den lieben Gott zu glauben und ihren Lebensweg nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Im ersten Band ihrer Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, der 1958 erscheint, berichtet sie: »Ich hatte eine Stunde damit zugebracht, die verbotenen Äpfel zu verspeisen und in einem ebenfalls verbotenen Balzac-Band von dem seltsamen Liebesidyll eines Mannes mit einer Pantherkatze zu lesen; vor dem Einschlafen gedachte ich mir selbst noch sonderbare Geschichten zu erzählen, die mich in sonderbare Zustände versetzen würden. ›Das ist Sünde‹, sagte ich mir. Es war mir unmöglich, mich länger selbst zu betrügen (…) Ich hatte immer gedacht, dass im Vergleich zur Ewigkeit diese Welt nicht zählte; sie zählte jedoch, denn ich liebte sie ja; stattdessen wog auf einmal Gott nicht mehr schwer genug.«3 (MT 126 f.)
Viele Frauen ihrer Generation und auch schon davor testeten neue emanzipierte Lebensformen. So zitiert de Beauvoir bereits 1949 entsetzte Rufe emanzipationsgeschädigter Männer: »›Wo sind die Frauen?‹ (…) Und (…) die Weiblichkeit sei ›in Gefahr‹, man ermahnt uns: ›Seid Frauen, bleibt Frauen, werdet Frauen.‹« (AG 9) Zunehmend wird die patriarchalische Familie als natürlich göttliche Ordnung abgelehnt. Frauen – so Simone de Beauvoir – entsprechen ihrer traditionellen sozialen Rolle nur, weil sie ihnen antrainiert wurde. Daher kann die Sachlage ganz anders aussehen: »Nicht die Natur definiert die Frau: sie definiert sich selbst, (…).« (AG 62) Solche Sozialisierungen lassen sich anders als natürlich erscheinende Vorgaben und Zwänge auch überwinden: Frauen können sich auch andere Lebenswege öffnen. Sie müssen nicht unbedingt einer traditionell propagierten Weiblichkeit folgen.
Doch heute, wo das Spiel gewonnen scheint und die Emanzipation sich durchsetzt, verlieren die damit verbundenen Errungenschaften an Attraktivität, und es konturieren sich deren Schattenseiten. Frauen haben die Chance, ihr Leben beruflich wie zwischenmenschlich nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Zu arbeiten erweist sich längst als unumgänglich. Der Verzicht auf die Institution Familie befreit von deren Zwängen und Idiosynkrasien. Doch verlieren Frauen wie Männer damit auch deren Schutz und Halt. Die Familie büßt ihre stabilisierende Kraft ein, was viele Menschen verunsichert. Jetzt hängen zwischenmenschliche Beziehungen weitgehend von ihnen selber ab: eine schwierige Aufgabe, an der doch kein Weg mehr vorbeiführt. Haben Aufklärung, Sozialbewegung des 19. Jahrhunderts und zuletzt noch der Feminismus mit ihren jeweiligen Emanzipationsbestrebungen übertriebene Hoffnungen geweckt? Ernüchtert müssen viele feststellen, dass weder die Aufklärung, noch der Sozialismus, noch die Frauenbewegung schlicht aus sich heraus das Leben der Menschen nachhaltig humaner oder gar glücklicher zu formen vermochten. Das Glück muss doch jeder für sich schaffen, es fehlt hier wie überall ein Stein des Weisen. Wenn zudem etwas den...