PREUSSEN AM TIEFPUNKT SEINER ERNIEDRIGUNG
Juli 1806–August 1807
Er ist 1777 in Frankfurt an der Oder geboren und entstammt dem pommerschen Uradel, ein waschechter Preuße also. Anders als seine Vorfahren ist er weder Gutsbesitzer, hoher Diplomat oder Gelehrter noch General oder gar Feldmarschall. Heinrich von Kleist ist »nur« ein Dichter. Und dazu noch einer, der sich in seinem literarischen Schaffen jenseits der Weimarer Klassik und der Romantik bewegt, fernab von allen etablierten Lagern. Er ist ein zu Unbeständigkeit, Maßlosigkeit und Melancholie neigender Außenseiter mit psychopathischen Zügen. Manchmal stottert und stammelt er; er errötet oft und wirkt äußerlich eher kindlich, fast mädchenhaft. Aber er ist ein genialer Schriftsteller, der in seinen Werken auch politisch Stellung bezieht. Wie wir noch sehen werden, ist er ein hasserfüllter Feind des acht Jahre älteren Napoleon Bonaparte. Anders als die Napoleonverehrer Goethe, Wieland oder Hölderlin, für den Napoleon sogar »der Herrlichste« ist, dämonisiert Kleist ihn in seinem »Katechismus der Deutschen« zu einem »verabscheuungswürdigen Menschen«, zu einem »Erzfeind« und »bösen Geist«. Während sich insbesondere das Zitat des zeitgenössischen deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel von Napoleon als »Weltseele«, den nicht zu bewundern einfach unmöglich sei, im kulturellen Gedächtnis der Deutschen fortgepflanzt hat, sieht Kleist in Napoleon einen »Höllensohn«, die Inkarnation des Bösen schlechthin. In seinem extremen Denken und Handeln steht Heinrich von Kleist ziemlich allein, ähnlich allein wie auch Preußen.
Der preußische Staat ist durch seine rücksichtslose Politik unbeliebt und politisch isoliert. Am 16. Juli 1806 unterzeichnen 16 süddeutsche Staaten, allen voran Bayern und Württemberg, in Paris den »Rheinbundvertrag« und bekennen sich damit ausdrücklich zu Frankreich als Schutzmacht. Alle bisherigen Reichsgesetze werden durch die Rheinbundakte für nichtig erklärt. Alle Mitglieder müssen für immer mit Frankreich verbündet bleiben und für Napoleons europäische Kriege Hilfstruppen stellen, Kanonenfutter für seinen Imperialismus. Jetzt kann er nicht nur seine Armee auf 280.000 Mann vergrößern, wovon rund ein Viertel Deutsche sind, sondern er verfügt auch über den lang ersehnten »cordon sanitaire«, eine Sicherheitszone Frankreichs nach Osten. Mit diesem Rheinbund, der bis 1808 auf 36 Mitglieder anwachsen wird, hört das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« praktisch auf zu existieren. Am 1. August 1806 verweigert Napoleon dem Reich die diplomatische Anerkennung und verlangt unverblümt von Kaiser Franz I. von Österreich die Abdankung als Oberhaupt des Reiches. Franz fügt sich und entsagt am 6. August 1806 der Krone. Damit findet die mehr als tausendjährige Reichsgeschichte ein klägliches Ende.
Kaum jemand in den deutschen Landen protestiert dagegen oder zeigt sich empört. Die Zeitungen schreiben zwar darüber, aber die lesen nur die Gebildeten. Goethe, der gerade auf Reisen ist, schreibt: »Viel wichtiger an diesem Tage war mir der Streit meines Kutschers mit einem Bediensteten.« Das einfache deutsche Volk erfährt kaum etwas vom Untergang seines Reiches. Nur hier und da regt sich Widerstand. Ein unbekannter Verfasser, wahrscheinlich ein Student, publiziert im Verlag des Buchhändlers Johann Philipp Palm im seit März 1806 von französischen Truppen besetzten Nürnberg eine 144 Seiten umfassende Schrift mit dem Titel »Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung«. Palm bietet das Pamphlet, in dem zum Widerstand gegen die Franzosen und ihre bayrischen Verbündeten aufgerufen wird, in seiner Nürnberger Buchhandlung zum Verkauf an. Es gerät in die Hände eines Deutsch sprechenden französischen Offiziers, der sofort Anzeige erstattet. Obwohl er als bayrischer Staatsbürger und Privatperson unter die bayrische Gesetzgebung fällt, wird Palm wegen Verbreitung verbotener, ehrenrühriger Schriften gegen Frankreich verhaftet und in der französischen Festung Braunau am Inn vor ein französisches Kriegsgericht gestellt. Den Namen des Verfassers gibt er nicht preis. Auf persönlichen Befehl Napoleons verurteilen ihn am 25. August französische Offiziere zum Tode. Napoleon will ein Exempel statuieren und die Deutschen einschüchtern. Schon einen Tag später wird Palm erschossen. Die ersten beiden Gewehrkugeln verwunden ihn nur, erst beim dritten Versuch bereitet ein gezielter Pistolenschuss seinem Leben ein Ende.
Auch Preußen ist mit Napoleon verbündet. Doch hier werden die Stimmen immer lauter, die dem nach Macht und Ruhm strebenden französischen »Empereur« endlich Einhalt gebieten wollen. Auch Kleist zählt dazu. Die Siegeszuversicht ist trügerisch, als Preußen Ende September 1806 Napoleon den Krieg erklärt, nicht zuletzt als Folge einer ungerechtfertigten Selbstüberschätzung durch einige preußische Militärs. Das von allen Großmächten isolierte Preußen will einem kriegserfahrenen, starken und siegreichen Gegner allein die Stirn bieten. Seine Armee ist dem Gegner zwar zahlenmäßig überlegen, in punkto Kampfkraft und operativer Führung gegen das moderne französische Revolutionsheer jedoch ohne Chance. Seit den Schlesischen Kriegen Friedrichs des Großen hat sie sich nicht wesentlich weiterentwickelt. Die Niederlage Preußens gegen die überlegenen napoleonischen Truppen in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 kommt einer Katastrophe gleich. Der Staat bricht vollkommen zusammen. Nie zuvor in der Geschichte ist eine erstrangige und durch ihre militärischen Traditionen berühmte europäische Macht innerhalb von nur sieben Tagen so total geschlagen worden. Deprimiert schreibt Heinrich von Kleist am 24. Oktober aus Königsberg an seine Schwester Ulrike: »40.000 Mann gefallen auf dem Schlachtfelde, und doch kein Sieg! Es ist entsetzlich … Nur ein sehr kleiner Teil der Menschen begreift, was für ein Verderben es ist, unter seine (Napoleons) Herrschaft zu kommen …. Es ist (sic!) auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen. Doch, wer weiß, wie es die Vorsehung lenkt.« Nach der verlorenen Schlacht kapitulieren die preußischen Truppen fast überall im Lande nahezu kampflos und übergeben den Siegern stark ausgebaute und gut versorgte Festungen und Städte wie Spandau, Küstrin, Stettin und Erfurt. Auch die mit riesigen Vorräten ausgestattete Festung Magdeburg, in der allein 23.000 preußische Soldaten mit 800 Kanonen stationiert sind, hisst ohne jeglichen Widerstand bereits die weiße Fahne, als die ersten drei französischen Geschütze auf den Wällen auffahren.
Der friedensliebende preußische König Friedrich Wilhelm III. hat sich lange gegen diesen Krieg gesträubt. Er widersetzte sich zunächst dem Drängen seiner Militärs und seiner patriotisch gesinnten Gemahlin, der Königin Luise, die sich mit Nachdruck auf die Seite der Kriegspartei schlug und zum Mittelpunkt derjenigen Gruppe geworden war, die den Krieg gegen Frankreich wollte. Letztlich verzieh der König aber Napoleon nicht, dass er ihn gezwungen hatte, ein Bündnis mit ihm einzugehen. So stolperte er, schreibt Sebastian Haffner, aus gekränkter Friedensliebe in den Krieg und auch beleidigt durch die Missachtung, mit der französische Truppen schon vorher in Ansbach ohne Erlaubnis durch preußisches Gebiet marschiert waren. Jetzt steht Friedrich Wilhelm III. in Berlin vor einem Scherbenhaufen. Die Einwohner erfahren zunächst überhaupt nichts von der totalen Niederlage der preußischen Armeen bei Jena und Auerstedt. Erst als drei Tage später viele Verwundete in der Hauptstadt eintreffen, verkündet der Gouverneur von Berlin lapidar: »Der König hat eine Bataille verloren. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!« Das ist alles. Kein Wort des Bedauerns und Mitleids für die vielen toten und verwundeten Soldaten, kein Wort des Trostes und der Ermutigung für die nun der Willkür des Feindes preisgegebenen Landsleute. Eiligst verlässt der König seine Hauptstadt und flieht mit Gattin und Familie nach Ostpreußen. Am 10. Dezember 1806 quartiert er sich im alten Königsberger Schloss ein. Der Hofstaat sowie die meisten reichen adligen Familien folgen ihm auf hochbepackten Wagen nach. Auch der Gouverneur der Stadt sucht das Weite, ohne das im Zeughaus gelagerte Kriegsmaterial mitzunehmen. Alle Kanonen und 40.000 Gewehre fallen in die Hände der Franzosen. Die Berliner fühlen sich im Stich gelassen. Aus einer Tagebucheintragung des bayrischen Gesandten in Berlin François de Bray vom 19. Oktober geht hervor, dass die Polizei durch die Straßen und Lokale zieht, »um vor Zwietracht und Verlautbarung von Reden und Handlungen zu warnen, die die Franzosen beleidigen und für die Stadt von nachteiligen Folgen sein könnten. Die Wirtshäuser sollen um 21.00 Uhr schließen … Der Kaiser soll seiner Armee die Plünderung Berlins versprochen haben … Männer und Frauen vergießen heiße Tränen und brechen in Klagen aus … Man hat den Eindruck, als solle in Worten und Gebärden um die Wette gejammert werden.«
Heinrich von Kleists glühender Hass gegen Napoleon steigert sich noch, als der Usurpator am 27. Oktober 1806 um 15.00 Uhr unter Geschützdonner und feierlichem Geläute der Kirchturmglocken an der Spitze eines glanzvollen Reiterzuges hochrangiger Marschälle und Generäle mit allen entfalteten Fahnen der Kaisergarde, dem Kürassierkorps und der Artillerie bei prächtigem Wetter durch das Brandenburger Tor in die preußische Hauptstadt einzieht. Zu den schmissigen Klängen der Marseillaise wird er von Vivat-Rufen und einer beinahe wohlwollenden Neugier der Berliner Bevölkerung empfangen. Sie ist zwar seit den Zeiten Friedrichs des Großen von französischer Kultur, Sprache und...