1. KAPITEL
EIN ALBTRAUM
Abwesenheit und Tod sind ein und dasselbe – nur,
dass im Tod kein Leiden liegt.
Theodore Roosevelt
In jener Nacht hatte sie einen derart entsetzlichen Albtraum, dass sie schreiend erwachte. Sie hatte noch nie zuvor unter solchen Angstzuständen gelitten, was Bob umso mehr beunruhigte, als er aus dem Schlaf gerissen wurde.
»Alles ist gut, Lynda«, sagte er, nachdem er zu sich gekommen war. »Es ist alles in Ordnung.«
»Duncan ist etwas Schreckliches passiert«, schluchzte sie.
Bob beruhigte sie, sie habe nur einen bösen Traum gehabt, doch fand sie nur schwer in den Schlaf zurück. Auch am nächsten Morgen war sie noch besorgt.
Sie hatte in ihrem Albtraum gesehen, wie Duncan etwas zugestoßen war, aber was? Sie konnte sich nicht daran erinnern, aber sie wusste, dass es etwas Grauenhaftes gewesen war. Duncan war damals in Europa und besuchte ein paar alte Freunde, dann wollte er nach Schottland ziehen und dort einen neuen Job als Trainer einer Eishockeymannschaft antreten. Am 4. August 1989 hatte er vom Haus seines Freundes George Pesut in Nürnberg aus angerufen. Nach der langen Reise von Saskatoon litt er noch unter dem Jetlag, war mürrisch und keinesfalls in der Stimmung, über seine Pläne zu sprechen.
»Ich rufe euch dann am 14. von Schottland aus an«, sagte er barsch. 14 Tage waren für ihn eine lange Zeit, ohne sich daheim zu melden. Durch den Eishockeysport war er zwar häufig von zuhause fort gewesen, doch hatte es selten länger als zwei Tage gedauert, bis er angerufen hatte, um Hallo zu sagen und zu fragen, wie es seinem Hund Jake gehe. Lynda glaubte, dass ihr furchtbarer Traum vermutlich durch das Gefühl ausgelöst worden sei, ungewöhnlich lange ohne Nachricht von ihm zu sein.
Als Duncan am 14. August nicht anrief, versuchte sie sich einzureden, er hätte einfach mit seinem neuen Job alle Hände voll zu tun, doch ihre Besorgnis wuchs. Am 16. August saß sie wartend neben dem Telefon, und als es abends endlich läutete, hob sie den Hörer beim ersten Klingeln ab. Es war Sean Simpson – einer von Duncans alten Eishockey-Kumpeln, der in Europa lebte.
»Haben Sie etwas von Duncan gehört?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie. »Er wollte anrufen, wenn mit seinem neuen Job in Schottland alles klar ist.« Am anderen Ende der Leitung wurde es still.
»Sean, bist du noch dran?«
»Äh, ja, Frau MacPherson. Es ist seltsam, weil ich gerade mit seinem Teammanager gesprochen habe und es so aussieht, als wäre er nie in Schottland eingetroffen.«
Es ist schwer zu beschreiben, welche Angst das Verschwinden eines Familienmitgliedes auslöst. Eine vage Ahnung davon bekommt man, wenn man sich vorstellt, was man selbst empfinden würde, wenn der eigene Partner oder ein Kind eines Tages nicht mehr nach Hause käme. Weil man keine Ahnung hat, warum, spielt man ein ganzes Dutzend grausiger Möglichkeiten durch. Panik und Verwirrung vermischen sich und verstärken sich gegenseitig. Das unerklärliche Verschwinden eines geliebten Menschen erzeugt eine Leere, in der das gesamte normale Leben in sich zusammenbricht. Die Panik mag vielleicht eines Tages vergehen, das alles verzehrende Verlangen jedoch, zu erfahren, was geschehen ist, nicht. Das Rätsel beschäftigt einen so lange, bis man das fehlende Familienmitglied gefunden hat – oder bis zum eigenen Tod.
So war es auch bei Lynda und Bob. Als sie erfuhren, dass ihr Sohn nie in Schottland angekommen war, riefen sie seinen Freund George Pesut in Nürnberg an. Aus diesem Gespräch ging Folgendes hervor: Am 7. August hatte sich Duncan von George dessen Auto für einen Kurztrip geliehen. Spätestens am 11. August wollte er zurück in Nürnberg sein, damit er seinen Flug nach Glasgow noch bekäme. Am 8. August wurde er zum letzten Mal gesehen, als er vom Haus seines Freundes Roger Kortko in Füssen aufbrach und nach Süden in Richtung Österreich/Italien fuhr. Seitdem hatte keiner seiner europäischen Bekannten mehr etwas von ihm gehört. Er war buchstäblich spurlos verschwunden.
Mit jedem Tag, der verstrich, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass ihm tatsächlich etwas Entsetzliches zugestoßen war, ganz so, wie Lynda es geträumt hatte. Sie starrte oft auf das Telefon, wollte es mit ihren Gedanken dazu zwingen, dass es klingelte und er am Apparat wäre, doch nichts geschah. Die Stille war unerträglich. Wie konnten ein junger Mann und das Auto, das er fuhr, in einer so hochzivilisierten Region einfach verschwinden?
Als erste mögliche Katastrophe dachte man an einen Autounfall, doch dann hätte man das Wrack gefunden. In den Achtzigerjahren kam es in Italien gelegentlich vor, dass erwachsene Touristen von Mafiabanden entführt wurden, doch hatte sich niemand mit einer Lösegeldforderung gemeldet. Lynda befürchtete, er könne einen gefährlichen Anhalter mitgenommen haben, wenngleich nur eine Person mit Schusswaffe es gewagt hätte, Duncan anzugreifen – einen über 1,80 Meter großen Eishockeyspieler, dessen Kampfgeist ihm den Spitznamen »MacFearsome« (»MacFurchterregend«) eingebracht hatte.
Die Royal Canadian Mounted Police (RCMP), die mit Beamten in den kanadischen Botschaften in Europa präsent war, sagte, es sei keine Seltenheit, dass junge Männer aus Abenteuerlust oder wegen einer Frau verschwänden, in der Regel aber nach kurzer Zeit wieder auftauchten. Lynda wusste, dass dies bei ihrem Sohn nicht der Fall war, da er stets hatte tun und lassen dürfen, wie ihm beliebte. Ganz bestimmt hätte er es seinen Eltern mitgeteilt, wenn alles in Ordnung gewesen wäre. Obendrein passte es überhaupt nicht zu ihm, seine Verpflichtungen in den Wind zu schlagen und sich mit einem fremden Wagen aus dem Staub zu machen.
Selbst wenn er beschlossen hätte zu verschwinden, könnte er ohne Geld nicht leben, und er hatte seit dem 7. August keinen Reisescheck mehr eingelöst. Dies zu verfolgen war möglich, weil er Lynda bevollmächtigt hatte, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern, während er in Schottland arbeitete. Sie erinnerte sich an ihr kurzes Gespräch am Abend, bevor er abreiste. Er saß am Küchentisch, aß als Mitternachtsimbiss ein Müsli und las die Eishockeynachrichten, als sie ihm das Dokument zur Unterschrift vorlegte.
»Sieht aus, als überschreibe ich dir mein Leben«, sagte er, während er es kurz überflog und sich dann wieder seiner Zeitung zuwandte. »Gibst du mir mal einen Stift?«
»Du kannst es ruhig erst lesen«, sagte sie.
»Nein – wenn ich meiner Mutter nicht vertrauen kann, wem dann?«
Dieses Empfinden beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie war zuversichtlich, dass er verantwortungsbewusst war und sie sich nicht in ihm täuschte. Dennoch bewirkte sein Verschwinden, dass sie sich nunmehr fragte, ob es in seinem Leben etwas gegeben haben könne, wovon sie nichts gewusst hatte – etwas, wodurch er in Schwierigkeiten geraten war, seit man ihn in Deutschland zum letzten Mal gesehen hatte.
Bis zum Frühjahr 1989 hatte Duncan MacPherson gar keine Zeit gehabt, in Schwierigkeiten zu geraten, weil er sich fast ausschließlich dem Eishockey gewidmet hatte. Anfang der Achtziger spielte er bei den Saskatoon Blades und zeigte als Verteidiger großes Talent. Besonders eindrucksvoll waren seine kompromisslosen Zweikämpfe auf offenem Eis, und 1984 wurde er schon in der ersten Auswahlrunde von den New York Islanders verpflichtet.
Trotz seines vielversprechenden Starts musste er fünf Jahre nach diesem Triumph erfahren, dass ihm der NHL-Ruhm versagt bleiben sollte. Im Frühjahr 1989 erneuerten die Islanders seinen Vertrag nicht mehr, wodurch er auch seine Position bei den Springfield Indians verlor, dem Unterliga-Verein der Islanders, in welchem er zur Vorbereitung auf die Nationalliga gespielt hatte. Für einen Dreiundzwanzigjährigen trug er die Enttäuschung mit großer Würde. Teils waren Verletzungen schuld, aber er wusste, dass sein geschundener Körper nicht der einzige Grund war. In den achtziger Jahren wurden die NHL-Spieler immer schneller, und er geriet ins Hintertreffen. In einem damals ausgestrahlten Fernsehinterview versuchte er daher auch nicht, sich zu rechtfertigen.
Duncans Foto auf seinem internationalen Führerschein, aufgenommen kurz vor seiner Abreise nach Deutschland, August 1989
»In den unteren Ligen spielt man so gut man eben kann, und wenn man nicht das Zeug zum Superstar hat, dann kann man nichts daran ändern«, sagte er mit leisem Stoizismus.
Lynda machte sich Sorgen um ihn, stellte jedoch bald fest, dass er sich die Angelegenheit nicht allzu sehr zu Herzen nahm. Zum Teil war er erleichtert, dem Druck der Trainer entronnen zu sein, die dümmlich darauf beharrten, er solle im Sport stets »hundertzehn Prozent geben«. Außerdem freute er sich darauf, den Appalachian Trail zu bewandern, was er schon seit Jahren hatte tun wollen. Wie sein Vater Bob war auch er gern im Freien und las häufig Bücher über Abenteuer in freier Natur. Auf die lange Reise von Saskatoon nach Deutschland nahm er ein Exemplar von Sturz ins Leere mit – den packenden Bericht eines britischen Bergsteigers namens Joe Simpson, der einen Sturz in eine...