2. Auswertung
Zur Beantwortung der Fragestellung, welche Unterschiede es in der Berichterstattung der untersuchten Tageszeitungen gebe, werden die Beiträge zu sieben Ereignissen beziehungsweise Ereigniszusammenhängen ausgewertet. Die Reihenfolge der Untersuchung der Tageszeitungen entspricht der Reihenfolge ihrer Gründung. Innerhalb der Untersuchungen der einzelnen Zeitungen wird weitgehend chronologisch vorgegangen, sofern nicht die thematische Verwandtschaft mehrerer Beiträge ein anderes Vorgehen nahelegt.
2.1 Der XX. Parteitag der KPdSU
„Die Welt“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichteten in 25 und 24 Beiträgen[219] über den XX. Parteitag der KPdSU vom 14. bis zum 26. Februar 1956, und nach deren Bekanntwerden über Chruščevs Geheimrede; die „Frankfurter Rundschau“ brachte 13 Beiträge zum Thema. Davon fanden in der genannten Reihenfolge zwölf, sieben und acht Beiträge ihren Weg auf die erste Seite.
Die „Frankfurter Rundschau“ tut des XX. Parteitages der KPdSU am Tage seines Beginnes nur in einem Halbsatz Erwähnung und befaßt sich sonst mit einer Konferenz der West-Botschafter im sowjetischen Außenministerium.[220] In Persiflierung des sowjetischen Mottos für die Außenpolitik, „Politik der globalen Koexistenz“, betitelt sie am zweiten Tag des Parteitages ihren Bericht über die Eröffnungsrede Chruščevs auf der ersten Seite: „Moskau für bewaffnete Koexistenz“.[221] In dieser Rede habe Chruščev seine außenpolitischen Überlegungen vorgestellt: „Alle Länder, die nicht zu einem aggressiven Paktsystem gehören, können mit der UdSSR in völligem Frieden und in Freundschaft leben.“ Die Sowjetunion strebe freundschaftliche Beziehungen vor allem zu den Vereinigten Staaten an, setze sich weiterhin für ein Verbot von Atomwaffen ein, werde jedoch mit der westlichen Rüstung mithalten. Eine Kommentierung dieser Aussagen erfolgt nicht. In dem Artikel wird zudem bemerkt, daß in einer anläßlich des Parteitages erschienenen fünfseitigen Sonderausgabe der „Pravda“ zwar ein Bild Lenins über drei Spalten veröffentlicht worden sei, jedoch kein Bildnis Stalins oder eines lebenden Parteiführers.[222] Dieses Anzeichen einer Abkehr vom Personenkult wird nur notiert, denn da die Geheimrede Chruščevs zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehalten worden war, wird dessen ganze Tragweite nicht erkannt und auch nicht kommentiert. Nach der Veröffentlichung des Wortlautes der Eröffnungsrede Chruščevs konnte die „Frankfurter Rundschau“ aus ihr zitieren. Sie tut dies zum Thema der Staatssicherheitsdienste, diese sollten einerseits gestärkt, andererseits aber auch besser kontrolliert werden. Unter derselben Überschrift wird aus Kommentaren britischer Zeitungen zitiert, die Chruščev als „neuen Diktator der Sowjetunion“ bezeichnen, der mit aller Machtfülle Stalins ausgestattet sei.[223] Hier übt die liberale „Frankfurter Rundschau“ Kritik am Regierungsstil in der Sowjetunion, indem sie die Meinung anderer Zeitungen wiedergibt. In einem zwei Tage später erschienenen Artikel wird ein Abschnitt der Rede dergestalt interpretiert, daß Chruščev eine Lösung der Deutschlandfrage, also die Wiedervereinigung, nur für möglich halte, sollten sich in der Bundesrepublik die Machtverhältnisse ändern. Aus der Verbindung dieser Interpretation mit einer Äußerung des SED-Sekretärs Walter Ulbrichts schließt die Korrespondentin auf eine zukünftig verstärkte Infiltrationstätigkeit der SED/KP in westdeutschen Gewerkschaftskreisen und der SPD. Moskau sehe für die Deutschlandfrage allenfalls eine langfristige Lösung.[224] In einem Kommentar vom selben Tage wird Chruščev als selbstbewußt und „zukunftssüchtig“ charakterisiert und die durch ihn repräsentierte Sowjetunion als armer Verwandter dargestellt, der nun mit ersten eigenen wirtschaftlichen Erfolgen bei den westlichen Großmächten renommieren könne. Die Sowjetunion fühle sich besser auf das Jahr 2000 vorbereitet und habe deshalb eher den Götzen Stalin „ideologisch totschlagen“ können.[225] Diese Einschätzung wurde wohlgemerkt vor der Geheimrede getroffen! Die Sowjetunion sei „heute militärisch nicht mehr zu besiegen“, der Triumph des Sozialismus’ schließe jedoch eine friedliche Koexistenz nicht aus. Der Kommentator übt Kritik am westlichen „Drang nach dem Wohlfahrtsstaat“ und hin zur Sicherheit und stellt ihm Chruščevs Zugeständnis gegenüber, es könne mehrere Wege zum Sozialismus geben. Abschließend wird die Vermutung geäußert, in Zukunft stünden vor allem die Staaten am Südrand der Sowjetunion im Brennpunkt deren außenpolitischen Interesses.[226] Daß der Kommentator hier irrt, sollte der weitere Verlauf des Jahres zeigen. Auch die möglichen und später eingetretenen Folgen des Zugeständnisses Chruščevs, daß es mehrere Wege zum Sozialismus geben könne, werden nicht gesehen.
Nach der Veröffentlichung der Rede Mikojans berichtet die „Frankfurter Rundschau“ auf der ersten Seite, die sowjetische Führung habe sich weitgehend „von den Methoden Stalins in der Parteiführung und in der Außenpolitik losgesagt“. Die Rede sei in westlichen Kreisen Moskaus als Sensation aufgefaßt worden und beinhalte eine Absage an wirtschaftliche sowie innen- und außenpolitische Thesen Stalins. Das Prinzip der kollektiven Führung sei seit Stalins Tod Grundlage der Partei- und Staatsführung geworden.[227] Aus der DDR wird berichtet, infolge der neuen Parteistrategie der KPdSU sei die „bisher gültige Parteibibel Stalins“, die „Geschichte der KPdSU“, aus dem Handel genommen worden.[228] Diese Meldung wird tags darauf dementiert, in der DDR werde jedoch intensiv debattiert, wie die zukünftige Politik aufgrund der geänderten Richtlinien aus Moskau aussehen müsse. Insbesondere werde nun ebenfalls nur eine langfristige Wiedervereinigung angestrebt.[229] In den Abschlußberichten zum Parteitag wird aus der Schlußresolution zitiert, die Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und an der „Politik der Stärke“ der „imperialistischen Mächte“ enthalte. Außerdem werden in Ausführlichkeit die Personalveränderungen geschildert.[230]
Die Geheimrede, die Chruščev am 25. Februar 1956 gehalten hatte, wurde erst am Wochenende des 17. und 18. März im Westen bekannt. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtet unter der Überschrift „Große Abrechnung in Moskau“ auf der ersten Seite, die Zerstörung des Stalin-Mythos’ durch Chruščev werde in der Sowjetunion unter Anleitung vieler zehntausender Agitatoren breit diskutiert unter Bezugnahme auf Chruščevs Beschuldigungen Stalins des Massenmordes, der Terrorherrschaft, des Antisemitismus, des Verfolgungswahnes und persönlicher Eitelkeit. Direkt darunter wird in einem weiteren Artikel erneut über die Folgen dieser für den Westen neuen Informationen in der DDR berichtet.[231] Auf Seite drei derselben Ausgabe werden in einem Kommentar zu diesem Thema Chruščev und Bulganin gegen mögliche westliche Vorwürfe in Schutz genommen, die Abkehr vom Stalinismus sei ein „Trick, um die nichtkommunistische Welt an der Nase herumzuführen“.[232] Damit nimmt die „Frankfurter Rundschau“ eine eindeutig linksgerichtete Position ein. Auch in ihrem letzten Artikel zu diesem Thema bezieht die „Frankfurter Rundschau“ linke und liberale Positionen, indem sie entsprechende Kommentare us-amerikanischer und britischer Zeitungen wiedergibt, die zu bedenken geben, daß Stalins Nachfolger seine früheren Helfer gewesen seien und daß der lobenswerte Gesinnungswandel bislang weder innen- noch außenpolitisch zu großen Veränderungen geführt habe, während die jugoslawische „Borba“ über die „Neuorientierung“ des Lobes voll sei.[233]
„Die Welt“ würdigt den XX. Parteitag der KPdSU bereits am Tag seines Beginnes mit einem großen Artikel und berichtet im lebhaften Stil einer Reportage in einem auf der zweiten Seite fortgesetzten Artikel über die monatelangen Vorbereitungskonferenzen der Parteigliederungen in der gesamten Sowjetunion. Der Artikel betont die seit Stalins Tod wieder gestiegene Bedeutung der Partei. Sie habe die eine Zeit lang von „verständlichem Patriotismus“ verdrängte Rolle im Bewußtsein der Bevölkerung als einer allumfassenden Partei wiedererlangt. Die Formulierung „verständlicher Patriotismus“ entspricht der politischen Haltung der „Welt“. Im folgenden gibt sie einen Rückblick auf die Personalentwicklung in der Führung von Staat und Partei seit Stalins Tod und berichtet über die schwache politische Stellung der Armee sowie den Abbau des Terrorapparates. Im weiteren wird ebenfalls auf die erwartete wirtschaftliche Entwicklung eingegangen, die im Wettbewerb mit dem Auslande stattfinden solle. Der Autor des Artikels stellt fest, daß die Partei im Inneren keineswegs ein monolithischer Block sei, die gesellschaftliche politische Willensbildung aber ausschließlich in ihr stattfinde und Nikita Chruščev weiterhin im Mittelpunkt stehen werde.[234] In einem weiteren Artikel auf der zweiten Seite, der diesmal in nüchternem Berichtsstil gehalten ist, wird die Bedeutung des Parteitages für die kommunistischen Parteien weltweit hervorgehoben, deren Führer „zum Rapport“ erscheinen würden und deren globales Programm überprüft...