Durch Poesie und bildende Kunst geht seit Jahrhunderten der rastlose Drang nach Erweiterung des Kreises der darzustellenden Stoffe. Es will uns nicht mehr genügen an Einzelfiguren und Gruppen. War früher das Volk als Gesammtperson höchstens nur leicht angedeutete Staffage oder ein Schmuck des Hintergrundes, dann wird es jetzt mehr und mehr eine selbständige, ja eine Hauptfigur, die sich flott durchgearbeitet in den Vordergrund von Bildern und Dichtwerken stellt. Die Gegenwart sucht entschiedener als irgend eine frühere Zeit das Volk als Kunstobject zu fassen.
Mit dem Ausgange des Mittelalters, da die großen socialen Neugestaltungen begannen, in denen wir noch fortweben, gewinnt das Volk den Reiz eines neuen Stoffes für die Künstler und Poeten. Die weitschichtigen, gleichsam episch in's Breite gehenden Geschichtsbilder der deutschen Malerschulen aus dem 15. und 16. Jahrhundert wurden damals äußerst figurenreich. Mit einzelnen bildsäulengleichen Heiligen hatte man begonnen, war fortgeschritten zur Gruppe, dann zum Gruppengewimmel und durch dieses zum Charakterbilde der Massen. Das deutsche Volk wird nun derb leibhaftig mitten in die Scenen aus der biblischen Geschichte, aus dem Leben der Heiligen und Märtyrer gestellt. Dürer, Holbein, Kranach waren nicht bloß insofern volksthümliche Maler, als sie in ihrem Styl den deutschen Volksgeist in einer bis dahin nicht gekannten Freiheit und Naturfrische versinnbildeten; sie waren auch mit ihren unmittelbaren Vorgängern, Genossen und Nachfolgern die ersten, welche das deutsche Volk als Volk malten. Sie machten freilich trotzdem das Volk noch nicht zum Mittelpunkte ihrer historischen Bilder; sie stellten es nur in die Peripherie derselben, erläuternd, füllend, schmückend, daß es manchmal fast auftritt wie der Chor in der griechischen Tragödie. So getreu auch die Einzelfiguren und Köpfe in den Volksgruppen der altdeutschen Maler aus dem Leben gegriffen, ja oft in ihrer naturwüchsigen Gemeinheit geradezu von der Straße aufgelesen sind, so hat doch die Gesammtfigur des Volkes vorwiegend nur einen typischen Sinn. Im Einzelnen wechselt die reichste Charakteristik der Köpfe; im Ganzen sind es immer dieselben niederrheinischen, fränkischen, schwäbischen Bürger und Bauern, die auf den Bildern der niederrheinischen, fränkischen, schwäbischen Schule gegensatzlos, in stehenden, überlieferten Formen wiederkehren. Allein der Anstoß war gegeben, die Selbsterkenntniß des Volkes im Bilde geweissagt.
Aehnliches zeigt die damalige Poesie. In der Volksdichtung, die sich am Ende des Mittelalters und zur Reformationszeit ausbildet, greifen die Dichter ihre Stoffe unmittelbar aus dem Volksleben. Die niederen Stände erschauen sich im Gesammtorganismus des Volkes ebenso klar wie weiland die höheren: das ist in den Volksbüchern und den satyrischen Lehrgedichten des 15. und 16. Jahrhunderts mit wahrhaft epochemachender Neuheit, Kraft und Tiefe ausgesprochen. Hier an den Pforten der neuen Zeit ahnten die Leute mit einemmale, welch ein wunderbares Kunstobject das Volk sey. Die Reformationszeit ist auch in diesem Stücke Spiegel und Seitenbild der Gegenwart. Sebastian Brandt geißelt in seinem Narrenschiff die Schwächen und Gebrechen der ganzen bürgerlichen Gesellschaft. Er macht bereits die moralische Gesammtperson des Volkes zum Stoff seines Lehrgedichtes. Die Satyriker jener Zeit beginnen überhaupt das Volk naturgeschichtlich zu zerlegen; freilich nicht zu politischem Zweck, sondern der Moralpredigt halber; aber die Thatsache dieser Untersuchungen bleibt darum nicht minder bedeutsam. Es ist nur erst der Theologe Gailer von Kaisersberg, der sich den Text zu seinen Predigten aus Brandt's satyrischer Naturgeschichte des Volks nimmt; im 19. Jahrhundert werden die Staatsmänner ihre Texte in den naturgeschichtlichen Analysen des Volkes suchen müssen.
Sowie die sociale Romantik des Mittelalters verblaßt, wird der Gegensatz des gemeinen Mannes zum vornehmen mit einemmale lebendig in der Literatur. Volkslieder und Volksbücher verdrängen die Königslieder und Heldenbücher. Narren predigen die neue Weisheit; in dem Humor seiner Schwänke und Spottlieder erkennt das Volk als Gesammtcharakter sich selbst in seiner Eigenart und Naturkraft, und Eulenspiegel wird ein Prophet der socialen Revolution. Die »grobianische Literatur,« in welcher das geringe, das arme, gedrückte Volk als das »eigentliche« Volk gedacht ist, fordert die ausgesungene höfische und ritterliche Poesie zum Knüttelkampfe heraus und fährt siegreich mit ihrem Prügel darein. Ein Stück des Volkes wenigstens wird solchergestalt Kunstobject, ein wunderliches Stück, die göttliche Grobheit der Sprache und Sitte des gemeinen Mannes soll ihre poetische Naturkraft bekunden; bei Spott und Hohn auf den modischen Anstand und das eigensinnige Herkommen der höheren Stände fühlen sich die Volksschriftsteller kannibalisch wohl. Dieselben von der Straße aufgelesenen Gestalten mit den gemeinen Gesichtern, welche theilweise auf den Historien- und Kirchenbildern den typischen Chor des Volkes bilden, pflanzen sich in dem Vordergrund der Spott- und Lehrgedichte auf. Sie drohen hier als eine Schaar der Rache, welche den Muth und die Faust hat, das Unrecht der Zurücksetzung hinter Fürsten, Ritter und Pfaffen – nicht bloß in der Kunst, sondern auch in der Politik - wieder wett zu machen.
Wie in der Dichtkunst die Sehnsucht nach der Natur erst dann bei allen Sängern widerklingt, wenn die Menschen sich der Natur entfremdet haben, so kann auch die künstlerische Selbstschau des Volkes, der poetische Genuß an dem rohen Volksleben, erst da eintreten, wo der sociale Stand der Unschuld bereits gebrochen ist, wo die Entfremdung einer verfeinerten Welt von volksthümlicher Sitte und Art bereits sociale Nervenleiden, Blutarmuth und Muskelschwäche erzeugt hat, gegen die man in dem Schlammbad einer naturwüchsigen Rohheit und Flegelei Hülfe sucht.
Die »grobianische Literatur« vom Ausgange des Mittelalters ist in unserer Zeit in den Dorfgeschichten, mehr noch in den Mysterien des großstädtischen Proletariats wieder aufgelebt. Solche Erscheinungen, die das Volk in seiner ungebrochenen, unverhüllten Natürlichkeit als Kunstobject nehmen, sind entscheidend für den Fortschritt der Naturgeschichte des Volkes. Was der Poet ahnt und schildert, das soll der Social-Politiker durchforschen und anwenden.
Wie im einzelnen Menschen, so zeigt auch im Volke dieses ruckweise Vorschreiten der Selbsterkenntnis jedesmal einen bevorstehenden Umschlag im Organismus an. Der Bauernkrieg machte der Lust an den Dorfgeschichten des 16. Jahrhunderts ein Ende. Da waren mit einemmale die »Grobiane« aus dem literarischen Rahmen herausgetreten und hatten wirkliche Arme und Fäuste bekommen. Der Dämon, welcher im Bild, im Lied und in der Satyre längst gegeistet und in abenteuerlichen Gesichten sich vorverkündet hatte, stieg endlich auch leibhaftig an's Tageslicht.
Das 16. Jahrhundert malte nicht bloß das Volk und sang von dem Volke, es beschrieb auch dasselbe mit ganz besonderem Behagen. In »Weltbüchern« und »Kosmographien« schilderte der populäre Gelehrte das Volk nach Stand und Beruf, nach seinem Zusammenhang mit dem Lande und ergötzte die Leser mit der Kunde von allerlei wunderlichen Sitten, die er in der eigenen Heimath versteckt gefunden. Neben den Holzschnitten von Meerfräulein, Menschenfressern und fabelhaften Völkern mit Hundeköpfen sehen wir in Sebastian Münster's »Kosmographey« den Allgäuer Bauer am Spinnrocken, den Landsknecht, den Ritter, den Zigeuner, den Juden. Wie diese derben Holzschnitte ist auch das Konterfei der mittelaltrigen vier Stände fest und treuherzig in Worten gezeichnet. Wer vermag heute sociale Charaktergruppen zu malen, die sich an Dürer'scher Kraft der Umrisse mit Sebastian Frank's Prachtstücken der Schilderung messen könnten? Und an diesen Spiegelbildern ihrer selbst konnten sich die Leute des 16. Jahrhunderts nicht satt sehen. Die Selbsterkenntnis des Volkes war mit nie gekannter Macht erwacht: dieß ist eine der wichtigsten Thatsachen der Reformationszeit. Mit gutem Griff hat darum Kaulbach in seinem großen Reformationsbild zu den Humanisten, zu den Entdeckern und Naturforschern auch einen Forscher von Land und Leuten, den alten, ehrlichen Münster mit seiner langen Forschernase, in den Vordergrund gestellt.
In der Kunstthätigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts tritt das Volk als Kunstobjekt wieder in den Hintergrund. Die Zopfzeit hatte keine sociale Politik. Wo es nur Unterthanen, keine Bürger gibt, da wird freilich das Studium des Volkes überflüssig. Während selbst der typische Chor der Volksgruppen von den Historienbildern verschwindet, sind es nur noch die republikanischen Holländer, welche Art und Sitte des gemeinen Volkes behaglich vor unsere Sinne bringen. Sie führen die erloschene grobianische Literatur der früheren Zeit mit dem Pinsel fort; Teniers, Ostade, Jan Steen boten dem verschnörkelten Wesen der vornehmen Welt Trumpf, indem sie in unvergleichlicher Naivetät Studien zur Naturgeschichte des Volkes malten.
Allein so groß auch die Rückschritte waren, die man seit dem dreißigjährigen Krieg in der Erkenntniß und Würdigung des Volkslebens machte, so ist doch die Brücke zwischen den Volksstudien des 16. Jahrhunderts und der Gegenwart niemals ganz abgebrochen gewesen. Im Simplicissimus und den Gesichten des Philander von Sittewald wird noch einmal, wenn auch mit roher Hand der Versuch gewagt, ein unverhülltes Naturbild des Volkes poetisch zu gestalten. In diese...