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E-Book

Gebrauchsanweisung für Argentinien

5. aktualisierte Auflage 2016

AutorChristian Thiele
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492950428
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die patagonischen Weiten, die ewige Pampa und die größten Wasserfälle der Welt; lateinamerikanisches Temperament, europäische Vielfalt und französisches Stilempfinden; alte Pracht und neue Einfachheit; großartige Literatur, Gauchofolklore, trendiges Design und Tangonostalgie: Das sind nur einige der Gegensätze, die Buenos Aires zur spannenden Metropole und Argentinien zum boomenden Reiseland machen. Um es zu entschlüsseln, begegnet Christian Thiele den Menschen - dem Friedhofswächter an Eva Peróns Grab; dem wie ein Gott verehrten Diego Maradona; Angel, der als Cartonero den Müll der Reichen verwertet; einem Rinderauktionator, einer der Mütter vom Plaza de Mayo und dem Pförtner eines »telo«, das viel mehr ist als ein Stundenhotel. Argentinien ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse 2010.

Christian Thiele, 1973 geboren, arbeitete nach dem Politikstudium als Auslandsredakteur der Financial Times Deutschland, als Textchef beim Playboy und als freier Journalist, u.a. für Deutschlandfunk, Süddeutsche Zeitung und Die Zeit. In den Nullerjahren zog er nach Buenos Aires und reiste ausgiebig durch Südamerika. Heute lebt er in München.

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Leseprobe

Eine Stadt und ihr Land


»A mí se me hace cuento que empezó Buenos Aires:

la juzgo tan eterna como el agua y el aire.«

(Ich halte es für ein Märchen, dass Buenos Aires einst begann:

Ich finde es so ewig wie das Wasser und die Luft.)

Jorge Luis Borges, Fundación mítica de Buenos Aires

Der Mexikaner, sagt man in Argentinien gerne, stammt von den Azteken ab; der Peruaner stammt von den Inkas ab; und der Argentinier, der stammt von den Booten ab. Dieser Spruch ist nicht nur ein Spruch, er enthält viel Wahres. Und er verrät in seiner Ironie einiges über die argentinische Selbstwahrnehmung. Davon wird im Laufe dieses Buches die Rede sein. Aber er erklärt auch, warum der Bewohner von Buenos Aires von sich als porteño spricht, als »Hafenbewohner« (von spanisch puerto, »Hafen«).

Aus Sicht der Porteños jedenfalls, und die ist erst mal maßgeblich, setzt sich Argentinien aus drei Teilen zusammen, und zwar drei sehr unterschiedlich wichtigen Teilen: aus capital, der Hauptstadt Buenos Aires (ziemlich wichtig); aus dem conurbano, dem Speckgürtel (ziemlich unwichtig); und aus la provincia, der Provinz (völlig unwichtig).

Gott hat seine Sprechzeiten in Buenos Aires


Argentinien ist fast achtmal so groß und hat etwa halb so viele Einwohner wie Deutschland. Es streckt sich vom 22. bis zum 55. Grad südlicher Breite – auf die Nordhalbkugel übertragen, wäre das von Moskau bis Dschidda am Roten Meer – und vom 54. bis zum 73. Grad westlicher Länge, das wäre etwa von Paris bis nach Warschau.

Aber von den rund 40 Millionen Argentiniern leben fast 13 Millionen im Großraum Buenos Aires – damit ist die argentinische Hauptstadt nach Mexiko und São Paulo die drittgrößte Megacity in Lateinamerika. Die großen Theater, das höchste Gericht, die wichtigsten Zeitungen, die besten Fußballclubs, die besten Universitäten: alles in Buenos Aires. Für die Radiomoderatoren im ganzen Land – behauptet man zumindest im ganzen Land – ist der Akzent der Hauptstadt verpflichtend. Wer in Ushuaia im Café sitzt, also ganz im Süden von Feuerland, 3080 Kilometer von Buenos Aires entfernt, der sieht auf dem Fernseher die Staumeldungen für – la capital federal, die Hauptstadt. Genauso wie der, der in San Salvador de Jujuy sitzt – 1500 Kilometer weiter nördlich. Und wenn er dort die Zeitung aufschlägt, liest er, dass auf der Avenida Corrientes im Herzen von Buenos Aires mal wieder einer schwedischen Touristin die Handtasche abgenommen wurde. Das ist in etwa so, als würde man im norwegischen Hammerfest die Blitzerwarnung für Neapel mitgeteilt bekommen.

Wer es einmal oder wessen Familie es einmal in die Hauptstadt geschafft hat, der zieht nicht nach Rosario oder nach Córdoba, die beiden zweitgrößten Städte, oder gar sonst woandershin, um zu studieren oder um einen Job zu finden. Er bleibt in Buenos Aires. Im Vergleich zu Argentinien ist das zentralistische Frankreich ein föderalistischer Flickenteppich.

Dass politische Karrieren bisweilen in der Provinz gemacht werden, widerspricht dieser Feststellung nicht, im Gegenteil: Es bestätigt sie. Carlos Menem, der spätere Staatspräsident, konnte nur in seiner Provinz La Rioja als Gouverneur groß werden, weil sie so weitab vom Schuss war. Auch Néstor und Cristina Kirchner, seine Nachnachnachnachnachnach- und Nachnachnachnachnachnachnachnachfolger im Casa Rosada, dem rosa Präsidentenpalast, bastelten sich ihre Karrieren im patagonischen Hinterland, ebenfalls weit jenseits des hauptstädtischen Radars.

Der erfolgreiche Estanciero, ob er mit gigantischen Schafherden in Feuerland sein Geld gemacht hat oder mit riesigen Sojafeldern im Nordosten, an der Grenze zu Brasilien, genauso wie der Winzer aus Mendoza ganz im Westen, der seinen Malbec in alle Welt importiert: Sie haben alle ihr Apartment im Barrio Norte in Buenos Aires – schon alleine, damit ihre Gattinnen standesgemäß shoppen und die Sprösslinge auf eine vernünftige Schule gehen können. Von den 20 Fußballvereinen in der höchsten Spielklasse, der Primera División, kommen immer alle bis auf eine Handvoll aus dem Großraum Buenos Aires – und nur alle Jubeljahre gewinnen die Newell’s Old Boys oder Central aus Rosario oder – noch seltener – die Estudiantes aus La Plata. Ansonsten bleibt der Titel immer schön in der Hauptstadt. Wer als Tourist von den Gletschern in Patagonien zu den Weinbergen von Mendoza will, wer aus der Hochebene Saltas zu den Wasserfällen von Iguazú will, der muss immer über Buenos Aires fliegen.

Kurzum: »Dios está en todas partes, pero atiende en Buenos Aires«, sagen die Argentinier gerne: »Gott ist überall – aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires. «

Der Porteño prägt die Wahrnehmung des Argentiniers im Ausland. Die – vergleichsweise – paar argentinischen Touristen aus anderen Landesteilen entschuldigen sich laufend, wenn sie in Bolivien oder Brasilien unterwegs sind, dass sie erstens keine Porteños seien und sie sich zweitens von deren ständigem Dame-dos-Geprahle (»Gib mir gleich zwei«) aufs Schärfste distanzieren wollen. Was übrigens meistens nichts bringt, aber das ist ein Thema für sich.

In diesem Buch werden deshalb die Hauptstadt und der Hauptstädter auf gänzlich ungerechte Weise bevorzugt und völlig überdimensioniert dargestellt. Ungerecht gegenüber den vielen interessanten, schönen anderen Flecken und Gebräuchen etc., die Argentinien zu bieten hat. Völlig überdimensioniert im Verhältnis der Hauptstadt zu seinem restlichen Land.

Aber eben – man mag das bedauern – in völligem Einklang mit dem in Argentinien ganz Üblichen.

Die Stadt am Silberfluss: Aus Versehen entdeckt und zweimal gegründet


Wann genau Buenos Aires gegründet wurde? 1535, hieß es lange. Bis Historiker nachwiesen, dass der Stadtgründer, der Spanier Pedro de Mendoza, für das Jahr 1535 ein ziemlich wasserdichtes Alibi hat und sich nicht in Südamerika aufgehalten haben kann. So hat man sich auf 1536 geeinigt, und zwar auf den 3. Februar. Aber ob es wirklich der Tag war und der Monat und wie die sonstigen genaueren Umstände waren, all das liegt im Dunkeln. Dokumente, Gründungsakten gab es nie, oder wenn es sie gab, sind sie verloren gegangen.

Die Entdeckung des Río de la Plata und die Gründung von Buenos Aires, so viel lässt sich allerdings mit ziemlicher Sicherheit sagen, ist eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen:

Der junge spanisch-portugiesische Juan Díaz de Solís (vermutlich 1470 bis 1516) fühlt sich als junger Seemann der Marine Ihrer portugiesischen Majestät offensichtlich derart unterbezahlt, dass er gemeinsam mit französischen Korsaren ein Schiff der portugiesischen Marine plündert. Um der Todesstrafe zu entgehen, heuert er bei den Spaniern an und sucht nun im Auftrag König Ferdinands nach einem Seeweg über den Süden in den Osten, zu den sagenhaften Ländern Indiens – dort, wo die Gewürze sein sollen, die Seide, das Opium und die Sklaven. Ferdinand hat den erfahrenen Seemann zum Piloto Mayor de Castilla und damit zum Nachfolger des verstorbenen Amerigo Vespucci ernannt. Als Admiral der spanischen Entdeckungsflotte bricht er 1515 mit drei Karavellen und 70 Seemännern auf, um eine Verbindung vom Atlantik zum Pazifik zu finden. So stößt Solís mit seinen Männern im Februar 1516 am Zusammenfluss von Río Uruguay und Río Paraná auf eine riesige Süßwasserfläche, den heutigen Río de la Plata, und tauft sie Mar Dulce, das »Süße Meer«. Solís glaubt, den sagenhaften Seeweg gefunden zu haben, geht mit Offizieren an Land und wird von kannibalischen Ureinwohnern gefressen – sagen die einen. Diese Geschichte haben die Überlebenden der Crew nur erfunden, um die Meuterei an Bord zu vertuschen – sagen die anderen.

Im spanischen Mutterland wird Legendäres von jenem Mar Dulce berichtet, das Solís als erster Nichtamerikaner besegelt hat. Ein venezianischer Entdecker tauft es den Río de la Plata, den »Silberfluss«, obwohl der Fluss im Laufe seiner Geschichte wohl nie mehr Silber als ein paar verlorene Besteckteile enthalten hat und seine Farbe auch bei größter Rot-Grün-Schwäche eindeutig als bräunlich beschrieben werden muss. Doch die Portugiesen machen Land in der Neuen Welt, da will sich der spanische König nicht abhängen lassen: Er will Forts, Städte, Sklaven, Reichtümer. Er will in der Gegend jenes sagenhaften Río de la Plata spanische Kolonien gründen lassen. Für 2000 Dukaten pro Jahr heuert Karl V. den Seefahrer Pedro de Mendoza an, verpasst ihm den Rang eines Admirals, gibt ihm ein gutes Dutzend Schiffe und an die 30 Hundertschaften Soldaten. Vermutlich 1536 – angeblich eben an jenem 3. Februar – kommt die Flotte Mendozas an ihrem Ziel an. Aus dem Holz einiger Begleitschiffe lässt Mendoza ein Fort bauen und tauft es auf den Namen El Puerto de Nuestra Señora María del Buen Aire, »Der Hafen unserer Frau Maria der guten Lüfte« – das heutige Buenos Aires.

Es wird sich bald herausstellen, dass...

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