Bevor die sozialen Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem erläutert werden können, ist es nötig, die für die Problematik zentralen Begriffe zu erläutern. Dazu zählen vor allem: Bildung, Bildungsnotstand, Bildungssoziologie, Bildungsbenachteiligung, soziale Ungleichheit, Reproduktion, soziale Reproduktion, soziale Reproduktion nach Pierre Bourdieu, Chancengleichheit, Bildungschancen, Migranten sowie der Begriff Migration.
Im weitesten Sinne versteht man Bildung als individuelle Aneignung von Kultur − eine Aneignung, die den Einzelnen die kognitiven, expressiven und ästhetischen Traditionen der Menschheit und seiner Kultur verfügbar macht. Hierdurch erweitert Bildung die Ausdrucksmöglichkeiten, Interpretationsmuster und Sichtweisen des Individuums auf die Welt und auf sich selbst und transzendiert damit die individuelle Erfahrung des Hier und Jetzt. Das entscheidende Kriterium dafür, ob von Bildung gesprochen werden kann, ist das der Nachhaltigkeit, während die Art und Weise der Aneignung zunächst unerheblich ist: Ob im Rahmen formeller Institutionen oder auf informellem Wege, durch explizite Lehre, Erziehung oder aber durch mimetische Aneignung erworben, kommt es darauf an, dass das Erlernte langfristig verfügbar ist.
Bildung schließt also die bewusste Kenntnis von Wissenselementen wie auch ein weniger bewusstes Verstehen und Erkennen von Sinnhaftigkeit ein. Durch diese Aneignung von Kultur werden Kompetenzen und Fähigkeiten erlangt, die einen selbständigen Umgang mit ihr ermöglichen. Sowohl für die Rekonstruktion von Erkenntnissen und Wissensgehalten als auch für die genuine Neuschöpfung und Produktion von Wissen durch sinnvollen Einsatz der erworbenen Kenntnisse ist Bildung grundlegend. Gleichzeitig birgt sie den Keim zu künstlerisch-kreativer Betätigung, da diese eine (explizite oder weniger bewusste) Kenntnis der Sinnhaftigkeit von Formelementen voraussetzt. Die Aspekte des Umgangs mit ihr und der Kenntnis ihrer Sinnhaftigkeit kennzeichnen Bildung als Bestandteil des Habitus[4], der sowohl bewusste Praxis als auch “implicitˮ oder “tacit knowledgeˮ[5] einschließt.
In diesem Verständnis ist Bildung nicht beschränkt auf Schulwissen und spezielle Kenntnisse der Berufsbildung oder akademischen Lehre. Sie umfasst ebenfalls kollektives Wissen, wie es in Form von volkstümlicher Kultur vorhanden ist und durch Erziehung und Tradition weitergegeben wird sowie durch Praxis angeeignetes implizites Wissen. Bildung, im Sinne Bourdieus als »inkorporiertes kulturelles Kapital« verstanden (Bourdieu 1983), schließt durch ihre Einverleibung gleichermaßen kognitive und habituelle Aspekte ein. Als Bestandteil des Habitus ist Bildung daher aufs Engste mit der biologischen, leiblichen Existenz des Individuums verbunden. Durch das Gemeinschaft konstituierende Moment des Habitus umfasst der so verwendete Bildungsbegriff neben einer Mikro-Perspektive, die einzelne Akteure als Individuen im selbständigen Umgang mit inkorporiertem Wissen beschreibt, auch eine Makro-Perspektive, die die gesellschaftlichen Aspekte von Bildung in den Blick nimmt. Damit ist Bildung in diesem weit gefassten Sinne die Basis für Mehreres: Als durch Inkorporation angeeignete, einverleibte Kultur prägt sie die Individuen in ihrer kulturellen Praxis und schafft zugleich durch die Gemeinsamkeit mit all jenen, die die gleiche Praxis pflegen, kulturelle Identität. Die enge Verbindung von Praxis und Identität verweist außerdem auf den sozialen Kontext, in dem beides zu platzieren ist: Gemeinsame kulturelle Praxis ist immer auch soziale Praxis; daher impliziert kulturelle Identität ebenfalls eine soziale Verortung in der Gesellschaft und damit soziale Identität.[6]
Die Schlagworte der 1960er Jahre, unter dem besonders durch G. Picht (Artikelserie „Die deutsche Bildungskatastrophe“) auf die grundsätzlichen Planungsmängel im deutschen Bildungswesen hingewiesen wurde, waren: zunehmender Mangel an Lehrern für alle Schulzweige, geringere Bildungschancen für die Kinder von Arbeitern und der Landbevölkerung u.a. Diese Hinweise haben zur Entwicklung der Bildungsplanung beigetragen.[7]
Die Bildungssoziologie untersucht die gesellschaftlichen - ökonomischen, sozialen und kulturellen - Bedingungen des Bildungsprozesses und der Institutionen im Bildungswesen. Sie ist Schnittpunkt soziologischer und erziehungswissenschaftlicher Bildungstheorie. Bei der Bildungsforschung handelt es sich um eine Teildisziplin der Soziologie und Erziehungswissenschaft.[8]
Die Bildungssoziologie befasst sich mit den Grundlagen und Rahmenbedingungen, aber auch den Funktionen von Bildung und hinterfragt kritisch, inwieweit das Bildungssystem soziale Ungleichheit reproduziert und im Sinne größerer Chancengleichheit reformiert werden kann. Somit liefert die Bildungssoziologie Erkenntnisse und Daten, die in die Bildungspolitik und Bildungsplanung Eingang finden. Zur Bildungssoziologie gehört ebenso die Beschreibung und Analyse der Bildungsbeteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen über Generationen hinweg, der Bildungskonzepte und ihrer Funktionen und Veränderungen (z.B. Arbeiterbildung, humanistische Bildung, Lebenslanges Lernen usw.) sowie der Zusammenhänge von Bildung und sozialdemographischen Phänomenen.
Bildungssoziologie umfasst die Bereiche „Bildung und gesellschaftliche Entwicklung“, „Schulische Sozialisation“, „Soziologie der Schule“, „Bildung und soziale Ungleichheit“, „Mädchen und Frauen im Bildungswesen“ und „Soziologie der Hochschule“.
Starke fachliche Überschneidungen bestehen mit der Erziehungssoziologie und der pädagogischen Soziologie.[9]
Ungleichheit der Bildung besteht, wenn Kinder bestimmter Gesellschaftsschichten (z.B. Arbeiterkinder oder Migrantenkinder) durch soziale Barrieren und durch schichtspezifische Sprachentwicklung in der Entfaltung ihrer Bildungsmöglichkeiten behindert sind.[10]
Soziale Ungleichheit wird in der nach ihr benannten Fachrichtung der Soziologie, der Ungleichheitsforschung, untersucht. Dabei geht es um Ausprägungen, Ursachen und Folgen dieses Phänomens.
Unter sozialer Ungleichheit versteht man Unterschiede in den Lebensbedingungen und Lebenschancen von Menschen. Vor- und Nachteile können bei ungleichem Zugang zu allgemein verfügbaren und sozial erstrebenswerten Gütern und/oder sozialen Positionen entstehen. Durch ungleiche Machtverteilungen und Interaktionsmöglichkeiten sind Individuen, Gruppen oder Gesellschaften dauerhaft eingeschränkt oder bevorzugt.[11]
Unter Reproduktion versteht man in der Soziologie im Zusammenhang mit sozialen Systemen (soziale Reproduktion) neben der Neuerstellung auch die Aufrechterhaltung eines Zustandes (Reproduktion des Status quo in im Prinzip dynamischen Systemen).[12]
Soziale Reproduktion bezeichnet die Reproduktion sozialer Strukturen und Systeme, in der Regel auf der Grundlage bestimmter Voraussetzungen in Demographie, Bildung und der Vererbung materiellen Besitzes oder von Rechtstiteln (wie früher beim Adel). Reproduktion wird dabei als Aufrechterhaltung und Weiterführung bestehender Verhältnisse verstanden. Dabei wird der soziale Strukturwandel außer Acht gelassen. Voraussetzung jeder sozialen Reproduktion ist, dass in der sich möglicherweise reproduzierenden sozialen Klasse, sozialen Schicht oder auch nur Berufsgruppe (man denke z.B. an Artistenfamilien) eigene Kinder geboren werden. Ist die Kinderzahl kleiner als die Zahl der Eltern, entsteht allein dadurch schon soziale Mobilität.
Im Zusammenhang mit Bildung beschreibt Reproduktion, dass das Bildungssystem dazu beiträgt, bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. In der Bildungsforschung lassen sich grob zwei Richtungen differenzieren, die die Funktion von Bildung für zur für gesellschaftliche Veränderungen erklären. Während die Wandelthese besagt, dass durch das Bildungssystem in entscheidender Weise gesellschaftliche Ressourcen verteilt werden, sieht die Reproduktionsthese in der Bildung keine unabhängige Variable. Das Bildungssystem sei vollständig abhängig von der Gesellschaftsstruktur und seine Aufgabe bestehe lediglich darin, die bestehenden...