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E-Book

Franz Kafka

AutorKlaus Wagenbach
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783644496811
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Franz Kafka starb im Alter von nur vierzig Jahren als ein fast Unbekannter. Heute gilt er unbestritten als einer der bedeutendsten Dichter der Moderne. Er war ein Realist und ein Visionär gleichermaßen, und er schuf einzigartige Bilder unserer Zeit und Existenz. Mit Franz Kafkas Werk, schrieb treffend Albert Camus, werden wir «an die Grenzen des menschlichen Denkens versetzt». Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem Digitalbuch nicht enthalten.

Klaus Wagenbach, geboren 1930. Verlagslehre; Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Archäologie; 1957 Promotion; danach Lektor im S. Fischer Verlag. Gründete 1964 den Verlag Klaus Wagenbach. Er starb 2021 in Berlin.

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Leseprobe

Was lernt man in einem k.k. Staatsgymnasium?


Die Vereinsamung Kafkas, das rätselhafte Sichabschließen innerhalb einer Umgebung wie Prag, die «Anschlussmöglichkeiten» nach allen Seiten bot, wurde primär durch die pragmatische und abstrakte Erziehung verursacht. Das kann freilich nur bedingt als Vorwurf gegen das Elternhaus gewertet werden, denn gerade dieses Kind hätte ein Einfühlungsvermögen verlangt, für das nicht nur dem Vater Zeit und erzieherische Anlage fehlten, sondern für das auch die damalige Gesellschaft kein Verständnis besaß. Ein Musterbeispiel ist dafür das altösterreichische humanistische Gymnasium, dem der Zehnjährige überantwortet wurde. Kafkas Gymnasium war im Kinsky-Palais untergebracht, einem Barockbau am Altstädter Ring, wenige Schritte von der Wohnung der Familie entfernt. Kafkas Vater hatte diesmal zielbewusst gewählt: nicht nur wiederum eine deutsche Schule, sondern auch das humanistische Gymnasium, aus dem die Monarchie ihren Beamtenbedarf zu rekrutieren pflegte.

Die äußere Würde des Baues am Altstädter Ring war ein treffender Ausdruck des Geistes, der die Anstalt beherrschte. Jahrzehntealte k.k. Schulvorschriften machten einen Kontakt zwischen Lehrer und Schüler beinahe unmöglich, forderten Respekt und förderten einen sinnlosen Paukbetrieb, dem persönliche Interessen des Schülers gleichgültig waren. Die Anstalt pflegte am Jahresende einen gedruckten «Bericht» herauszugeben, und in einem dieser Berichte schreibt Kafkas Klassenordinarius Gschwind (den damaligen Maßstäben nach eher ein liberaler Pädagoge) vom vorgeschriebenen «Arbeitskalender, der für das ganze Jahr bestimmt ist», erläutert «Collectaneenhefte für grammatikalische Mustersätze» und erklärt am Schluss, dass dies sich natürlich besonders gegen Schüler richte, «welche die Kunst des Fabulierens von Hause aus mitbringen».

Karl Kraus formulierte einmal, etwas überspitzt: «Je größer das Assoziationsmaterial, desto geringer die Assoziationsfähigkeit. Mehr als das Gymnasium von jenem zuführt, braucht man nicht.»[24] Die Bildungsmaschine, durch die Kafka acht Jahre getrieben wurde, bot allerdings kaum das dürftigste Assoziationsmaterial: Fast die Hälfte der Unterrichtsstunden war den beiden klassischen Sprachen gewidmet; als Geschichte wurde im Wesentlichen nur die des Altertums behandelt, der Deutschunterricht bestand aus einem Lesebuchkursus von drei Wochenstunden. Moderne Fremdsprachen, Musik, Kunst oder Turnen waren keine obligaten Fächer. Noch zwanzig Jahre später verhöhnt Fritz Mauthner diese humanistische Glamourbildung, die er einst selbst genossen hatte: «Der Kardinalfehler scheint mir noch heute (1917) eine tiefe Verlogenheit des Systems, eine offenbare Kluft zwischen den Schulprogrammen und der Schulleistung. […] Im Schulprogramm […] hieß es immer, man werde durch das Studium des Lateinischen und des Griechischen in den Geist der antiken Welt eingeführt. Und auch moderne Bildung sei ohne diesen Geist nicht zu erwerben. […] In den antiken Geist dringen vielleicht die besten Philologen ein wenig während ihrer Universitätsjahre. Von uns Schülern – wir waren ungefähr vierzig in der Klasse – wurden nur drei oder vier so weit gefördert, dass sie mit knapper Not einen alten Klassiker silbengetreu übersetzen konnten; auch die schablonenhafte Begeisterung für Homer und für Sophokles fehlte bei diesen Auserwählten nicht; aber von einem Verständnis für die besondere Art, für die Unvergleichlichkeit und Unnachahmlichkeit, also auch für die Fremdheit des antiken Geistes, fehlte es durchaus. Und gar die anderen Schüler, neun Zehntel der Klasse, gingen mit gutem Erfolg durch das Abiturientenexamen und hatten doch in den alten Sprachen nie etwas anderes gesehen als Zuchtruten. Sie hatten von den alten Sprachen weder ein Vergnügen noch einen Nutzen und lernten ein paar Brocken nur, um sie gleich nach dem Examen wieder zu vergessen.»[25]

Auch Kafka ist der antike Geist fremd geblieben; höchst selten findet sich in seinen Tagebüchern und Briefen auch nur der Name eines antiken Autors. Die zwei Stunden täglich eingehämmerte griechische und lateinische Literatur war überwiegend Vorwand zur grammatikalischen Schnitzeljagd, und die Kulturgeschichte erschien, noch unberührt von Jacob Burckhardt, als ungetrübtes, ununterbrochenes Fest der Lebensfreude, getreu nach Schillers «Götter Griechenlands»: «Bessre Wesen, edlere Gestalten … heldenkühner, göttlicher die Tugend … Schöne lichte Bilder scherzten auch um die Notwendigkeit.»

Wie sollte ein unbefangener Schüler dieses gehäkelte Geschichtsbild mit den Ereignissen in seiner Umwelt vereinbaren? Nicht einmal der Vergleich gegenwärtiger sozialer und politischer Gegebenheiten mit denen einer vergangenen Zeit war möglich. Dies wurde allerdings zu einer der Voraussetzungen der «Kritik» Kafkas: Weil die Möglichkeit eines Vergleichs nicht bestand, hat er die Gesellschaft seiner Zeit zwar abstrakter, aber mit umso unerbittlicherer Schärfe gesehen.

Der Deutschunterricht war fast wertlos, er zielte ausschließlich auf ein zitierbares Kompendienwissen. So wurde beispielsweise nur nach ad usum Delphini zusammengestellten Lesebüchern gelehrt, Literatur in Auszügen für den Feierabend: Es dominierte das ästhetische Biedermeier und die heile Welt, mit heute vergessenen Autoren wie Halm, Gilm, Bodenstedt, Lingg, Greif, Baumbach – als einziges, allerdings recht tendenziös gefärbtes Positivum könnte das sehr breit angelegte Goethe-Bild gelten. Auf der vierten Seite dieser Lesebücher war jeweils ein «Kanon zu memorierender poetischer Stücke» verzeichnet, der zum Beispiel dem Schüler der fünften Klasse 470 Verszeilen vorschrieb. Die Verfasser dieser Vorlagen waren relativ gleichgültig – von Goethe bis Geibel –, Lyrik hatte nur den Zweck, vorweis- und prüfbar zu sein.

Der Religionsunterricht war zwar anders aufgebaut, führte aber zu ähnlichen Ergebnissen. Im Brief an den Vater schreibt Kafka von dem Nichts an Judentum, das ihm vermittelt worden sei:

Es war ja wirklich, soweit ich sehen konnte, ein Nichts, ein Spaß, nicht einmal ein Spaß. Du gingst an vier Tagen im Jahr in den Tempel, warst dort den Gleichgültigen zumindest näher als jenen, die es ernst nahmen, erledigtest geduldig die Gebete als Formalität, setztest mich manchmal dadurch in Erstaunen, daß Du mir im Gebet die Stelle zeigen konntest, die gerade rezitiert wurde, im übrigen durfte ich, wenn ich nur (das war die Hauptsache) im Tempel war, mich herumdrücken, wo ich wollte. Ich durchgähnte und durchduselte also dort die vielen Stunden (so gelangweilt habe ich mich später, glaube ich, nur noch in der Tanzstunde) und suchte mich möglichst an den paar kleinen Abwechslungen zu freuen, die es dort gab, etwa wenn die Bundeslade aufgemacht wurde, was mich immer an die Schießbuden erinnerte, wo auch, wenn man ins Schwarze traf, eine Kastentür sich aufmachte, nur daß dort aber immer etwas Interessantes herauskam und hier nur immer wieder die alten Puppen ohne Köpfe. […] Sonst aber wurde ich in meiner Langeweile nicht wesentlich gestört […].

So war es im Tempel, zu Hause war es womöglich noch ärmlicher und beschränkte sich auf den ersten Sederabend, der immer mehr zu einer Komödie mit Lachkrämpfen wurde. […] Auch darin lag noch genug Judentum, aber zum Weiter-überliefert-werden war es gegenüber dem Kind zu wenig, es vertropfte zur Gänze, während Du es weitergabst. […] Das Ganze ist ja keine vereinzelte Erscheinung, ähnlich verhielt es sich bei einen großen Teil dieser jüdischen Übergangsgeneration, welche vom verhältnismäßig noch frommen Land in die Städte auswanderte. […] Im Grund bestand der Dein Leben führende Glauben darin, daß Du an die unbedingte Richtigkeit der Meinungen einer bestimmten jüdischen Gesellschaftsklasse glaubtest.[26] (Dieser letzte Satz ist übrigens einer der wenigen, in denen Kafka von der Sucht seines Vaters nach gesellschaftlicher Anerkennung spricht, nur an einer anderen Stelle kurz zuvor heißt es noch deutlicher, dass er von religiösen Bedenken, wenn sie nicht mit gesellschaftlichen Bedenken sich sehr mischten, kaum erschüttert werden konnte[27].)

Das Glaubensmaterial, das Kafka überliefert wurde, war also denkbar gering. Schon die Bar-Mizwah im dreizehnten Lebensjahr, die der Vater assimilatorischer Sitte gemäß als «Confirmation» ankündigte, bedeutete Kafka nicht mehr als ein lächerliches Auswendiglernen[28], da er kaum Kenntnisse im Hebräischen hatte (erst über zwei Jahrzehnte später begann er ein gründlicheres Studium). Andererseits waren in seiner Klasse aber einige Schüler aus orthodoxen Familien, die von Hause aus Hebräisch beherrschten, und so mag es Kafka wie Fritz Mauthner gegangen sein: «Unser jüdischer Religionsunterricht bestand aus zwei unzusammengehörigen Hälften: aus der moralisierenden Religionslehre, die für die Dümmsten unter uns zu dumm war, und aus einem Praktikum der semitischen Philologie, das manchem gelehrten Orientalisten noch Nüsse aufzuknacken gegeben hätte.»[29] Später äußert Kafka über den biblischen Unterricht in der Schule: Die Geschichte der Juden bekommt so das Gesicht des Märchens, das der Mensch später mit seiner Kindheit in den Schlund des Vergessens wirft.[30]

In den letzten Gymnasialjahren wurde Kafkas Ablehnung alles Religiösen noch stärker: Ich habe in der Erinnerung, daß ich in den Gymnasialzeiten öfters […] mit Bergmann [einem Mitschüler] in einer entweder innerlich vorgefundenen...

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