Im Jahre 1960, dem sogenannten „afrikanischen Jahr“, wurden siebzehn Staaten Afrikas aus der Taufe gehoben. In den nächsten Jahren sollte auch die Mehrzahl der britischen Kolonien in Afrika in die politische Unabhängigkeit entlassen werden. Der ehemalige britische Premierminister Clement Attlee sagte damals:
There have been many great Empires in the history of the world that have risen, flourished for a time, and then fallen. [...] There is only one Empire where, without external pressure or weariness at the burden of governing, the ruling people has voluntarily surrendered its hegemony over subject peoples and has given them their freedom. […] This unique example is the British Empire.[1]
Der hier beschworene Mythos vom friedlichen Ende des Empire bzw. seiner Überführung in das Commonwealth wird besonders durch eine Reihe kolonialer Konflikte der späten 1940er und 1950er Jahre getrübt. Der Dschungelkrieg gegen kommunistische Rebellen in Malaya (1948 – 1955), der Kampf gegen die zypriotische Unabhängigkeitsbewegung (1954 – 1959) und die Niederschlagung des Mau Mau-Aufstandes in Kenia (1952 – 1959) sind nur die bedeutendsten jener Krisen innerhalb des britischen Kolonielreichs, die statt des aseptischen offiziellen Begriffs „Emergency“ viel eher die Bezeichnung „Kolonialkriege“ verdienten.[2] Sie zeugen davon, dass Großbritannien in den 1950er Jahren keineswegs bereit war, irgend eines dieser kolonialen Völker in die „Freiheit“ zu entlassen. Der blutigste jener Konflikte, der Mau Mau-Aufstand in Kenia, genauer seine Wahrnehmung durch einen Teil der britischen Presse steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.
In der Forschung hat sich für den Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg der Dachbegriff „Dekolonisation“ durchgesetzt. Beginnend mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 bis zur Übergabe von Hongkong an die Volksrepublik China im Jahre 1999 wird die britische Dekolonisation als ein Prozess betrachtet, dessen scheinbare Zwangsläufigkeit sich im wesentlichen daraus ergibt, dass er historisch ist. Der Mau Mau-Aufstand ist im weitesten Sinne ein Element dieses Prozesses. Dennoch wurde er in der Zeit selbst nicht als solches gesehen. Der Gegensatz zwischen retrospektiver Sinnstiftung und der Wahrnehmung historischer Ereignisse in der Zeit selbst, ist gerade im Hinblick auf das Thema Dekolonisation offensichtlich. Nichts lag beispielsweise den politischen Eliten in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg ferner als der Gedanke, die afrikanischen Kolonien innerhalb von weniger als 20 Jahren in die Unabhängigkeit zu entlassen. Stattdessen wollte man das afrikanische Kolonialreich vor allem wirtschaftlich „entwickeln“ und enger an das Mutterland binden.[3] Koloniale Experten und Administratoren waren davon überzeugt, dass besonders afrikanische Völker zur Selbstregierung noch längst nicht in der Lage wären. Im Jahre 1954 schrieb Sir Philip Mitchell, von 1944 bis 1952 Gouverneur Kenias, mit Blick auf die britischen Kolonien im östlichen und südlichen Afrika:
It is common ground that the great mass of the people of this region are still in a state of ignorance and backwardness, uncivilized, superstitious, economically weak to the point of near helplessness and quite unable to construct a civilized future for themselves up their own bootstraps.[4]
Mitchell und andere sprachen von einer Zeitspanne von 50 bis 250 Jahren in der afrikanische Völker unter mehr oder minder strenger Kontrolle der Kolonialmacht bleiben müssten.[5]
Der Mau Mau-Aufstand stellt sich als gewaltsamer Einbruch in die kolonialen Blütenträume der Nachkriegszeit dar. In Kenia, seit Beginn des 20. Jahrhunderts britische Kolonie, hatte sich in den 1940er und 1950er Jahren eine Unmenge sozialen, politischen und ökonomischen Sprengstoffs angesammelt. Die politische und ökonomische Dominanz einer zahlenmäßig relativ geringen europäischen Siedlergemeinschaft stellte eines der Grundprobleme dar. Ein großer Teil der etwa 30 000 meist britischen Siedler lebte in den sogenannten White Highlands, einem 30 000 qkm großen Areal in Zentralkenia, in dem Afrikaner kein Land besitzen durften. Ihre unmittelbaren afrikanischen Nachbarn, die Kikuyu, waren mit über einer Million die größte Ethnie Kenias. Sie lebten in übervölkerten Eingeborenenreservaten, in den afrikanischen Wohnvierteln der Hauptstadt Nairobi oder als Squatter (Pächter ohne Landrechte), in den White Highlands. Die europäische Landwirtschaft boomte, während die afrikanische stagnierte. In den Städten führten niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot unter anderem zu einem rasanten Anstieg der Kriminalität. Auffangbecken für die politischen Aspirationen der Kikuyu und anderer Ethnien Kenias war zunächst die Kenya African Union (KAU). Trotz ihrer 100 000 Mitglieder besaß diese Partei auf nationaler Ebene keinerlei Mitspracherecht und wurde von weißen Siedlern misstrauisch bis feindselig beäugt. Ab Ende der 1940er Jahre schlossen sich radikale Mitglieder und Funktionäre der KAU und der Gewerkschaften sowie bisher nicht politisierte Teile der Kikuyu (in geringerem Maße auch Angehörige anderer Ethnien wie der Meru oder Embu) in einem Geheimbund zusammen. Ausdruck und Motor des Zusammenschlusses war die Ablegung eines Eides unter Berufung auf traditionelle Riten der Kikuyu. Mit Beginn der 1950er Jahre vergrößerte sich diese „Eidgenossenschaft“ sprunghaft und veränderte ihren Charakter. Aus dem ursprünglichen Eid der Einheit wurde ein Eid, der ganz bewusst den Kampf gegen die Kolonialmacht und ihre afrikanischen Verbündeten unter Anwendung von Gewalt forderte. Die Bewegung erhielt von den Kolonialbehörden den Namen „Mau Mau“, ein Begriff, dessen Herkunft rätselhaft ist. Mau Mau wurde 1950 verboten, wuchs aber dennoch weiter.[6] Im Jahre 1952 häuften sich Anschläge auf Kikuyu, insbesondere auf „Loyalisten“, d.h. solche die offen mit der Kolonialmacht zusammenarbeiteten. Polizisten wurden ermordet, weiße Siedler mit dem Tode bedroht und ihre Viehbestände verstümmelt. Die Regierung reagierte mit der Erklärung des Notstandes am 20. Oktober 1952. Zum Ende des Jahres 1952 hin eskalierte die Situation nicht zuletzt aufgrund der repressiven Politik der Regierung gegen die Kikuyu. Bald tobte in Kenia ein Kolonialkrieg, der über mehrere Jahre hinweg mehr als 10 000 Todesopfer forderte. Eine Krise diesen Ausmaßes musste auch in der kolonialen Metropole für Aufsehen sorgen. Anhand der zwei auflagenstärksten britischen Zeitungen der Zeit, des Daily Mirror und des Daily Express, soll zumindest ein Teil der öffentlichen Reaktion in Großbritannien auf die Geschehnisse in Kenia analysiert werden. Dabei steht zum einen die Art und Weise der Wahrnehmung des Mau Mau-Aufstandes im Großbritannien der frühen 1950er Jahre an sich im Mittelpunkt, zum anderen versteht sich die Arbeit jedoch auch als eine Annäherung an das Problem Dekolonisation und öffentliche Meinung.
In der Forschung werden als wesentliche Triebkräfte der Dekolonisation erstens die Vorgänge in den Kolonien selbst, zweitens die Entwicklungen in der kolonialen Metropole und drittens die globalen Zusammenhänge angesehen.[7] Die vorliegende Arbeit untersucht im Sinne der Annäherung an das Problem öffentliche Meinung und Dekolonisation die Wechselwirkung zwischen den beiden erstgenannten Punkten. Zentral ist nicht nur die Frage, wie die Ereignisse in den Kolonien, in diesem Fall in Kenia, in der kolonialen Metropole wahrgenommen wurden, sondern auch ob und in welchem Maße die Art und Weise der Wahrnehmung die Handlungen der politischen Entscheidungsträger beeinflusste. Nicht zuletzt aufgrund des schwammigen Begriffs „öffentliche Meinung“ bzw. public opinion sind allgemeingültige Aussagen darüber, wie die britische Öffentlichkeit den Zusammenbruch des British Empire wahrnahm, nicht möglich. Eine Reihe von Untersuchungen über die Haltung der politischen Eliten, Parteien und Interessengruppen existieren bereits.[8] In Bezug auf die breite Öffentlichkeit hingegen fehlt es an verlässlichen Aussagen. Die Bandbreite der Hypothesen reicht von der angeblich kompletten Gleichgültigkeit der britischen Öffentlichkeit gegenüber kolonialen Fragen bis zu der Annahme, dass ein grundlegender und umfassender Wandel innerhalb der britischen Gesellschaft bezüglich der Sicht auf das Empire der Dekolonisation den Weg bereitete.[9]
Das politische System in Großbritannien wurde durch die Vorgänge in den Kolonien bzw. ihre Wahrnehmung in der kolonialen Metropole zu keinem Zeitpunkt grundlegend erschüttert. Zu politischen Krisen wie dem Zusammenbruch der Vierten Republik in Frankreich im Gefolge des Algerienkrieges findet sich in Großbritannien keine Parallele. Auch bei Parlamentswahlen spielten koloniale Sachverhalte so gut wie nie eine Rolle. Bedeutet das tatsächlich, dass das Empire der Spielplatz einer kleinen sachverständigen Minderheit von Kolonialexperten war, seien sie Akteure auf der politischen oder auf der publizistischen gewesen, die sich allenfalls in Ausnahmefällen an die breite Öffentlichkeit wandten und dann vielleicht sogar auf unverhohlene Gleichgültigkeit stießen?[10]
Im Laufe der Arbeit wird sich zeigen, dass zumindest die...