2. Wenn Du im Herzen Frieden hast, wird Dir die Hütte zum Palast
Der Umzug
Im Oktober 1945 – gerade noch rechtzeitig zu Beginn der gefürchteten kalten Jahreszeit – wurde uns mitgeteilt, wir könnten endlich umziehen in die Baracke am Logeweg. Dort sammelte man die Ostpreußen, die mit uns zusammen nach Harpstedt gekommen waren, aber auch einige uns gänzlich fremde Flüchtlinge waren dort untergebracht, zum Teil aus Schlesien oder anderen Ostgebieten.
Also wurde noch einmal unser Fluchtwagen aus der Remise gezogen, noch einmal wurden die beiden Pferde, die ja bei Wittgräfes arbeiteten und die das Wagenziehen gewöhnt waren, vorgespannt, noch einmal wurden die wenigen Habseligkeiten, die wir aus Ostpreußen mitgebracht hatten, aufgeladen (die Möbel des Roten Kreuzes blieben in der Funkerbaracke zurück, man hatte uns gesagt, die neue Wohnung in der großen Baracke sei möbliert), ein paar Säcke mit Kartoffeln und Holz kamen dazu und auch einer mit Steckrüben. Noch einmal versammelte sich die ganze Familie auf dem Wagen wie auf der Flucht. Nur Olla fehlte. Herr Wulferding saß neben Mutti auf dem Kutschbock und hielt die Zügel. Ein Stück weit knirschten die eisenbeschlagenen Räder durch den Weg zwischen den Gärten, es ging vorbei am Hof der Wittgräfes. Die ganze Familie stand draußen, um den Auszug mitzuerleben.
„Wir sagen gar nicht groß auf Wiedersehen“, rief ihnen Mutti im Vorbeifahren zu, „wir kommen ja oft wieder, die Kinder zum Spielen, ich zum Arbeiten.“
„Dennoch: Wir wünschen euch viel Glück in der neuen Bleibe – und wenn euch etwas fehlt, kommt einfach zu uns, vielleicht können wir ja helfen.“
„Danke, danke für alles, was ihr für uns getan habt und auch für die guten Wünsche.“
Im Sommer 2006 hatte unsere Tochter Katja ein Familientreffen organisiert – es fand diesmal nicht in Bremen statt, sondern in Dünsen, in „unserem“ Hotel Waldfrieden, neben dem wir nach unserem Auszug aus Harpstedt einige Jahre gewohnt hatten, bevor wir nach Bremen gezogen waren. Meine Frau Hella und ich hatten dort im Hotel schlafen wollen, aber man hatte Irmgard, die für uns telefonierte, gesagt, es sei kein Zimmer frei, und so hatte sie uns eine Übernachtung in Harpstedt in der renovierten Wasserburg gebucht.
(21) Die Wassermühle nach dem Bombenangriff
(22) Hotel und Gasthof „Wasserburg“ heute
Von dort aus lief ich abends allein durch den Flecken und kam auch beim Hof Wulferding vorbei, besah mir die Stallungen etc. und ging dann zu dem Seiteneingang, an dem ich eine Klingel sah. Es stand tatsächlich noch „Wulferding“ auf dem Klingelschild - und so nahm ich mir denn ein Herz und drückte auf den Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, dann ging Licht an und die Tür wurde geöffnet. Ein Mann um die sechzig, bekleidet mit einem grünen Overall, öffnete mir die Tür. Ich stellte mich vor: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich hier so einfach klingele, aber wir haben hier nach dem Krieg einige Zeit gewohnt. Mein Name ist Klein, Horst Klein.“ Er bat mich freundlichst herein, wir gingen durch einen Flur, in dem es sehr streng nach Schwein roch, und dann öffnete er die Tür zu dem Wohnzimmer. Der Fernseher lief, in der Ecke saß eine deutlich sichtbar kranke Frau in einem Sessel, die Füße hochgelegt, kaum Haare auf dem Kopf. Mir wurde ein Stuhl angeboten, er aß zu Ende (ich hatte ihn beim Abendessen gestört), schob den Teller weg und dann plauschten wir eine gute Viertelstunde. Es war Heinz Wulferding, der kleine „Heinzi“, wie wir ihn alle genannt hatten. Knapp zwei Jahre war er alt gewesen, als wir nach Harpstedt kamen… Wir frischten Vergangenheit auf, mit der Wesner-Tochter habe er jahrelang gespielt, an unsere goldbraune kräftige Stute, den „Litauer“, erinnerte er sich gut. Man erkannte sie vor allem an der langen Narbe am Hals, die ihr beim Versuch, sie von der Weide zu stehlen, von einem der Diebe beigebracht worden war. Er war sehr an unserer Familie interessiert, was denn aus allen geworden sei, wollte er wissen. Ich machte mehrfach Anstalten zu gehen, weil ich wusste, dass Hella wartete, weil wir natürlich gemeinsam zu Abend essen wollten, aber er drängte mich mit einer solchen Herzlichkeit, dass ich sitzen blieb.
Ja, seine beiden Schwestern, Wendel und Annemarie, wohnten ganz in der Nähe, die Mutter sei natürlich schon tot. Er betreibe nun allein den Hof, habe die allgemeine Bauernwirtschaft weitgehend aufgegeben und züchte Ferkel – er zeigte mir stolz die Zuchtsauen und die etwa vierzig Ferkel, die auf der Diele hinter Strohballen untergebracht waren und den oben angedeuteten Duft im ganzen Haus verbreiteten. Nein, reich werden könne man damit nicht – die Ausstattung des Hauses bewies das – aber man könne davon leben. Ihre Ansprüche seien bescheiden und sie seien zufrieden. Ich erzählte ihm von der Familienchronik, die ich im letzten Jahr abgeschlossen hatte und erwähnte auch, dass ich dort einen Dank an Wittgräfe/Wulferding formuliert habe, den ich ja jetzt doch noch direkt und mündlich überbringen könne, wenn auch leider nicht mehr an unsere damaligen Wohltäter…
Als ich in die Wasserburg zurückkam, schaute Hella mich ein wenig vorwurfsvoll fragend an, war dann aber ganz verständnisvoll, als ich ihr von meinem Gespräch mit „Heinzi“ erzählte. Sie hatte es sich mit einem Gläschen Sekt gut gehen lassen – und wir bestellten dann ein Abendessen.
Am nächsten Morgen besuchte ich die Harpstedter Kirche, fand im Eingang auch den Namen unseres Vaters als Gefallenen der Gemeinde, dann besuchten wir eine Reihe alter Plätze in den Wäldern um Harpstedt und Dünsen und Ippener, wo wir – die Kleins - Bombensplitter gesammelt und Hunderte von Stunden beim Blaubeerpflücken verbracht hatten…Nostalgie pur.
(23) a. Der Wulferding-Hof; Seitenansicht mit Eingang,
b. Stallungen und Nebengebäude: Hier war der Luftschutzkeller untergebracht
Der Wagen bog in die Mullstraße ein, die Räder polterten nun über das Kopfsteinpflaster wie vor einem halben Jahr, als wir hier in umgekehrter Richtung unterwegs gewesen waren. Durch die Lange Straße führte nun der Weg, vorbei an den schon wieder kahlen Linden auf dem Marktplatz vor der Kirche. „Wisst Ihr noch…“, fragte Mutti, „wie verzweifelt wir waren, damals…“ Oh ja, alle erinnerten sich gut, sechs Monate sind keine Zeit, um so ein Erlebnis zu vergessen.
Am Ende der Langen Straße ging es am Trafo-Haus nach links weiter in die Schulstraße, vorbei an dem hohen Schornstein und an der Sägerei Gröper. Hier lenkte Herr Wulferding den Wagen nach links über eine große leere Fläche, die zum Teil mit schwarzem Schotter bedeckt war, zum Teil aus Grasland bestand. Am Rande dieser kahlen Fläche standen zwei lange, braune, zweistöckige Baracken – unsere Bleibe für die nächsten sieben Jahre.
Die Baracken lagen am südlichen Rand von Harpstedt, ganz dicht bei der RAD-Baracke, die demnächst die Schule beherbergen sollte. Gegenüber gab es noch einen Bauernhof der Familie Horstmann, ansonsten dehnten sich hinter der Baracke die Felder bis hin zum Schwarzen Berg, der wilden Müllkippe des Ortes. Ringsherum gab es Bauernland, ein Stück weiter Wiesen, Wiesen, die bis an die Delme reichten.
Die Nazi-Organisation Todt hatte die beiden Baracken 1943 erbaut, und zwar als Ausweichquartier für die Harpstedter, die nach dem halbstündigen Bombardement am 21. Februar 1943 ihre zerstörten Häuser nicht mehr bewohnen konnten. Sie wurden von diesen Ausgebombten jedoch nur kurz benutzt: Trotz des kriegsbedingten Materialmangels gelang es ihnen sehr schnell, ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen. Nach unserem Einzug wohnten nur noch die Harpstedter Familien Witte und Windels dort. Vorübergehend benutzen dann Ausgebombte aus dem Ruhrgebiet diese Notunterkünfte. Als sie nach Kriegsende eine Wohnung nach der anderen räumten und in ihre Heimatstädte zurückkehrten, wurden dort Flüchtlinge aus Schlesien und wir Ostpreußen eingewiesen.
Da Mutti nicht wusste, wo wir untergebracht werden sollten, lenkte Herr Wulferding unseren Wagen zwischen die beiden Gebäude und hielt neben dem Löschteich. Ein Angestellter der Gemeindeverwaltung, der auf uns gewartet hatte, kam an den Wagen heran.
„Sie sind die Familie Klein?“
„Ja, wir wollen hier einziehen.“
„Kommen Sie,...