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Jugend in Wien

Arthur Schnitzlers Gedenkausgabe

AutorArthur Schnitzler
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl390 Seiten
ISBN9783849635572
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
'Jugend in Wien' ist die Autobiografie des größten österreichischen Schriftstellers der Wiener Morderne. Schnitzler erzählt sein Leben von seiner Geburt im Mai 1862 bis hinein in den Juni 1889.

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Leseprobe

Zweites Buch - Mai 1875 bis Juli 1879


 


 

Man stelle sich einen Menschen vor, der unversehens in eine Maskenleihanstalt geriete: ringsherum an den Wänden, in offenen Schränken, auf Kleiderstöcken hängen Gewänder mit schlappen Ärmeln, Mäntel ohne Inhalt; papierene Larven starren mit leeren Augen und zwischen den offenen, rotgeschminkten Lippen gähnen Löcher; es ist eine bunt phantastische, aber tote Welt. Allmälig jedoch regt sich ein oder der andere Ärmel, der eben erst nichts zu enthalten schien als Luft, fingernde Hände strecken sich entgegen, ein Mantel bläht sich, wie wenn eine atmende Brust ihn schwellte, aus der leeren Augenöffnung einer Larve schimmert ein Blick, die Lippen beginnen zu lächeln oder zu grinsen, und was bisher hohle Gewandung oder bemalter Pappendeckel schien, erweist sich als atmend, schauend und bewegt. Es wäre das seltsamste Abenteuer, und doch ist es vergleichsweise nichts anderes als was ahnungsvoll und gefaßt der Knabe erlebt, wenn ihm hinter den Worten, soweit sie etwas Begriffliches bezeichnen, hinter Worten, die er hundertmal gehört, gelesen, ausgesprochen, niedergeschrieben und zu verstehen geglaubt hat, zum erstenmal ihr eigentlicher Sinn aufzuglänzen beginnt. Nicht mehr zwischen Larven und Gewändern wandelt er dumpf einher, das Leben selbst dringt und funkelt auf ihn ein; und auch, wo es sich noch nicht kundgetan, ist er der wundersamsten Überraschung in jedem Augenblick gewärtig.

 

Wie zum erstenmal in einer schlaflosen Nachtstunde das Wort Tod aus seiner Buchstabenstarrheit für mich erwachte, habe ich eben erzählt; nicht viel später, wie leicht zu denken, sollte mir mit dem Wort Liebe das gleiche begegnen.

 

Uns gegenüber, ein Stockwerk höher als wir, auf der anderen Seite der Eschenbachgasse, die zwischen Opern- und Burgring mündet, wohnte im Jahre 1875 ein Kaufmann oder Börsianer mit Frau, vier oder fünf Söhnen und einer einzigen Tochter. So war man einander von Angesicht zu Angesicht schon lang nicht mehr fremd, als eines frühen Sommertags die förmliche Vorstellung erfolgte, im Volksgarten, wo Fanny mit ihrem jüngsten Bruder, dem dreijährigen Fritz, und ich mit »Fräulein«, Geschwistern, Schulkollegen zu lustwandeln pflegten. Schon in unserer ersten Unterhaltung ergab es sich, daß wir beide kurz vorher, und zwar am gleichen Tag, dem 15. Mai, unseren dreizehnten Geburtstag gefeiert hatten; und diesem Schicksalszeichen gehorsam, beschlossen wir, uns unverzüglich ineinander zu verlieben. Spaziergänge in den grünenden Alleen des Volksgartens, Versicherungen gegenseitiger Zuneigung, Händedrücke, Blicke und andere Verständigungszeichen von Fenster zu Fenster, auch naivster Art – so stellte ich mich einmal auf einen Stuhl, um der Angebeteten meine ersten langen Beinkleider vorzuweisen – das waren die unschuldigen Äußerungen unserer Seelenregungen; – aber so harmlos die Beziehung sich auch anließ und weiterspann, die Eltern hüben und drüben zeigten sich höchst ungehalten; und einmal trat ich gerade ins Zimmer, als die meinen sich über die Notwendigkeit besprachen, sich mit denen Fannys ins Einvernehmen zu setzen, damit insbesondere der skandalösen Fenstertelegraphie ein Ende gemacht werde, die wir unter Verwendung von Fensterpolstern und brennenden Kerzen zu hoher Vollendung ausgebildet hatten. Aber es bedurfte gar keiner besonderen Maßregeln; schon im Herbst desselben Jahres zogen unsere Nachbarn aus; und da weder meiner Liebsten noch mir viel Freiheit vergönnt war, blieb mir nichts übrig, als manchmal nach der Schule in der Nähe ihrer neuen Wohnung auf der Wieden, einen glücklichen Zufall erhoffend, umherzustreifen. Er wollte sich nicht einstellen; erst als das Frühjahr wiederkam, traf ich an schönen Abenden ziemlich regelmäßig im Volksgarten mit Fännchen zusammen, wenn ich nicht gezwungen war, an den ärztlichen Landfahrten meines Vaters teilzunehmen, die mich nun immer mehr in Verzweiflung brachten. Briefe wurden gewechselt, es gab Liebesversicherungen und Liebeszwiste; und da Freunden und Freundinnen, Vertrauten und Mißgünstigen die üblichen Nebenrollen zugeteilt waren, mangelte es auch nicht an Zwischenträgereien, Eifersüchteleien mit nachfolgender Versöhnung; kurz, es war die echte und rechte Jugendliebe, wie man sie sich als vierzehnjähriger Gymnasiast und gar als Dichter schuldig zu sein glaubte, nur daß ihr leider das Beste fehlte, wovon ein zu dieser Zeit verfaßtes, sauersüßes Gedicht, das mit den Worten anhebt: »Kein einz'ges kleines Küßchen noch von ihrem rosigen Munde« ... ein ziemlich beschämendes Zeugnis ablegt. Die kleinen Herren und Fräulein, die sich damals in unserer Gesellschaft herumtummelten, einzeln und paarweise, sind fast alle mit geringer Kunst, aber ziemlich getreu, in den Entwürfen und Fragmenten aus dieser Zeit abkonterfeit: in dem komischen Heldengedicht »Die Meyeriade« und in einem humoristischen Roman »Akademische Herzen«. Folge ich in dem ersteren den Spuren des Jobsiadedichters Kortum, so sind in dem Roman Einflüsse des liebenswürdigen und erfindungsreichen Hackländer und des um so viel platteren Winterfeld nicht zu verkennen. Das Heitere und Spaßhafte ist an einzelnen Stellen ganz leidlich gelungen, wenigstens dort, wo ich mich innerhalb realistischer Nachschilderung zu halten wußte; und die in der Schule oder im Volksgarten spielenden Szenen verraten überdies eine in solchen Jahren nicht häufige Selbstironie, die freilich, wie es meist der Fall ist, durch Sympathie für die eigene Person erheblich gemildert erscheint. Stumpfer wird der Witz und etwas läppisch die Erfindung, wo der Versuch gewagt wird, Universitätsstudenten oder gar ältere Herren, Balletttänzerinnen und dämonische Baroninnen in satirischer, sentimentaler oder frivoler Beleuchtung vorzuführen.

 

Auch in anderen Versuchen aus diesen Jahren tritt, ebenso wie manche andere Figuren aus dem bekannten Kreis, das interessante Liebespaar Arthur-Fanny immer wieder auf, wobei nichts weiter an die Wirklichkeit gemahnt, als die beibehaltenen echten Vornamen. Eine alberne Posse, »Fastnachtsgeschichten«, eine andere, nicht viel klügere, »O, welche Lust, zu reisen!« und ein dreiaktiges Lustspiel, in dem die Kotzebue'sche Technik stellenweise nicht ungeschickt nachgeahmt wird: »Die feindlichen Hoteliers« (1878), mögen für diese naivste Abart der Schlüsseldichtung als Beispiele gelten. Die meisten meiner Volksgartengenossen und -genossinnen, wie sie in jenen Schreibereien – vor allem in dem Romanfragment – eigentlich Lebendiger aufbewahrt sind als in meiner Erinnerung, was sogar für Fännchen selbst gilt – entschwanden in der kalten Jahreszeit meinen Augen, um mit dem Erwachen der Natur, unter der erneuten Möglichkeit des Lustwandelns im Freien, wieder emporzutauchen; nur einer, Jacques Pichler, der in der »Meyeriade« und in den »Akademischen Herzen« unter dem Decknamen »Steile« auftritt, ein gutmütig-harmloser, sich wienerisch fesch gebärdender Junge, der sich das Studium wenig anfechten ließ, blieb mir auch in den Wintermonaten nah, war mir eine Zeitlang als Billardkumpan willkommen, konnte sich aber später, als Vertrauter überflüssig geworden, weder bei mir noch sonst in meinem intimeren Kreise behaupten. Auf die Universität gelangte er mit beträchtlicher Verspätung, eine noch erheblichere gab es bis zur Erreichung des medizinischen Doktorgrades; seinen Beruf übte er zuerst im Militärverband aus, um endlich als Zahnarzt ins Zivil überzutreten.

 

Auch einiger anderer Figuren will ich hier flüchtig gedenken, zweier vor allem, die sich nicht nur durch ihr Glück bei Damen aller Art hervortaten, sowohl bei Backfischen als bei Dirnchen, sondern auch durch ihre Neigung, von ihren Erfolgen zu reden – des fröhlich-trivialen Handelsakademikers Emil Weichsel und des ernster angelegten Realschülers Krisar; – und eines dritten, den wir, allerdings nur hinter seinem Rücken, das »Nelkenvieh« nannten und der den blumigen Teil dieses Kosenamens seinem ständigen Knopflochschmuck, den minder zarten aber dem Umstand verdankte, daß er es wagte, meiner Angebeteten den Hof zu machen. Er war nicht mein einziger und keineswegs der gefährlichste Rivale: Josef Kranz, der spätere Advokat und Finanzier, brachte Fännchen seine Huldigungen in Gedichten dar, die mir viel besser erschienen als die meinen und es vielleicht auch waren. Ein paar Jahrzehnte später, als wir über jene längst verflossenen Zeiten sprachen, bedauerte er nicht nur in meinem, sondern auch in seinem Namen, daß wir »damals« noch nicht erwachsener und gewandter waren.

 

Vertrauter als mit den bisher Genannten verkehrte ich mit zwei Schulkameraden, die, beide um einige Jahre mir im Alter voraus, infolge ihres geringen Lerneifers, ihrer inneren Unstetheit und mancher unverschuldeten Umstände genötigt waren, ihre Gymnasiallaufbahn vorzeitig abzubrechen. Der eine, Moritz Wechsel, stammte aus einer armen Judenfamilie, die aus Amerika eingewandert war; und so durfte er sich der Aufgabe unterfangen, mich und meinen Bruder in den Anfangsgründen der englischen Sprache zu unterweisen. Doch bald wurden die Lektionen, in die mein Vater aus Güte für mich und aus Mitleid mit dem armen Schulkollegen gewilligt hatte, als unfruchtbar erkannt und daher abgebrochen; – nicht so unser freundschaftlicher Verkehr, den ich um so weniger missen wollte, als Moritz nicht nur an meiner Herzensgeschichte, sondern auch ernsthafter als irgend jemand zuvor an meinen dichterischen Bestrebungen Anteil nahm, mit denen er sich...

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