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Religion - Identität - Bildung

Ein Konzept religiöser Selbstbildung

AutorJürgen Schönwitz
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl338 Seiten
ISBN9783451346613
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis37,99 EUR
Im Bereich Erwachsenenbildung gehören die Kirchen zu den größten Anbietern in Deutschland. Sie stehen daher beständig vor der Herausforderung, ihre Angebote methodisch, didaktisch und inhaltlich den heutigen Anforderungen anzupassen. Die vorliegende Arbeit richtet ihr besonderes Augenmerk auf den mündigen Teilnehmer. Sie versucht von ihm her die Frage zu beantworten, wie sich religiöse Bildungsprozesse praktisch umsetzen lassen.

Jürgen Schönwitz, Dr. phil., Dr. theol., geb. 1954, ist Bibelreferent derHannoverschen Landeskirche und freiberuflicher Erwachsenenbildner.

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Leseprobe

1.2 Stand der Forschung


Wenn sich auch für die 50er- bis 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine gewisse Randständigkeit der Erwachsenenbildung im Ganzen der Theologie konstatieren lässt14, so hat doch die Frage nach dem genuinen Ort kirchlicher Erwachsenenbildung innerhalb der Praktischen Theologie sowie die Erarbeitung ihres theoretischen und praktischen Propriums seit den 80er-Jahren unübersehbar an Bedeutung gewonnen.15 Dabei stellt die Frage, was religiöse Selbstbildung im Kontext kirchlicher Erwachsenenbildung konstituiert und legitimiert, gewissermaßen ein eigenes Feld dar.

Die vorliegende Untersuchung möchte in den Diskurs um diese Frage eintreten und hierzu einen Beitrag leisten, der sich ebenso inspiriert weiß wie kritisch herausgefordert sieht durch die dort kommunizierten Erkenntnisse, Fragestellungen und Impulse. Darum soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, auf der einen Seite die großen Linien der jeweiligen Untersuchung aufzuzeigen, auf der anderen Seite aber darin speziell den Faden aufzunehmen, der in besonderer Weise auf die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung hinführt und zu ihrer Beantwortung beiträgt. Dass die hier vorgenommene Auswahl nicht dem Anspruch auf Vollständigkeit genügen kann, sei nur am Rande bemerkt.16 Gleichwohl sollte sie eine fundierte Einführung in den gegenwärtigen Stand der Forschung leisten können.

Nicht zufällig steht am Anfang der Betrachtung Henning Luther. Seine Bedeutung für die Wahrnehmung und Verortung der Erwachsenenbildung im Kontext der Praktischen Theologie kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nach seiner Definition stellt Erwachsenenbildung »eine Wiederholung des Gesamtspektrums der Praktischen Theologie unter den spezifischen Aspekten ›Bildung‹ und ›Erwachsener‹« dar. Sie ist damit »nicht ein Bereich kirchlichen Handelns und praktisch theologischer Theorie neben anderen, sondern eine zentrale Perspektive, unter der Praktische Theologie kirchlichgemeindliche Praxis zu erfassen sucht«.17 Ist damit der Erwachsenenbildung die Rolle als »integratives Moment der Praktischen Theologie«18 zugewiesen, dann beantwortet Luther die Frage nach ihrem Subjekt in einer Weise, dass es darin zu einem grundlegenden Objekt-Subjekt-Wechsel kommt.

Deutlich wird dies an der sog. Laienfrage: Der Laie kann nicht länger das Objekt kirchlicher Handlungen sein, sondern »kirchliche Praxis (ist) insgesamt vom Laien her zu rekonstruieren«.19 Indem so die »Laienperspektive« in die Praktische Theologie eingebracht wird, wird zugleich eine Aussage über die Religion selbst getroffen: Sie besteht nicht länger »in der bloßen Übernahme offizieller, dogmatisch fixierter Lehre«, sondern muss verstanden werden als »subjektiver Akt der selbständigen Auslegung von und auch kritischen Auseinandersetzung mit den Deutungsangeboten der Religion«. Damit verändert sich auch die »Aufgabe der Praktischen Theologie. Sie kann sich dann nicht mehr darauf beschränken, zu fragen, wie feststehende, zuvor in den anderen theologischen Disziplinen ermittelte Inhalte an bestimmte Adressaten zu vermitteln seien. Sie hat dann vielmehr davon auszugehen, dass die einzelnen Subjekte nicht (nur) Empfänger theologischer Lehre sind, sondern selbständige und kreative Produzenten religiösen Denkens.«20

Auch wenn Luther noch eher verhalten von einer »subjekttheoretischen Wende in der Praktischen Theologie«21 spricht, so ist doch die Nähe zu jenen Konzepten der reflexiven Wende in der Erwachsenenbildung unübersehbar, in denen die »Hinwendung zum Teilnehmer« in Gestalt subjektorientierter Konzepte vollzogen wird.22 Begriffe wie Lebenswelt, Alltag und Biographie und Bildung werden von ihm nicht nur in den praktisch-theologischen Kontext gestellt, sondern dort auch zum Ausgangspunkt praktisch-theologischer Reflexion über den Menschen als Subjekt der Religion gemacht.

Spätestens hier zeigt sich, worin die über die Praktische Theologie hinausgehende Leistung Luthers besteht: Gegenüber der Dialektischen Theologie, die seinerzeit den theologischen Diskurs noch weithin prägte und schon in der Wendung vom »Menschen als religiösem Subjekt« die Abkehr von Gott vollzogen sah, hat Luther mit seinen religions- und bildungstheoretischen Überlegungen die Praktische Theologie wieder handlungsfähig gemacht. Sie »formuliert dabei nicht den Einheitskonsens der Glaubenden, sie formuliert nicht jenes inhaltliche Einverständnis, auf das alle zu verpflichten wären, sondern klärt – auf hermeneutische und empirische Weise – die Bedingungen, unter denen sich die Verständigung zwischen den religiösen Subjekten vollziehen kann. Was und wie zu glauben ist, klären die einzelnen Subjekte selber.«23 Damit ist im Kern schon das Prinzip der religiösen Selbstbildung formuliert.

Beschreibt Wilhelm Gräb »Kirchliche Bildungsarbeit als Anstoß zu individueller religiöser Selbstbildung«24, dann stellt die Mündigkeit des religiösen Subjektes darin sowohl den Ausgangs- wie den Zielpunkt ihres Handelns dar. Diese Mündigkeit äußert sich nach außen in einem »ethisch-religiösen Individualismus«, der seine Ursache hat in einem Auseinandertreten zwischen dem, »was die Menschen religiös glauben und wie sie leben wollen« und den »doktrinalen Zumutungen der Kirche«.25 Für die kirchliche Bildungsarbeit ergeben sich von daher eine Reihe von Konsequenzen:

Sie hat zunächst den ethisch-religiösen Individualismus als das anzuerkennen, was er der Sache nach ist: Das Bemühen des Einzelnen, über die Selbstdeutung von Erfahrungen seinem Leben einen umfassenden, d. h. auch religiösen Sinn zu geben und darin Identität, die immer auch religiöse Identität ist, zu gewinnen. Sie hat sich schließlich den Interessen der Menschen zu öffnen und ihnen zur Klärung ihrer Selbst- und Weltauffassungen in ihren Bildungseinrichtungen »Möglichkeitsräume religiöser Selbstbildung« zu öffnen.26 Dabei lässt sie die Religion und Moral der Individuen »deren eigene Angelegenheit sein und versucht, die Fähigkeit der Individuen zur Kommunikation ihrer eigenen religiösen Überzeugungen und moralischen Einstellungen zu steigern«.27

Ein weiterer zentraler Aspekt in Gräbs Konzeption einer religiösen Selbstbildung besteht darin, dass die »traditionellen Inhalte christlicher Lehre, wie sie in Bibel und Bekenntnis gegeben sind, zu tradieren und d. h. dem Verstehen zu vergegenwärtigen (sind)«.28 Stärker noch als Luther, der in diesem Zusammenhang vom »Anregungspotential der Religion«29 spricht, geht es Gräb darum, die Bindung zwischen Individuum und Kirche zu intensivieren. Dies geschieht dadurch, dass die Kirche »in der Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten, Bildern und Ritualen deutlich werden lässt, wie offen die Kirche für eine freie, kritische, selektive Aneignung und Umformung ihrer tradierten Symbole und Rituale ist«.30

Zusammenfassend wird man sagen können, dass der Aspekt der religiösen Selbstbildung bei Gräb schon weitgehend in eine Konzeption überführt ist, die auf der einen Seite die Unhintergehbarkeit der individuellen religiösen Erfahrung aufnimmt, auf der anderen Seite aber auch der verfassten Kirche eine Rolle zuweist, die sie unter den Bedingungen der soziokulturellen Moderne ausüben kann. Religionstheoretisch stützt sich dieses Konzept auf Friedrich Schleiermacher, der in der 2. und 3. Rede über die Religion (1799) das Verhältnis von Religion und Bildung als ein Zusammenwirken beschreibt, das den Menschen als religiöses Wesen hervorbringt und darin entwickelt.

Auch Friedrich Schweitzer und Wolfgang Lück verweisen in ihrer Schrift »Religiöse Bildung Erwachsener«31 auf den grundlegenden Unterschied »zwischen gelebter Religion und kirchlicher oder theologischer Lehre«. Ausdrücklich stellen sie die »religiösen Fragen, die im Leben selbst aufbrechen« (Krankheit, Sterben Tod, Erfahrungen der Sinnlosigkeit, Probleme der ethischen Orientierung u. a.) an den Anfang ihrer Überlegungen und schlussfolgern: »Den Ausgangspunkt entsprechender Angebote in der Erwachsenenbildung können […] nur die Erwachsenen selbst darstellen, nicht hingegen eine vorgegebene (Religions-)Theorie oder theologische Systematik.«32 Ein wichtiger Beitrag ihrer Untersuchung besteht darin, die notwendige Unterscheidung zwischen religiöser Bildung Erwachsener (zielt auf religiöse Mündigkeit und kann auch in einem nichtkirchlichen Kontext stattfinden), kirchlicher Erwachsenenbildung (der Bezug zur Kirche ist von vornherein gegeben und setzt Akzente) und theologischer Bildung (trägt immer auch die Gefahr einer theologischen Verengung in sich) deutlich herausgearbeitet zu haben.33

Hans-Jürgen Fraas hat mit »Bildung und Menschenbild in theologischer Perspektive«34 ein Konzept vorgelegt, dass weder die kirchliche Erwachsenenbildung im Allgemeinen noch die religiöse Selbstbildung im Besonderen im Blick hat. Wenn es an dieser Stelle dennoch kurz vorgestellt werden soll, dann nicht zuletzt deshalb, weil es für die vorliegende Untersuchung an zentralen Stellen zum contrapunktischen Impuls geworden ist.

Fraas setzt fundamental-anthropologisch ein, indem er die »Veränderbarkeit des Menschen als Voraussetzung von Bildung benennt«35 und folgert weiter, dass Glauben (Fraas spricht hier vom »Lebensglauben«, der noch ohne Bezug auf einen spezifischen religiösen Inhalt auskommt) und Lernen dem gleichen Erfahrungszusammenhang...

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