I. Vorbemerkung
Das Vertrauen ist weg. Das ist bis in innerste Kreise hinein die Lage in der katholischen Kirche. Bei einigen ist es ganz weg, andere ringen darum, es nicht endgültig zu verlieren. Mit dem überraschenden Rücktritt von Papst Benedikt und der ebenso überraschenden Wahl eines neuen Papstes, der sich nach Franziskus von Assisi nennt, keimt zwar auch neue Hoffnung auf. Doch umso mehr wird die Dimension der Aufgabe deutlich, um die es in der Kirche geht: Es geht um den Aufbau von neuem Vertrauen. Der Weg dahin wird aller Wahrscheinlichkeit nach lang und sicherlich nicht konfliktfrei sein.
Vertrauenskrise – damit meine ich nicht nur, dass Menschen außerhalb der Kirche der Kirche nicht mehr trauen, ihr nichts oder doch immer weniger zutrauen. Diesen Aspekt des Vertrauensverlustes gibt es natürlich auch.1 Es geht mir aber genauso um das Vertrauen innerhalb der Kirche, der Katholiken untereinander. Der Vertrauensverlust innerhalb der Kirche und die Vertrauens- oder auch Glaubwürdigkeitskrise der Kirche für Außenstehende hängen zusammen. Zerstrittene Parteien sind nicht attraktiv. Genauso wenig ist eine Kirche attraktiv, in der die Gläubigen einander nicht mehr vertrauen, sondern zerstritten sind. „Seht, wie sie einander lieben“ – das war in den Anfangszeiten das Erscheinungsbild der Christenheit vor den Augen der Welt, mit dem sie für sich werben konnte.2 In der katholischen Kirche geschieht seit längerer Zeit das Gegenteil – ganz zu schweigen von der Zerstrittenheit der christlichen Konfessionen untereinander.
Indiz für die Vertrauenskrise in der Kirche ist die Zunahme von Misstrauen untereinander, das Lagerdenken, die Reduzierungen strittiger Fragen auf Machtfragen. Die Leitung der Kirche ist von dieser Vertrauenskrise nicht ausgenommen, im Gegenteil: Je deutlicher die Vertrauenskrise wird, desto mehr entpuppt sie sich auch als eine Leitungskrise. Die Vatileaks-Enthüllungen sowie die offen ausgetragenen Gegensätze im Kardinalskollegium nach dem Rücktritt von Papst Benedikt haben vor den Augen der Welt sichtbar gemacht, dass die Kirchenleitung in Rom von der Vertrauenskrise nicht ausgenommen ist: statt Vertrauen Intrigen und Machtkämpfe nach innen und verzweifelte Imagepflege nach außen.3
Vertrauen ist keine Einbahnstraße. Auch im Verhältnis von Kirchenvolk und Kirchenleitung fließt Vertrauen nicht nur von unten nach oben, sondern auch von oben nach unten. Vertrauenskrise der Leitung bedeutet daher nicht nur, dass die Herde den Hirten zu wenig vertraut, sondern auch umgekehrt, dass die Hirten der Herde mit Misstrauen begegnen. Erfahrungen dieser Art haben viele Katholiken und Ortskirchen in den letzten Jahren gemacht, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit Bischofsernennungen.4 Vertrauen der Leitung zum Kirchenvolk ist aber unverzichtbar für die Möglichkeit vertrauensvoller Beziehungen innerhalb des gesamten Systems Kirche. Gerade von der christlichen Lehre her müsste dies einsichtig sein, die man ja auch in den Satz übersetzen kann: Gott schenkt Vertrauen – und zwar als Erster. Leitung muss mit Vertrauen beginnen. Deswegen beeindruckt die Geste von Papst Franziskus zu Beginn seines Pontifikates, wenn er sich vor dem Kirchenvolk verneigt und um dessen Segensgebet bittet, bevor er selbst es segnet. In der Logik dieser Geste liegt die Hoffnung auf eine Kirchenleitung, die sich selbst neu mit Vertrauen riskiert, statt sich oben zu verschanzen, sich Informationen über die Basis aus informellen Kanälen zu besorgen und Leitungspositionen untereinander nach Loyalitäts- statt nach Qualifikationskriterien zu verteilen.
Durch den Missbrauchsskandal ist das Vertrauen in der Kirche nachhaltig um eine weitere Dimension erschüttert worden. Alois Glück, der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, formulierte im November 2010: „Ausgehend von der Aufdeckung zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs aus den vergangenen Jahrzehnten hat die Kirche einen beispiellosen Vertrauensverlust erlitten, der bis in ihre Mitte reicht.“5 Der Blick über den deutschen Tellerrand nach Irland, Holland, Österreich, Belgien und in die USA zeigt, dass es hier um ein flächendeckendes Thema geht, das noch weitere Länder betreffen wird, in denen die kirchliche und gesellschaftliche Schweigemauer noch nicht durchbrochen ist. Was entscheidend zum Vertrauensverlust in der Kirche beigetragen hat, ist das Versagen von Vertretern kirchlicher Institutionen gegenüber den Opfern – indem sie ihnen seinerzeit den Schutz versagten, den sie brauchten, und stattdessen die Täter schützten, insbesondere dann, wenn diese zum Klerus gehörten. Durch das Aufdecken der Missbräuche wurde auch dieses Versagen aufgedeckt, nicht nur die Taten der Täter. Seitdem stehen beträchtliche Teile der Kirchenleitung vor den Augen der Welt und vor den Augen der eigenen Leute nackt und unansehnlich da.
Die Scham in der Kirche über die eigene Leitung gehört zum Vertrauensverlust, der „bis in ihre Mitte reicht“. Der innere Kern der Gläubigen ist durch das Vertuschen und Verdecken der Missbräuche getroffen: treue Kirchenbesucher, einfache Leute, engagierte Gläubige, die das gebrochene Verhältnis von Bischöfen und Personalverantwortlichen zur Wahrheit nicht fassen können, wie es im Zusammenhang mit den Missbrauchsskandalen sichtbar wurde. Sie fühlen sich belogen, und zwar rückblickend manchmal über Jahrzehnte hinweg. Die ganze eigene Geschichte mit der Kirche und mit der kirchlichen Hierarchie erscheint plötzlich in einem anderen Licht. Was soll man auch sagen, wenn man sich selbst bereitwillig in die kirchliche Disziplin gefügt hat – im Vertrauen auf die Autoritäten, die diese Disziplin festlegen und nötigenfalls auch disziplinarisch einfordern –, und dann entdeckt, dass die Autoritäten sich selbst Ermessensspielräume gestatten, die weit über das Erlaubte hinausgehen, und dies im Interesse des eigenen Ansehens beziehungsweise des Ansehens der Institution? Papst Benedikt XVI. räumte bei seinem Deutschlandbesuch im September 2011 ein, dass solche Erfahrungen zu tiefen Entfremdungen gegenüber der eigenen Kirche führen: „Ich kann verstehen, dass jemand im Licht solcher Informationen – vor allem wenn sie einen nahestehenden Menschen betreffen – sagt: Das ist nicht mehr meine Kirche.“6 Kein Wunder, dass das Aufdecken der Missbräuche bei fast allen Gläubigen tiefes Nachdenken über die eigene Geschichte mit der Kirche auslöste, mit einer neuen und größeren inneren Freiheit gegenüber den Autoritäten.
Der Umgang der Kirchenleitung mit der seit 2010 aufgedeckten Wahrheit ist ein aktuell weiter wirkender Faktor, der Vertrauen in der Kirche beschädigt. Sichtbar wurde dies erneut im Januar 2013, als die Deutsche Bischofskonferenz den Vertrag mit dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen aufkündigte, ihrerseits mit dem Hinweis auf das zerbrochene Vertrauensverhältnis zu dessen Leiter. Was immer die Gründe für das Zerwürfnis gewesen sein mögen, es zeigt sich jedenfalls, dass auch gut gemeinte Projekte zur Wiedergewinnung von Vertrauen das Gegenteil von dem bewirken können, was sie beabsichtigen.
Glaubwürdigkeit entscheidet sich am Verhältnis zur Wahrheit, gerade auch dann, wenn sie bitter schmeckt. Der Feind der Wahrheit ist das Imagedenken. Schon im Evangelium beklagt Jesus die Heuchelei, das Festhalten am Schein und das Verstecken des Seins. Je mehr sich die Leitung in der Vertrauenskrise damit befasst, die Fassade zu reparieren, desto tiefer manövriert sie sich in die Entfremdung gegenüber den eigenen Leuten hinein. Ich sehe drei destruktive Weisen, mit der Differenz von Sein und Schein umzugehen: Die jämmerliche Weise ist die, die Differenz zwar wahrzunehmen und über sie zu klagen, aber nicht die Kraft zur Konsequenz aus dieser Einsicht aufzubringen. Die zynische Variante besteht darin, die Differenz wahrzunehmen und sie zu bejahen, also am Vorrang des Images vor der Wahrheit festzuhalten. Die sektiererische Weise schließlich besteht darin, die Differenz nicht mehr wahrzunehmen, sondern den Schein tatsächlich für das Sein zu halten. Das ist das Gefühl der kleinen Gruppe, die sich als verfolgte Minderheit begreift, obwohl sie gar nicht verfolgt wird. Es besteht durchaus die geistliche Gefahr, den Vertrauensverlust der Kirche bei vielen Menschen als Angriff auf die Kirche zu erleben, wenn man den Schein für das Sein hält. Wenn sich Gruppierungen, die so empfinden, auf der Leitungsebene durchsetzen würden, dann wäre verstärkt damit zu rechnen, dass Bischöfe ernannt würden, die in einer Sonderwelt fernab von der Lebenswirklichkeit der „Herde“ leben und ihr mit Misstrauen begegnen.
Durch die Vertrauenskrise gerät für viele Katholiken ihr Katholisch-sein in die Krise. Ich schlage vor, den Spieß umzudrehen und zu fragen: Was bedeutet Katholisch-sein in der Krise? Anders gefragt: Wie hilft gerade in der Vertrauenskrise das Katholisch-sein – das katholische Kirchenverständnis, die katholisch geprägte Frömmigkeit, das in der Kirche immer neu auszulegende Evangelium –, den Vertrauensverlust auszuhalten, Schritte nach vorne zu machen, die Mitchristen in der katholischen Kirche und darüber hinaus in der ökumenischen Christenheit neu zu entdecken und mit ihnen in das größere Gottvertrauen einzutreten? Den Jammerern, Zynikern oder Sektierern soll die Kirche jedenfalls nicht überlassen werden. Vielleicht verhält es sich ja sogar folgendermaßen: Dass die Kirche mit ihrer Vertrauenskrise vor den Augen der Welt derzeit so unattraktiv dasteht, könnte ein Auftrag Gottes an die Kirche sein – ein „Zeichen der Zeit“, eine Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie Vertrauen neu werden kann. Diese Orientierung braucht die Welt...