Die Probleme des Genres
Das Verbrechen
Wie eigentlich jedes Filmgenre, wie jede «ordentliche» Geschichte, handelt der Thriller von Leidenschaft, von Sex und von Verbrechen, allgemeiner: von Grenzverletzungen innerhalb der gesellschaftlichen Regelungen. Doch anders als zum Beispiel im Gangsterfilm dient hier das Verbrechen nicht (oder doch nur in sehr neurotischer Weise) einem «sozialen Aufstieg über die Hintertreppe», und anders als zum Beispiel im Detektivfilm dient seine Aufklärung nicht dem gesellschaftlichen Konsens, ja das Verbrechen und seine Ahndung dienen, so scheint es zunächst, im Thriller sehr oft zu überhaupt nichts. Das Verbrechen ist weder vom Ursprung noch vom Ziel her eindeutig zu fassen, es wirkt eher wie das Zeichen für eine viel tiefer gehende Beunruhigung: Regeln und Gesetze werden da nicht so sehr verletzt oder umgangen, sondern gerade durch Übererfüllung oder durch die perfekteste Aufrechterhaltung des «schönen Scheins» ad absurdum geführt. Die Anpassung an tatsächliche oder gedachte Größen, weniger die Erfüllung eines Bedürfnisses als die einer Rolle, führt zur Gewalt. Am Ende von Psycho wissen wir, was mit Norman Bates und der seltsamen Liebe zu seiner Mutter geworden ist; es klingt vernünftig, was uns der Psychologe da erzählt, und doch beginnt hier die schreckliche Verlängerung dieses «Falls» in unser Alltagsleben hinein, und kein Sherlock Holmes wäre da, durch seine Rationalization die völlige Normalität des Vernünftigen wiederherzustellen.
Im Thriller scheinen unsere alltäglichen Ängste und Befürchtungen aufgehoben zu sein, viel mehr noch als im Horror-Film, der seine Methoden entwickelt hat, uns auf wohltuender Distanz zu halten. Angewachsen zu einer bedrückenden Gegenwärtigkeit lässt uns der Thriller erleben, was uns der Horror-Film eher genießen lässt: die Angst in all ihren Formen. Deutlicher als Science-Fiction- und Horror-Filme funktioniert der Thriller nach der Struktur von Albträumen, nicht unter Missachtung, sondern in frontaler Kontroverse zu Logik und Wahrscheinlichkeit, und doch mit einer Richtigkeit der Zusammenhänge, die offensichtlich einen in den Erinnerungen der meisten Menschen gespeicherten Vorstellungskomplex anspricht.
In einem Thriller steht das Verbrechen selbst, nicht seine Aufklärung, nicht seine Motivation, nicht seine Determination im Vordergrund. Die Bibel oder Dostojewskijs Schuld und Sühne wären so eher Vorläufer für das Genre als die Kriminalliteratur. Die Auflösung ist allenfalls eine beruhigende Dreingabe, nicht das Faszinosum des Genres, und andererseits ist die Lösung des Rätsels nicht Ergebnis von distanziert-delegiertem Treiben eines kontemplativen oder für Geld sich schindenden Detektivs, sondern steht in engem Zusammenhang mit der Rettung des eigenen Lebens oder des Lebens eines nahestehenden, geliebten Menschen seitens der Helden. Der Thriller erhält seine absolute Bedrohung gerade dadurch, dass es keine Vermittlung zwischen Verbrechen und «Normalität» gibt und vor allem keine Vermittler. Die Verbrecher und das Verbrechen haben im Thriller etwas Gespenstisches; es sind die Symptome von Wahnsinn und Perversion, sei es die von Individuen, wie etwa im Psychothriller, sei es die kollektive, wie etwa im Spionagethriller.
Um zu verstehen, dass dennoch auch der Thriller seine kathartische, seine beglückende Wirkung hat, hinausgehend ein wenig auch über die Gewöhnung an die Angst und den reinen Thrill, bedarf es einer Rückführung auf den Grundmythos der populären Kultur. Dieser Mythos entstammt europäisch-kolonialistischem Verständnis einerseits, dem Pioniergeist des amerikanischen Nationalepos andererseits und den vielfältigen ideologischen und ästhetischen Verbindungen zwischen beiden. Seine zentrale Botschaft lautet: Freiheit, Glück und Hoffnung ist da, wo Bewegung, Raum und Virgin Land, jungfräuliches Land ist; Unterdrückung, Elend und Verbrechen ist dort, wo Immobilität, urbane Gefangenschaft, Enge herrscht. Unmissverständlich geht die heroische Entwicklung vom Raum für die Eroberung zur urbanen Geschlossenheit, also von der «Freiheit» zur sozialen Überdetermination, das heißt auch, von der Gewalt nach außen zur Gewalt nach innen. Der expansionistische Geist unserer Zivilisation ist an seine Grenzen gelangt und droht durch seine Inversion die Grundlagen des menschlichen Lebens selbst zu zerstören. Es ließe sich demnach nicht leben ohne überwältigende Melancholie und Verzweiflung, wäre da nicht zum einen der Mythos, zum anderen die Kompensation. Das heißt, die urbane Gesellschaft sucht neue Frontiers; der noch höhere Wolkenkratzer, die noch avanciertere Technologie, die noch größere Produktion lässt vielleicht vergessen, dass es eigentlich zu erobern nichts mehr gibt und sich somit die ideellen Grundlagen unserer patriarchalisch-kolonialisierten Gesellschaft einem Zersetzungs- und Neuorientierungsprozess ausgesetzt sehen. Im Thriller schließt sich die soziale Klaustrophobie mit der Angst vor dem Nächsten kurz, dem nicht zu trauen ist.
Während also der kolonialistische oder pioniergesellschaftliche Geist im Mythos aufbewahrt wird, ist sein Elan umgesetzt in einen vom Geografischen ins Technologische versetzten Fortschritt. Beides erst, das Akzeptieren des verpflichtenden Mythos und die Bereitschaft, für den Fortschritt einzutreten, macht in der populären Kultur das positive Leitbild aus, während der «rückschrittliche» Umgang mit dem Mythos – man denke an einen Film wie Bad Day at Black Rock (Stadt in Angst; 1954, Regie: John Sturges) – zu einer Quelle der Bedrohung wird. Ebenso ist aber, wie die vielen negativen Utopien der Science-Fiction zeigen, der technische Fortschritt ohne Besinnung auf die Werte des Mythos (der Grenze) nicht denkbar, soll er nicht in die Kälte einer technologischen Hölle für die Menschen führen. Die Möglichkeit eines Outlaw als Korrektur zu ungerechten oder unfreien Gesetzen der Gesellschaft (im Western, im Gangsterfilm) ist dabei ebenso zu nennen wie das Verbrechen als Zeichen für Widersprüche. Das Verbrechen definiert den Kompromiss (und zugleich die Grenze) zwischen individualistischem Mythos und kollektivem Fortschritt: auf der einen Seite steht der hypertechnisierte Superverbrecher mit wahnsinnig überdrehtem Fortschrittsbewusstsein, auf der anderen der psychopathische Individualist, der durch sein Verbrechen gegen seine soziale Determination protestiert: die irren Erben von Billy the Kid.
Im Thriller geht es um Zustände des Stillstandes und des Mythosverlusts, Schauplätze sind einsame alte Häuser, dunkle verfallene Straßen, vergessene architektonische Orte ohne Zukunft, und auch die Protagonisten sind häufig Menschen, die keine Zukunft mehr vor sich haben oder deren Initiativen begonnen haben, sich in Kreisbewegungen zu erschöpfen, die keine Identitätsfindung aus dem Mythos heraus gestatten, sondern dazu führen, dass Identitäten geborgt, erpresst, geträumt oder erzwungen werden. Selbst die Gauner in den Big Caper-Filmen, die einen fast perfekten Einbruch begehen, sind fast immer schon von vorneherein von einer Melancholie, einer ganz unangebrachten Sanftheit, die ihr Scheitern vorausahnen lässt.
Macht, Reichtum, Einfluss und Ruhm sind an die Stelle der geografischen Bewegung getreten; am Ende steht als mythischer Erfolg nicht mehr eine zurückgelegte Strecke, sondern angehäuftes Material, versteinerte Riten. Die Rituale des Westens, die gerade die Freiheit des Individuums garantiert haben, setzen sich in den städtischen Slums fort in Ritualen, die nichts als zwanghaftes Reagieren auf soziale, technologische und architektonische Pressionen darstellen und dennoch einen Hauch der alten Sehnsucht in sich tragen. Aus diesem Übergang entstehen neue Helden: der Gangster, der Privatdetektiv, der Journalist, kurz alle, die den einen oder anderen Weg gefunden haben, nicht die passive Korruption zu vertreten. Diese Helden oder auch Antihelden führen ganz zwangsläufig einen intensiven Kampf mit der Gesellschaft. Das gesellschaftliche Ornament, das Geflecht von Regeln, Konventionen, Gesetzen und Traditionen, von Gewohnheiten und Riten, erweist sich für den Held als Bedrohung. Während sich der Held etwa eines Detektiv-Films bewusst außerhalb oder über dieses Ornament stellen kann (im Extremfall gar, um es selber neu zu ordnen), ist der Held eines Thrillers zunächst ganz und gar darin gefangen, bis er durch Zufälle und Intrigen herausgerissen wird aus seinen scheinbaren Sicherheiten. So ist die Handlung eines Thrillers eine Form der umgekehrten Befreiung, einer Befreiung, die erzwungen wird. Erst als die Gesellschaft ihn ausstößt, spürt der Held, dass er in ihr nie völlig aufgehoben war. Wenn man ihn verdächtigt, ein Verbrecher zu sein, wenn er von einem anonymen, bedrohlichen Wesen angegriffen wird, und niemand will ihm glauben, niemand ihn schützen, wenn er in die Intrigen von Geheimdiensten gerät, deren Wesen er nicht durchschauen kann, wenn der Bürger zum Verbrecher wird, ohne auch nur einen Moment aufzuhören, Bürger zu sein, so ist allen diesen Konstellationen gemeinsam, dass gerade die Regelhaftigkeit, der Konformitätszwang in der Gesellschaft das Verbrechen beschützt. Die Bedrohung im Thriller geht von der Gesellschaft selber aus, und das Verbrechen ist nichts als Indikation für diese Bedrohung. Denn erschreckend im Thriller ist am Verbrechen weder seine Grausamkeit noch seine Kaltblütigkeit, erschreckend sind Zwang und Regel der Wiederholung. Das Individuum bewegt sich in Wahrheit in «seiner» Gesellschaft auf dünnem Boden: Ein kleiner Zufall genügt allemal, es in die Fänge...