Der Genre-Schmelztiegel
Als das auf digitalen Daten basierende Spiel mit dem von Atari 1972 entwickelten Pong seinen Eroberungsmarsch antrat (Masuyama, 2002), konnte niemand ahnen, wie es sich innerhalb der folgenden 35 Jahre entwickeln würde. Während es bei Pong noch ausreichte mit jeweils einer Taste für Nach-oben sowie Nach-unten einen weißen Balken (auch Tischtennisschläger genannt) auf schwarzem Grund so zu bewegen, dass er das hin und her springende weiße Quadrat (der Tischtennisball) trifft und es somit daran hindert, den Bildschirm auf der eigenen Spielfeldseite zu verlassen, was einen Punkt für den Gegner bedeuten würde, simulieren moderne Computerspiele ganze Realitäten. Computerspiele sind nicht mehr einfach nur Daddelgelegenheiten in Form von überdimensionalen Arcade-Automaten in öffentlichen Spielhallen, sondern ein fester Teil unserer Kultur, auf den mittlerweile, vor allem durch Handheldkonsolen wie den Game Boy oder durch das Handy, praktisch jederzeit und an jedem Ort zugegriffen werden kann.
Die Genrevielfalt des Computerspiels war bis Anfang der 90er-Jahre noch relativ überschaubar. Fast jedes Spiel konnte viel umfassenden Überkategorien wie dem Jump’n Run, dem Adventure oder dem Strategiespiel zugeordnet werden. Wer sich heute jedoch an einer derartigen Kategorisierung versucht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Komplexität moderner Spiele zerbrechen. Einst begann es als kleiner Gag der überwiegend japanischen Spieleentwickler, kleine Elemente aus völlig unverwandten Genres in ein Spiel einzubauen, das im Prinzip klar einem Genre einzuordnen war. Als Beispiel soll hier die Final Fantasy-Reihe genannt werden. Die wohl bekannteste und erfolgreichste Serie der Rollenspielgeschichte[1] ist bekannt für ihre Ausflüge in fremde typologische Welten.
Schon im ersten Teil der Reihe konnte der Spieler mittels geheimer Tastenkombination ein Puzzlespiel freischalten, das weder dem Verbessern des eigenen Spielstands noch dem Vorankommen der Story diente. In den vielen Teilen der Serie, die noch folgten und noch folgen werden, ließen und lassen sich die Entwickler immer wieder neue so genannte „Mini-Games“ einfallen, deren primärer Zweck darin besteht, den Spieler länger in den Bann des Produkts zu ziehen. So war es bei Final Fantasy VIII beispielsweise der Fall, dass man die meisten Figuren, die einem in der fiktiven Spielwelt begegneten, zu Duellen mittels eines speziell entwickelten Sammelkartenspiels herausfordern konnte. Wer alle Karten besitzen wollte, musste lange Reisen und unzählige Regelmodifikationen in Kauf nehmen und gegen starke Gegner antreten, um von ihnen einzigartige Karten zu bekommen. So war es letztlich für den strebsamen Sammler nicht verwunderlich, dass er weitaus mehr Zeit in das vermeintliche Mini-Game investierte (über 50 Stunden waren nicht unüblich) als in das ohnehin schon zeitaufwändige Durchspielen der eigentlichen Geschichte. Oft wurde es auch unabdingbar, den kompletten Spielstand zu löschen, weil man eine einzige Karte verpasst hat.
Was alle Spiele vereint
Die sechs Punkte der Celia Pearce
Die bereits angesprochene Schwierigkeit, moderne Spiele klar einem Genre unterzuordnen, hat die Frage aufgeworfen, welche Elemente ein Computerspiel besitzen muss, um als solches zu gelten – ungeachtet all der genretypischen Merkmale. Das Problem der alten Genreeinteilung war, dass sie dazu verleitete, Forschungen zu stark auf eine bestimmte Gattung zu fixieren[2]. Eine allumfassende medienpsychologische und -wissenschaftliche Forschung im Bereich der Computerspiele sollte jedoch alle Spiele abdecken können (vgl. Klimmt, 2004, S. 698). Worauf kommt es letztlich also wirklich an, wenn man sich mit dem Thema auseinandersetzt?
2002 wagte Celia Pearce, die bereits erkannte, dass eine antiquierte Unterteilung der Computerspiele in verschiedene Genre nach semiotischen Gesichtspunkten nicht mehr funktionierte, eine völlig neue Kategorisierung, die sich darauf bezog, auf welchen Grundlagen Spiele entwickelt werden. Nach dem Studieren Dutzender Spiele (Pearce, 2002, S.113) fand sie sechs Punkte, die jedes der untersuchten Spiele aufweisen konnte:
• Punkt eins: Jedes Spiel hat ein Ziel und mehrere Unterziele.
Beispiel: Ein Spiel hat das Ziel, den letzten Gegner zu besiegen (das Hauptziel), dazu müssen jedoch erst alle Level, also Zwischenabschnitte des Spiels, durchgespielt werden. Das Bewältigen jeden Levels gilt als Erreichen eines Unterziels.
• Punkt zwei: Hindernisse, die einen davon abhalten wollen, das Ziel zu erreichen.
Beispiel: feindliche Kreaturen, ablaufende Spielzeit oder Rätsel.
• Punkt drei: Ressourcen oder Hilfsmittel, durch die man das Ziel erreichen kann.
Beispiel: Waffen, um Gegner zu bekämpfen, Gegenstände, um Hindernisse zu überwinden oder bei Spielen wie Pong einfach nur der weiße Balken, mit dem man das weiße Quadrat zurückschießen muss.
• Punkt vier: Belohnungen, um das Spiel voranzutreiben.
Beispiel: Stärkere Waffen, um stärkere Gegner zu besiegen oder bei Spielen wie Tetris der Erhalt von höheren Punktzahlen unter erschwerten Bedingungen.
• Punkt fünf: Bestrafungen für Misserfolge.
Beispiel: Der Verlust von Ressourcen, Punkten oder im schlimmsten Fall das Löschen des gesamten Spielstandes.
• Punkt sechs: Informationen in allen erdenklichen Formen.
Beispiele: Die Information, wie viele Punkte man im Spiel bereits erreicht hat, Informationen, welche Aufgabe als nächstes erledigt werden muss oder Informationen, wie ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann.
Die drei Dimensionen des Christoph Klimmt
Zwei Jahre nach Celia Pearce stellte sich Christoph Klimmt die Frage, welche Punkte essenziell seien für eine explizit medienpsychologische Forschung im Bereich der Computerspiele. Er erkannte, dass die zuvor oft forschungsgebundene Betrachtung der Spieltechnologie, worunter u.a. genutzte Software und Hardware fallen, völlig irrelevant sei. Der entscheidende Aspekt, so Klimmt, sei der Nutzen des Spielens für den Konsumenten. Hier spielen wiederum drei Komponenten die entscheidenden Rollen, da sie – vergleichbar mit den sechs Punkten der Celia Pearce – für jeden einzelnen Titel Gültigkeit haben und somit die optimale Basis zur Charakterisierung eines Spiels bilden. Erst die sinnvolle Symbiose der im Folgenden erläuterten Dimensionen macht ein Spiel spielenswert und somit auch interessant für wissenschaftliche Betrachtungen (Klimmt, 2004, S.698 ff).
• Die erste Dimension: Der narrative Kontext.
Der narrative Kontext liefert sämtliche Informationen, die den Spieler tiefer in die Welt des Spiels eintauchen lassen. Wie bei anderen narrativen Medien, etwa Film, Hörspiel oder Belletristik, sind hier die Ausprägungsmöglichkeiten unbegrenzt. Die denkbar profanste Information, die ein Spieler erhalten kann, wäre im Sinne von Pong, dass er sich in einem Tischtennisspiel befindet und sein Ziel das Bezwingen des Gegners ist. Moderne Spieltitel durchbrechen jedoch sämtliche bekannten narrativen Dimensionen, da sie aufgrund ihrer komplexen Erzählstränge praktisch unendlich viele Möglichkeiten bieten, sich seine eigene individuelle Geschichte zu schaffen[3].
• Die zweite Dimension: Die Art der Aufgaben.
Die Aufgaben, die ein Spiel stellt, können in verschiedenste Richtungen gehen, lassen sich aber, so Klimmt, in zwei elementare Bereiche einteilen: Zeitdruck und Komplexität. Während Ersteres dem Spieler vorwiegend Geschick und eine gute Augen-Hand-Koordination abverlangt, fordert und fördert die Komplexität die Analysefähigkeit. Man ist oft gezwungen, zahlreiche Faktoren gleichzeitig zu beachten, um schwierige Rätsel zu lösen, oder ausgeklügelte Strategien zu entwickeln. Die beiden Faktoren können bei einer Aufgabe auch zusammen auftreten.
• Die dritte Dimension: Die Darstellungsform.
Die letzte Dimension beschäftigt sich mit der visuellen Betrachtung des Spielgeschehens von Seiten des Rezipienten und dessen Zeitwahrnehmung des Spiels. Während ältere Titel fast ausschließlich in realitätsferner, zweidimensionaler Form (entweder in der Seitenansicht oder aus der Vogelperspektive) präsentiert wurden, ist mittlerweile Dreidimensionalität Standard, wobei sich die Programmierer auf konventionalisierte, alltägliche Betrachtungsformen der Spieler stützen. Auch der Trend in Sachen Spielzeit geht immer mehr in Richtung Echtzeit, was bedeutet, dass Spielgeschehen und Wirklichkeit im selben Takt verlaufen. Durch derartige Möglichkeiten in Verbindung mit extrem detaillierten grafischen Ausgaben moderner Hardware ist ein sehr hohes Realitätsgefühl beim Computerspielen keine Seltenheit mehr. Extreme Brüche mit Raum- und Zeitbetrachtungskonventionen tauchen jedoch – meist bewusst eingesetzt – auch bei modernen Titeln noch sehr häufig auf[4].
Singleplayer versus Multiplayer
Das Schlimmste für einen erfahrenen Zocker an einem Spiel ist, wenn es nur dazu da ist, es durchzuspielen. Die einstigen Zeiten, in denen jedes Computerspiel einen derart hohen Schwierigkeitsgrad hatte, dass es nur den Besten vergönnt war, die End-Credits (vergleichbar mit dem Nachspann eines Spielfilms o.ä.) zu Gesicht zu bekommen, sind längst vorbei. Um der zunehmenden Frustration der Konsumenten, die viel Geld für ein Spiel bezahlten, bei dem sie schon viel zu früh scheiterten, entgegenzuwirken, fing die...