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Goethe - Kunstwerk des Lebens

Biografie

AutorRüdiger Safranski
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl800 Seiten
ISBN9783446244542
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Das Goethe-Buch für unsere Zeit: Rüdiger Safranski nähert sich dem letzten Universalgenie aus den primären Quellen - Werke, Briefe, Tagebücher, Gespräche, Aufzeichnungen von Zeitgenossen. So wird Goethe ungewohnt lebendig: Ein junger Mann aus gutem Hause, dem Studentenleben zugetan und dauerverliebt, wird Bestsellerautor, bekommt eine gutdotierte Stellung, dilettiert in Naturforschungen, flüchtet nach Italien, lebt in wilder Ehe - und bei alledem schreibt er seine unvergesslichen Werke. Doch er wollte noch mehr: Das Leben selbst sollte zum Kunstwerk werden. Safranskis souverän geschriebenes Buch macht uns zu Zeitgenossen dieses Menschen und schildert eindringlich, wie Goethe sich zu Goethe gemacht hat.

Rüdiger Safranski, geboren 1945, ist Philosoph und wurde vor allem durch seine in viele Sprachen übersetzten Biographien über E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche, Schiller, Goethe und die Freundschaft von Goethe und Schiller bekannt. Seine großen philosophischen Essays handeln von der Wahrheit, vom Bösen, von der Romantik, der Globalisierung sowie von der Zeit. Zuletzt wurde er mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2014), mit dem Thomas-Mann-Preis (2014), mit dem Ludwig-Börne-Preis (2017) und mit dem Deutschen Nationalpreis (2018) ausgezeichnet.  

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Leseprobe

Erstes Kapitel


Schwierige Geburt mit erfreulichen Folgen. Familienbande.

Zwischen Pedant und Frohnatur. Die Schwester.

Das freie Reichsstadtkind. Schreibübungen. Der Verseschmied

und die erste Gretchen-Affäre. Erschüttertes Selbstbewußtsein.

Den Ernstfall aufschieben. Den gemeinen Gegenständen

eine poetische Seite abgewinnen.

Vielleicht ist es Ironie, wenn Goethe zu Beginn seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« bei der Schilderung der schwierigen Geburt deren erfreuliche Folgen für die Allgemeinheit erwähnt.

Der Neugeborene wäre infolge einer Unaufmerksamkeit der Hebamme fast von der Nabelschnur stranguliert worden. Das Gesicht war schon blau angelaufen und man hielt das Kind für tot. Man schüttelte und klopfte, und es atmete wieder. Der Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, nahm diese lebensgefährliche Geburt zum Anlaß, die Geburtshilfe in der Stadt besser zu organisieren. Es wurde ein Unterricht für Hebammen eingeführt, welches denn manchem der Nachgeborenen mag zu Gute gekommen sein. So setzt der Autobiograph seine erste Pointe.

Der Großvater Textor, der Namensgeber des Neugeborenen, hatte es einst abgelehnt, in den Adelsstand erhoben zu werden. Er hätte seine Töchter, unter ihnen Goethes Mutter Katharina Elisabeth, nicht standesgemäß verheiraten können. Für den Adelsstand war er nicht reich genug, und für bürgerliche Kreise wäre er dann zu vornehm gewesen. Also blieb er, was er war: ein angesehener Bürger und als Schultheiß mächtig genug, um dem Hebammenwesen aufzuhelfen.

Der Schultheiß war nicht nur höchster Beamter der Bürgergemeinde sondern auch der Vertreter des Kaisers in der Reichsstadt, die das Privileg besaß, Schauplatz der Wahl und Krönung des Kaisers zu sein. Der Schultheiß gehörte zu denen, die den Thronhimmel über dem Kaiser tragen durften. Der Enkel sonnte sich in diesem Glanz, der auch auf ihn fiel, zum Ärger seiner Spielkameraden, die jedoch durch ihn auch Zugang zum Kaisersaal im ›Römer‹ erhielten, wo man die großen Ereignisse nachspielen konnte. Goethe bewahrte dem Großvater Textor ein liebevolles Angedenken. Er schildert ihn, wie er die Obst- und Blumenzucht in seinem Garten besorgt, Rosen schneidet, in einem talarähnlichen Schlafrock und auf dem Haupt eine faltige schwarze Samtmütze, dem Enkel das Gefühl eines unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer vermittelt.

Wohl doch ein zu idyllisches Bild. Nach dem Bericht eines Zeitgenossen ging damals in Frankfurt das Gerücht um, daß Goethes Vater bei einem Familientreffen um die Jahreswende 1759/60, als französische Truppen während des Siebenjährigen Krieges in Frankfurt einquartiert waren, seinem Schwiegervater Textor schwere Vorwürfe gemacht habe: er hätte als Schultheiß die fremden Truppen für Geld in die Stadt gelassen. Daraufhin habe Textor mit dem Messer nach dem Schwiegersohn geworfen und der hätte den Degen gezogen. Diese Szene kommt in »Dichtung und Wahrheit« nicht vor. Vom Großvater Textor heißt es dort, er zeigte keine Spur von Heftigkeit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig gesehen zu haben.

Der Großvater väterlicherseits war ein nach Frankfurt zugewanderter Schneider, der sich zum ersten Couturier der vornehmen Welt am Ort emporgearbeitet und die vermögende Witwe des ›Weidenhof‹-Wirtes geheiratet hatte. Der Schneider wurde Hotelier und Weinhändler und war dabei so erfolgreich, daß er bei seinem Tode im Jahre 1730 zwei Häuser, Grundstücke und ein bares Vermögen von 100 000 Talern hinterließ.

Der Sohn Johann Caspar sollte etwas noch Besseres werden. Da man es sich leisten konnte, schickte man ihn auf das teure und hoch angesehene Gymnasium nach Coburg, dann nach Leipzig und Gießen, wo Johann Caspar, nach einem Praktikum am Reichskammergericht in Wetzlar, zum Doktor der Rechte promoviert wurde. Er sollte bei der Frankfurter Stadtregierung Karriere machen. Doch Johann Caspar hatte es nicht eilig, er wollte zuerst die Welt sehen und begab sich für ein Jahr auf eine große Reise, die ihn über Regensburg und Wien nach Italien und auf dem Rückweg nach Paris und Amsterdam führte. Er verfaßte über seinen Aufenthalt in Venedig, Mailand und Rom eine Beschreibung in italienischer Sprache, was für ein Jahrzehnt seine Hauptbeschäftigung war. Er hatte Muße genug, weil es ihm nach der Rückkehr 1740 nicht gelang, bei der Stadtbehörde unterzukommen. Goethe stellt die Dinge so dar, als hätte der Vater darum gebeten, ohne Ballotage, also ohne Wahl und dafür auch ohne Bezahlung, wenigstens eines der subalternen Ämter übertragen zu bekommen. Als ihm das verwehrt wurde, habe er sich mit gekränktem Selbstgefühl geschworen, um keine Stelle mehr nachzusuchen und auch keine mehr anzunehmen. Doch hatte er die Gelegenheit ergriffen, beim Reichshofrat, der während der Regierungszeit Karls VII. in Frankfurt residierte (1741–44), den Titel eines ›Kaiserlichen Rates‹ zu kaufen, der üblicherweise nur dem Schultheiß und den ältesten Schöffen als besonderer Ehrentitel verliehen wurde. Dadurch, schreibt Goethe, hatte er sich zum Gleichen der Obersten gemacht und konnte nicht mehr von unten anfangen. Was er ja auch nicht wollte. So wurde Johann Caspar 1742 zum Rat ernannt von einem Kaiser, in den Katharina Elisabeth, seine spätere Frau, sich etwa zur selben Zeit mädchenhaft verliebte.

Katharina Elisabeth war die älteste der Textor-Töchter. Man nannte sie ›Prinzessin‹, weil sie ungern Hausarbeiten verrichtete und lieber auf dem Sofa Romane las. Und wie eine Romanszene kam ihr, wie sie später Bettine von Arnim erzählte, die Krönung von Karl VII. vor, die sie als junges Mädchen 1742 erlebte. Das Mädchen war dem Kaiser in die Kirche gefolgt, hatte den schönen Jüngling mit dem melancholischen Blick beten und die langen schwarzen Augenwimpern aufschlagen gesehen. Die Posthörner, die sein Erscheinen ankündigten, konnte sie nie mehr vergessen. Einmal, so glaubte sie, hatte der Kaiser ihr vom Pferd herab sogar zugenickt. So fühlte sie sich auserwählt, und deshalb war sechs Jahre später die Verheiratung der Achtzehnjährigen mit dem einundzwanzig Jahre älteren Johann Caspar keine besonders große Sache. Sie heiratete »ohne bestimmte Neigung«, obwohl Johann Caspar doch auch ein »schöner Mann« war.

Als Johann Caspar Goethe 1748 die Schultheiß-Tochter heiratete, kam ein weiteres Hindernis für die Aufnahme in den Rat hinzu, denn es galten in der Stadt strenge Regeln gegen Vetternwirtschaft. So blieb Johann Caspar ›Partikulier‹. Er privatisierte, beschäftigt mit der Verwaltung seines Vermögens, mit dem Schreiben seiner Reiseerinnerungen, mit dem Sammeln von Büchern und Bildern, mit einer Seidenraupenzucht und mit der Erziehung seiner Kinder, vor allem mit der des vielversprechenden Johann Wolfgang.

Ob es sich mit dem Werdegang des Kaiserlichen Rates wirklich so verhielt, wie es Goethe andeutet, wissen wir nicht. Ob es ihm an Ehrgeiz mangelte, an Geschäftstüchtigkeit, ob seine juristischen Kenntnisse zu akademisch und nicht genügend praktisch gerichtet waren, ob es Vorbehalte gab gegen einen Gastwirtssohn, der vielleicht zu stolz auftrat, ob ihm seine Anhänglichkeit an den Wittelsbacher Karl VII. bei den Habsburgischen Nachfolgern zum Nachteil ausschlug – vielleicht hat alles zusammen den beruflichen Erfolg verhindert. Immerhin war der Vater, glaubt man der Darstellung des Sohnes, mit seiner Stellung durchaus zufrieden. Meinem Vater war sein eigner Lebensgang bis dahin ziemlich nach Wunsch gelungen.

Wahrscheinlich aber gab es doch Probleme. Sie werden sogar in der sonst eher auf Harmonisierung und Glättung bedachten Darstellung von »Dichtung und Wahrheit« angedeutet. Beispielsweise wird berichtet, wie der Knabe von den Spielkameraden Despektierliches über seine Herkunft zu hören bekam. Der Vater sei wohl gar nicht ehrlich geboren, sondern dem Wiesenhofwirt nur untergeschoben. Ein vornehmer Mann habe diesen dazu gebracht, äußerlich Vaterstelle zu vertreten. Doch statt nun, erzählt Goethe weiter, die Verleumder an den Haaren zu ziehen oder aber sich zu schämen, habe dieses Gerücht seinem Selbstgefühl geschmeichelt: Es wollte mir gar nicht mißfallen, der Enkel irgend eines vornehmen Herrn zu sein. Der Knabe suchte von nun an in den Bildnissen vornehmer Herren nach Ähnlichkeiten und dachte sich einen ganzen Roman aus über seine adlige Abkunft. Es sei ihm eine Art von sittlicher Krankheit eingeimpft worden, schreibt Goethe und beschließt die Darstellung dieser Episode mit einer selbstkritischen moralischen Reflexion: So wahr ist es, daß alles was den Menschen innerlich in seinem Dünkel bestärkt, seiner heimlichen Eitelkeit schmeichelt, ihm dergestalt höchlich erwünscht ist, daß er nicht weiter fragt, ob es ihm sonst auf irgend eine Weise zur Ehre oder zur Schmach gereichen könne. Auffällig dieses unbeirrbare Selbstgefühl des Knaben. Mit dem, was andern Leuten genügt, kann ich nicht fertig werden, sagte er einmal. Da war er sieben Jahre alt.

Die Episode zeigt nicht nur einen eitlen Knaben, sondern deutet auch darauf hin, daß die gesellschaftliche Stellung des Vaters nicht unumstritten war. Zu dessen Ansehen trug auch nicht bei, daß er mit der jungen Familie in dem Hause seiner Mutter, der Weidenhofwirtin, lebte. Bis zum Tode dieser Großmutter, deren sich Goethe als einer schönen, hagern, immer weiß und reinlich gekleideten Frau erinnert, war der Vater also noch nicht Herr im Haus am Hirschgraben und mußte mit der Realisierung seiner großen Pläne warten. Das...

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