Zwei Arten leben eng zusammen
Eine problembelastete Beziehung
Warum haben eigentlich so viele Menschen Probleme mit ihrem Hund? Warum streiten wir uns über alle möglichen Verhaltensfragen?
Viele Wissenschaftler argumentieren, dass wir Menschen uns nicht in die typischen Grundsätzlichkeiten von Kanidengesellschaften hineindenken können, weil wir gemeinsame Vorfahren aus der Affenwelt haben, wo oft hierarchische Zweckgesellschaften vorherrschen. Diese Hierarchie bringt vorwiegend Vorteile für den, der oben an der Spitze ist, weil Nahrung zum Beispiel sehr gut individuell gesucht und verteidigt werden kann. Männliche Tiere haben hier das Sagen.
Ein solches Verhalten entspricht nicht dem von Kanidengruppen, deren Zweckgemeinschaften eben gerade nicht streng hierarchisch funktionieren. Kein Wunder also, dass wir ein anderes Verständnis von Sozialverhalten haben als unsere Haushunde.
Damit wir als Hundehalter überhaupt verstehen, mit wem wir zusammenleben, ist es unsere Pflicht, Wölfe und andere Kaniden samt ihrer Gruppenstrukturen ernst zu nehmen und uns an deren Regeln zu orientieren.
Sie fragen sich vielleicht zu Recht, warum Sie sich an den Regeln Ihres Hundes orientieren sollen, statt er sich an den Ihren. Fakt ist, Sie leben mit einer anderen Spezies gemeinsam in einem Haushalt. Natürlich brauchen Sie überhaupt keine Rücksicht auf das kanidentypische Verhalten Ihres Tieres zu nehmen und können Ihr Leben ausschließlich nach Primatenregeln führen. Die Ihnen anvertraute Hundeseele würde sich nicht wehren können und die Welt nicht mehr verstehen. Wenn Sie aber ein harmonisches Zusammenleben erreichen wollen, sollten Sie sich über das Wesen informieren, mit dem Sie einen Haushalt teilen.
Und schließlich sei noch mit einem kleinen Augenzwinkern erwähnt, dass es für uns Menschen gar nicht mal so schlecht ist, von Wölfen zu lernen. Im Laufe des Buches werden Sie erkennen, dass Wölfe manchmal die „besseren Menschen“ sind.
Günther Bloch und Timber gestalten sowohl ihre aktiven als auch ihre inaktiven Phasen gemeinsam. Hier machen sie ein gemeinsames Nickerchen auf der Couch, ohne dass das irgendeine Bedeutung für die viel gerühmte „Alphaposition“ hat.
Behauptet wird …
… Die Beziehung Mensch-Hund ist einmalig, weil sich hier zwei unterschiedliche Arten sozialisieren, zu Kooperationspartnern werden und sich auf der Gefühlsebene austauschen. In der Tierwelt gibt es weder zwischenartliche Beziehungen noch ein Zusammenleben zweier Arten auf Lebenszeit.
Fakt ist …
… Auch wenn wir es gerne glauben möchten, dass die Beziehung zwischen Mensch und Hund so einmalig sein soll, entspricht dies nicht den Tatsachen. Viele Tierarten, auch Wölfe, bilden durchaus gut funktionierende Zweckgemeinschaften (Symbiosen) in freier Wildbahn. Als Beispiele seien hier nur die zeitlimitierten Jagdgemeinschaften zwischen Kojote und Dachs, Bär und Fuchs oder die Zusammenarbeit zwischen Honigdachs und Honigvogel genannt. Sie alle sind symbiotische Verhältnisse.
Ganz anders ist die Beziehung zwischen Wolf und Rabe, die in einer sozialen Mischgruppe zeitlebens eng zusammenleben. Im Laufe ihrer intensiven Freilandbeobachtungen stellten Günther Bloch und seine Kollegen fest, dass stets dieselben Rabenfamilien in der Nähe derselben Wolfsfamilien nisteten, gemeinsam mit ihnen auf die Jagd gingen und nach Hause zurückkehrten (siehe Literaturhinweis „Wolf und Rabe“).
Zwei Arten, die aufeinander geprägt worden sind, bildeten also eine gemeinsame soziale Mischgruppe.
Von dem Moment an, wo ein Welpe aus der Höhle klettert, gibt es keinen Tag, an dem er nicht mit Raben zu tun hat. Neben dem Rest seiner vierbeinigen Familie, deren Geruch er sich einprägt, lernt er auch die gefiederten „Familienmitglieder“ und deren Geruch kennen. Er speichert den strengen Geruch der Rabenfedern in seinem Gehirn ab – für sein ganzes Leben. Das eben ist eine Sozialisation und keine einfache Symbiose.
Grundsätzlich ist so eine Wolfshöhle äußerst interessant für Raben. Da ihr Verhalten stark futtermotiviert ist, warten sie darauf, dass etwas für sie abfällt, wenn die erwachsenen Wölfe Fleisch für ihre Kleinen hervorwürgen oder Futterbrocken mit zur Höhle bringen. So lernen schon die jungen Rabenvögel, wie weit sie sich Wölfen nähern können und wie sich diese verhalten. Neben ihren Geschwistern sind die schwarzen gefiederten Gesellen die ersten Spielkameraden der kleinen Wölfe. Sie spielen Fangen oder jagen sich gegenseitig Knochen und Fellreste ab. Sie toben gemeinsam umher und interagieren im Spiel (Im-Kreis-Laufen, gegenseitiges Austricksen und Ähnliches), was eine gefühlsbetonte Ebene deutlich zum Ausdruck bringt. Unterdessen scheinen die Wolfseltern froh zu sein, vom Unterhaltungsprogramm für ihre Zöglinge kurzfristig entbunden zu werden.
Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Raben gehört es, die Wölfe (auch die erwachsenen Tiere) zu necken, am Schwanz zu ziehen oder ihnen provozierend – und genau kalkuliert – dicht vor der Schnauze herumzuhüpfen. So finden sowohl zwischen erwachsenen Wölfen und Raben als auch zwischen Wolfswelpen und Raben eine ständige Interaktion und Kommunikation statt.
Der Rabenexperte Professor Bernd Heinrich beschreibt zum Beispiel den Futterruf der Raben als ein vitales „Jaa-huaaa!“. Die Warnrufe der großen Vögel alarmieren die Wölfe vor herannahenden Feinden wie Bären oder Pumas, und ohne die Unterstützung der Wölfe können die schwarzen Gesellen keinen Kadaver öffnen. Wölfe helfen den Raben, ihre Angst vor Neuem (Neophobie) zu überwinden. Die schwarzen Vögel sind nämlich, entgegen ihrem forschen Auftreten, auch sehr ängstlich. So konnten wir beobachten, dass sie sich einer Beute, die nicht von Wölfen getötet wurde, nur sehr selten und dann äußerst vorsichtig nähern, wohingegen sie sich bei einem Beuteriss vom Wolf ohne zu zögern auf den Kadaver stürzen.
Beide Spezies haben also ihr ganzes Leben lang einen Nutzen von ihrer Beziehung. Sie gehen nicht nur eine Symbiose auf bestimmte Zeit ein, sondern leben – wie Mensch und Hund – ein Leben lang in einer sozialen Mischgruppe zusammen. Dies weist auf eine gemeinsame, evolutionäre Geschichte hin. Bernd Heinrich spricht sogar aufgrund eines Millionen Jahre langen Beziehungsaufbaus zwischen beiden Arten von Wolfsgenen in Raben beziehungsweise Rabengenen in Wölfen.
Fazit: Neben der Beziehung Mensch-Hund gibt es in der Tierwelt noch andere Beziehungen zweier Arten, die durch langfristige Sozialisation (im Gegensatz zur kurzfristigen Symbiose) entstanden sind, wie das Beispiel Wolf-Rabe zeigt.
Bedeutung für den Hundehalter
Wie bereits erwähnt, wird oft argumentiert, dass die Beziehung Mensch-Hund so einmalig ist, weil nur sie durch besondere gegenseitige Emotionen gekennzeichnet sei und außerdem der Hund stets die Gesellschaft von Menschen der anderer Hunde vorziehe. Dass Letzteres nicht so ist, können wir anhand von drei Beispielen belegen:
Wie die Verhaltensstudien von Günther Bloch an verwilderten Haushunden in Italien eindeutig belegten, zogen die nicht auf Menschen sozialisierten und im Wald lebenden Hunde die Nähe zu ihresgleichen eindeutig den Tierschützern vor, obwohl diese sie jeden Tag fütterten.
Gut auf Schafe und Ziegen sozialisierte Herdenschutzhunde sind dafür bekannt, dass sie die Nähe ihrer Schutzbefohlenen eindeutig Menschen vorziehen.
Selbst ganz normale Haushunde die mit mehreren Hunden zusammenleben, zeigen nicht pauschal, aber doch recht häufig größeres Interesse an ihren Artgenossen als an ihren Menschen.
Offensichtlich geht es also weder bei Wolf und Rabe noch bei den Hunden um Futter.
Fazit: Die frühe Prägung und Sozialisation auf eine andere Spezies hat der Hund vom Wolf „geerbt“. Aber er hat nicht nur die soziale Fähigkeit entwickelt, mit dem Menschen zu leben, sondern auch mit anderen Arten, die zum Haushalt gehören und mit denen er gemeinsam eine soziale Gruppe bildet. Wobei dies jedoch nur speziell für diese Gruppe im Haus gilt. Jeder Hundehalter, dessen Tier mit Vögeln, Katzen oder Kaninchen groß geworden ist, weiß, dass der Hund diese Tiere zu Hause als eigene Gruppe akzeptiert und ihnen nichts tut. Das bedeutet jedoch nicht, dass Bello von nun an draußen in Feld und Flur nicht mehr nach Vögeln, Katzen oder Kaninchen jagt. Darum Vorsicht! Verwechseln Sie nicht die Sozialisation auf Mitglieder innerhalb der eigenen Gruppe mit dem Verhalten Fremdtieren aus anderen Gruppen gegenüber.
Beispiele von frei lebenden Wölfen
Banff: Jedem Wolfsklan seine eigene Rabenfamilie
Im Sommer 2007 zog, etwa 100 Meter von der traditionellen Höhle der Bowtal-Wolfsfamilie entfernt, ein Rabenpaar drei Jungtiere auf. Die Rabenfamilie war uns vertraut. Die Elterntiere nisteten schon seit Jahren hier. Darum nennen wir sie mittlerweile längst die „Bowtal-Raben“. Man kennt sich persönlich; gemeinsame Familienkultur ist Trumpf. Auch Leitweibchen Delinda war diesen Vögeln gegenüber wieder sehr tolerant. Ganz so wie ihr Lebensgefährte Nanuk und deren erwachsener Nachwuchs und genau so wie die vielen Bowtal-Wölfe vor ihnen.
Auch Fluffy, Delindas Tochter, zeigte im Sommer 2009 das gleiche soziale Interesse an den Raben. Offensichtlich fand hier erneut das übliche Ritual statt: Eine umfangreiche Sozialisation, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Mütter leben quasi ihren...