Mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl bekamen einen Knacks.
Durch die Krankheit wurde ich sehr schnell erwachsen. Ich war nicht mehr so ungezwungen, sondern nachdenklicher und stiller. Trotzdem kam langsam meine Lebensfreude zurück. Ich ging mit Freunden bis spät in die Nacht in die Disco und wir hingen oft in unserem Park herum und feierten. Ich versuchte alles mitzumachen, so wie alle anderen jungen Menschen in den Siebzigern. Ich wollte auf keinen Fall zum Außenseiter werden, und wenn ich wusste, dass es zum Feiern ging, aß ich den ganzen Tag nichts, sodass ich abends nicht so oft zur Toilette musste. Mein Gewicht hielt sich so um die 50 Kilo.
Trotz des Wissens, eine chronische Krankheit zu haben, verdrängte ich diese Tatsache weitgehend. Außer den häufigen Toilettengängen, dem lauten Gebrummel meines nach den Mahlzeiten oft geblähten Bauchs und dem gelegentlichen Kneifen darin, fühlte ich mich wohl.
Im Frühjahr 1979 wurden meine Stuhlgänge jedoch wieder zahlreicher. Wenn ich unterwegs war, gewöhnte ich mir an, ständig nach einer Toilette Ausschau zu halten. Trotzdem gelang es mir nicht immer, peinliche Situationen zu vermeiden.
Mit der Zeit kannte ich jedes WC, das sich in meinem Umfeld befand. Bei Verwandten, Freunden und Menschen, die um mein Problem wussten, klingelte ich oft Sturm und eilte sofort ins Bad. Oft entledigte ich mich schon von Jacke, Mantel oder Ähnlichem im Hausflur und ließ einfach diese Kleidungsstücke auf dem Weg zum Bad hinter mir fallen. Häufig stürmte ich auch schnell ins Gebüsch.
Schließlich verliebte ich mich aufs Neue und war nun mit Fred, einem sehr liebevollen Mann zusammen. Er zeigte Verständnis für meine Krankheit und aus der Verliebtheit wurde eine große Liebe.
Fred und ich waren Rolling Stones Fans und besorgten uns Karten für ein Konzert in Köln im Müngersdorfer Stadion. Eigentlich vermied ich große öffentliche Veranstaltungen, doch dieses Erlebnis wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich freute mich riesig darauf.
Um möglichst wenig auf Toilette gehen zu müssen, aß ich drei Tage vor dem Konzert nichts. Auch das Trinken vermied ich weitgehend.
Aufgeregt und aufgedreht fuhren wir mit dem Zug nach Köln. Meinen Hunger spürte ich nicht mehr, denn ich war überglücklich mit meinem geliebten Fred zusammen dieses tolle Event erleben zu dürfen.
Schon nachmittags waren wir im Stadion. Das Wetter war super. BAP, die Vorgruppe hatte ein „Heimspiel.ˮ Die Stimmung war einfach überwältigend.
Schon lange war ich nicht mehr so ausgelassen und fröhlich gewesen. Fred hatte mich noch nie so erlebt. Manchmal bemerkte ich aus den Augenwinkeln seinen Blick und er schien etwas irritiert zu sein. Doch ich beachtete dies nicht weiter. Ich wollte einfach nur feiern.
Als das Konzert der Rolling Stones begann, tobte das Stadion. Wir hatten billige Stehkarten und leider konnte ich die Bühne von dem Platz, an dem wir standen, nicht richtig sehen.
Ausgelassen bat ich Fred, mit mir weiter nach vorn zu gehen, doch er schüttelte den Kopf, und da es durch die Musik sehr laut war, verstand ich nur, dass er mir zurief: „Geh du nach vorn.“ Ich lachte ihn glücklich an, deutete ihm, dass ich zu dem Platz, an dem wir gerade standen, zurückkehren wollte. Ich drängelte und quetschte mich weiter nach vorn. Irgendwie schaffte ich es, bis in die erste Reihe zu kommen.
Zu meiner Überraschung traf ich dort gute Freunde und trank mit ihnen ausgelassen ein Bier. Nun wollte ich unbedingt Fred dazu holen und quetschte mich zurück durch die Menschmenge zu ihm.
Mein Magen rebellierte und da es immer noch sehr warm und schwül war, wurde mir etwas schwindelig.
Bei Fred angekommen, sah ich schon an seinem Gesicht, dass er sauer auf mich war. Ich versuchte, ihn zu besänftigen, indem ich ihm erzählte, wen ich vorn an der Bühne unerwartet getroffen hatte.
An seiner Reaktion bemerkte ich erstaunt, dass er nicht überrascht war. Er wusste, dass unserer Freunde im Stadion waren! Ihn zu fragen, warum Fred mir nichts davon erzählte hatte, dazu fehlte mir der Mut.
Mittlerweile hatte ich ein schlechtes Gewissen, Fred allein zurückgelassen zu haben und bedrängte ihn nicht weiter, mit mir zu unserer Clique und näher zu der Bühne vorzudringen. Ich beschloss, den Rest des Konzerts mit ihm am Rande des Stadions zu genießen.
Bald darauf war er wieder mein geliebter, liebevoller und herzlicher Gefährte. Er bemerkte besorgt, dass durch meinen Verzicht auf Essen und Trinken und meinem ohnehin niedrigen Blutdruck mein Kreislauf etwas aus dem Ruder lief. Wir setzten uns an den Rand des Stadions und Fred kümmerte sich rührend um mich.
Es wurde, trotz des unerfreulichen Zwischenfalls, ein unvergessenes Erlebnis für mich, an das ich mich heute noch gern erinnere.
Sobald ich Früchte, besonders Zitrusfrüchte, rohes Gemüse und Speisen mit Sahne aß, verflüssigte sich mein sowieso schon breiiger Stuhl. Blähende Gemüse vermied ich, denn mein Bauchweh wandelte sich sonst zu massiven Schmerzen.
Unmerklich nahm ich wieder ab.
Bei einer Blutuntersuchung wurden leichte Entzündungszeichen festgestellt und meine Ferritinwerte waren erniedrigt. Um den Eisenmangel auszugleichen, bekam ich Eryfer-Tabletten. Oft fühlte ich mich schlapp und müde.
Im Sommer 1979 wurden meine Bauchschmerzen immer heftiger. Ich suchte meinen alten väterlichen Hausarzt auf und er versuchte mich mit den Worten: „Mädchen, das ist so bei einem Schub von Morbus Crohn. Wenn du den Schub überwunden hast, geht es dir wieder gut“, zu trösten.
Er verordnete mir das Schmerzmittel Tramal®, ein Opiat, was mir zunächst sehr gut half. Außerdem riet er mir zu einem Hausmittel. Ich sollte heiße, zerquetschte Kartoffeln in einem Leinentuch auf die schmerzenden Stellen zu legen.
Brav befolgte ich seinen Rat.
Doch die Schmerzen wurden immer unerträglicher für mich. Ich verbrachte die meiste Zeit im Bett. Hohes Fieber kam noch hinzu.
An einem Sonntag beabsichtigte meine Mutter, mir etwas Essen hinauf auf mein Zimmer zu bringen. Ich wollte gerade zur Toilette. Die Bauchschmerzen waren so heftig, dass ich sie mit den Schmerztropfen nicht mehr unterdrücken konnte.
Ich kroch gerade auf allen Vieren in Richtung Bad, als meine Mutter die Treppe hinauf kam. Als ich sie die Stufen hinaufeilen hörte, versuchte ich aufzustehen, um sie nicht zu erschrecken, doch es gelang mir nicht.
Als meine Mutter mich so sah, erschrak sie sehr. Sie rief umgehend den Notarzt. Der Doktor kam unverzüglich, machte einen Bluttest und schon eine Stunde später lag ich auf dem Operationstisch.
Die Schmerzen waren inzwischen so stark, dass es mir vollkommen egal war, was nun mit mir geschah. Ich ersehnte nur eins: Diese unerträglichen Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen!
Ich bekam die Vorbereitungen der Notoperation komplett mit. Einige Ärzte, die zum Notdienst eingeteilt waren, kamen herbeigeeilt. Ich hörte, wie sie sich unterhielten, während sie sich die Hände wuschen. Der Anästhesist überprüfte meinen Blutdruck, während er mich nach meinem Gewicht, meiner Körpergröße und so weiter fragte. Langsam spritzte er ein Narkosemittel. Ich spürte, wie ich leicht müde wurde, doch mir wurde auch unglaublich übel.
Ich lag auf dem Rücken. Schlagartig musste ich mich übergeben. Ein Schwall undefinierbarer Flüssigkeit schoss aus meinem Mund und ich konnte gerade noch so den Kopf zur Seite nehmen.
Hinter mir hörte ich eine Stimme, die schimpfte:
„Jetzt kotzt die Sau auch noch!ˮ
Empört wollte ich hinter mich sehen, doch ich konnte mich nicht mehr bewegen, mir wurde schwarz vor Augen, die Lider schwer und ich versank in die Narkose.
Das Erste, das ich wahrnahm, als ich wieder zu mir kam, waren die leuchtend blauen Augen von Fred. Er streichelte meine Hand und sah mich besorgt an. Danach sah ich in die verweinten und rot umrandeten Augen meiner Mutter. Ich bemerkte, wie mein Vater, nervös wie ein Hamster in Laufrad, im Zimmer auf und ab lief.
Ich lag auf der Intensivstation des Krankenhauses.
Diagnose: Blinddarmdurchbruch! Bauchfellvereiterung.
Ich hatte den kleinen Wurmfortsatz, der ohnehin schon entzündet war, durch die heißen Kartoffeln zum Platzen gebracht! Hierdurch bekam ich folglich auch noch eine Vereiterung im Bauchraum.
Die nächsten zwei Wochen blieb ich auf der Intensivstation. Ich bekam Bluttransfusionen, ein Antibiotikum und zum ersten Mal Cortison.
Fred besuchte mich jeden Tag. Wir unterhielten uns lange und er schmiedete Zukunftspläne für uns. Er wollte mit mir zusammenziehen.
Auch meine Eltern besuchten mich regelmäßig. Meiner Mutter sah ich oft, bevor sie auch nur einen Ton sagte, ihre Angst, die sie um mich hatte, an. Sie tat mir sehr leid, und solange sie mich besuchte, versteckte ich so gut es ging meine Schmerzen.
Von Beginn meiner Krankheit an hatte ich immer ein schlechtes Gefühl gegenüber Menschen, die ich lieb hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich wegen mir sorgten, und lernte daher schnell, meine...