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Gewachsen im Schatten

Geschichte einer Befreiung

AutorAnnemarie Regensburger
VerlagTyrolia
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783702233129
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Weithin sichtbar dominiert das barocke Stift mit den markanten Zwiebeltürmen und der Reiterstatue Meinhards II. auf dem Dachgiebel das kleine Oberländer Dorf, in welches das Kind Annemarie 1948 hineingeboren wird. Es sind ärmliche Verhältnisse, die dort herrschen, geprägt von den Traumata der Nachkriegszeit und dem ländlichen Alltag, ebenso wie von einem starken Katholizismus und einem sehr traditionellen Frauenbild. Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Schrecken für dieses teils beschützte teils einengende und ausgrenzende Kleinklima wächst sie heran und ringt mit den Schicksalsschlägen, die das Leben ihr bereitet: der frühe Tod der Mutter, die Aufteilung der Kinder auf Pflegefamilien, die Geldsorgen, die ihren eigenen Träumen und Wünschen im Wege stehen, vor allem aber die schwere psychische Erkrankung des Vaters und seine Aufenthalte im Haller Krankenhaus, die praktisch den Rahmen bilden für dieses literarische Sittenbild aus einem Tirol des vorigen Jahrhunderts. Bekannt und gewürdigt für ihre kritische Mundartdichtung findet Annemarie Regensburger auch in diesen berührenden autobiografischen Erinnerungen eine unmittelbare, vom Dialekt geprägte und doch sehr klangvolle Sprache um auf ein entbehrungsreiches Leben zurückzublicken und gegen Sprachlosigkeit, gesellschaftliche Missstände, überkommene Moralvorstellungen das Wort zu erheben.

Annemarie Regensburger, geb. 1948 in Stams, schreibt seit 1980 in Lyrik und Prosa, zahlreiche Veröffentlichungen, darunter 'Durchkreuzte Wege' (Tyrolia 2002), 'Der kluene Prinz - Tirolerisch' (Verlag M. Naumann 2003), Beiträge in verschiedenen Kulturzeitschriften und Anthologien, Kiwanis-Literaturpreise 1989, 1993 und 1995, Leopold-Wandl-Preisträgerin 2006.

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Leseprobe

Von Anfang an ist sie da, die Angst.

Das Kind liegt im Bett, hat Hunger.

Alle sind auf dem Feld. Es darf sogar in Mamas Kammer liegen, denn es ist krank, hat Gelbsucht. Das Kind malt sich aus, wie gut das Brot schmecken würde, wenn es sich getraute, in die Küche zu gehen. Es kann nicht. Warum? Es weiß es nicht. Es liegt wie gelähmt im Bett, spürt den Hunger und traut sich nicht, aus der Kammer zu gehen. Die Mama hat dem Kind auf alle Fälle einen Nachttopf unter das Bett gestellt. Für diese Not ist vorgesorgt. Doch das Brot hat sie vergessen.

Der Hunger wird größer. Das Kind beginnt sich auszumalen: „Ih kannt aus’n Bett hupfn, bis zur Tür giahn, die Kammertür aumachn, schaugn, ob niemed daußn isch, i’ den langen, hoachn, unhuemling Hausgang bis zur Kuchetür springen, aumachn, zur Broutschublad giahn, aumachn, a Stuck ochebrechn und gach zruggspringen.“ Das Herz schlägt dem Kind bis zum Hals.

Es ist sieben, geht zur Schule, weiß, dass niemand im Haus ist. Es liegt schweißgebadet im Bett, wagt nicht, sich zu bewegen. Es ist starr vor Schreck. Das Kind schläft ein.

Irgendwann hört es die Mama: „Ja, hasch dir kue Brout kholt? Ih han dir extra uas mit Butter und Marmelad auf’n Tisch gschtellt.“

„Ih han mih nit traut.“

„Was bisch’n fiar a Hosnscheißer, siesch bisch ouh gscheid.“

Doch das weiß das Kind bereits.

Einmal, das Kind ist sechs, geht noch in den Kindergarten, sitzt es am Boden im Hexenhaus und wartet. Es hat überhaupt keine Angst. Seine Hauptrolle kann es auswendig und die anderen Rollen noch dazu. Es dauert dem Kind nun schon viel zu lang. Es will zeigen, was es kann. Es hat Hunger, sieht das Lebkuchenherz im hinteren Fenster des Hexenhauses. Das Herz des Kindes beginnt laut zu klopfen. Die Kindergartenschwester hat verboten, etwas vom Hexenhaus wegzunaschen. Draußen hört das Kind Hänsel und Gretel kommen. Es murmelt deren Sätze vor sich hin. „Ja, dejs dertue ih nouh“, sagt das Kind halblaut, reißt das Lebkuchenherz herunter, steckt ein Stück davon in den Mund. Da, sein Einsatz! Das Stück ausspucken, eine Kugel formen, hinlegen. Mit dem süßen Geschmack im Mund steht das Kind vor den Menschen. In der zweiten Reihe sitzen die Mama und die beiden Schwestern. Das Kind sagt seinen Text als Hexe wie geschmiert. Alle lachen, klatschen mit den Händen. Im Bauch hat das Kind ein kribbelndes Gefühl. Das schmeckt besser als das Lebkuchenherz. Zurück im Hexenhaus, isst das Kind den Rest auf.

Die beiden Schwestern sitzen am See.

„Du willst wissen, wann ich mich das erste Mal an dich erinnere? Ich war gerade sieben. Jeden Tag gegen Abend hab ich für dich die Milch zu einer alten Frau bringen müssen. Eine halbe Stunde am Waldrand entlang hin und eine halbe Stunde zurück. Bevor du auf die Welt kamst, sind unsere zwei Brüder gestorben. Deshalb hat dich die Mama, obwohl du erst zwei Monate alt warst, zu dieser Frau gegeben. Sie wollte, dass wenigstens du am Leben bleibst. Unsere Mama hat für zwei arbeiten müssen, dein Vater war damals schon sehr verstört und ist den ganzen Tag im Bett gelegen. Ich hab mir oft gewünscht, dass du auch stirbst, denn ich hab mich sehr gefürchtet, am Abend so nah am dunklen Wald die Milch zu tragen.“

Die Schwestern blicken auf den See hinaus. Die Sonne wirft die letzten Strahlen über das Wasser. Es glitzert wie tausend Sterntaler.

„Wann ich mich das erste Mal an dich erinnere? Ich weiß es nicht mehr. Der Schock hat alles Erinnern gelöscht. Viele Jahre wusste ich nichts mehr von vorher. Alles lag wie im Nebel. Nur das Fürchten, das Verschrecktsein und die Angst vor den Männern verdeutlichten, dass es ein Vorher gab. Später kamen dann manchmal lustige Bilder durch. Einmal hat das Hannele dir eine lebende Maus in deine ärmellose Bluse gesteckt. Haben wir bei der Mama wirklich so eine Bluse anziehen dürfen?“

„Ja, und sogar eine kurze Hose. Mit der bin ich aufgestanden, wie ich mit dem Kuhfuhrwerk beim Frauenkloster vorbeigefahren bin, damit sie es sehen. Der Pater hat am darauffolgenden Sonntag darüber gepredigt.“

„Und weißt du, was du singen können hast? ‚Brennend heißer Wüstensand, fern, so fern dem Heimatland. Kein Herz, kein Schmerz.‘ Immer hab ich mir ausgemalt, wo dieses Land sein könnte. Du hast immer arbeiten müssen und warst böse, dass das Hannele immer gesagt hat, dass sie Hausaufgaben machen muss. Die Nale hat gegen dich und die Mama gehetzt, und manches Mal hat die Mama geschrien: ‚Hat ih decht nit den Balg.‘ Aber sie ist doch froh um dich gewesen.“

Das Kind ist fünf. Es ist Osterzeit. Die Kindergartenschwester erzählt den Kindern von Jesus, wie viel er für die Sünden der Menschen gelitten hat. Das Kind nimmt sich vor, von nun an immer brav zu sein. Eine Ostergeschichte gefällt dem Kind besonders gut. Nach Ostern kommt zum ersten Mal eine geistliche Inspektorin in den Kindergarten. Die junge Schwester ist aufgeregt. Am Morgen gibt sie letzte Anweisungen zum Bravsein und erzählt den Kindern noch eine Don-Bosco-Geschichte.

Es klopft. Die Inspektorin kommt mit der Schwester Oberin herein. Sie ist freundlich. Die Kinder dürfen sich setzen.

„Was wisst ihr von Ostern?“

Schweigen.

Das Kind steht auf. Die Inspektorin sieht zum Kind hin.

„Woasch, zwoa habm fescht pleart, wie der Jesus gstorbm isch. In Fald daußn habm se anonder derzählt, wie se nouh traurig sein.“

Das Kind schluckt. Die Inspektorin wartet gespannt.

„Noche sein se uan begegnet, dear isch mit ene gangen. Dear hat ene noche grad aso wie inser Mama ’s Brout ausanondertoalt. Da habm sen wieder kennt. Sie habm gschpiert, dass dejs lei der Jesus sein kann.“

Die Kindergartenschwester strahlt. Die Schwester Oberin und die Inspektorin schenken der jungen Kindergartenschwester einen anerkennenden Blick. Sie sind erstaunt, was sich ein so kleines Bauernmädchen alles merken kann. Das Kind darf sich setzen. Die anderen Kinder klatschen. Das Kind verspürt ein Kribbeln im Bauch und ist glücklich.

Langsam beruhigt sich der See. Nur noch vereinzelt glitzern Sonnensterne auf dem Wasser. Bald wird die Sonne untergehen.

„Weißt du noch, wie uns die Tante vom Unterland Pakete geschickt hat?“

„Ich hab diese Tante nicht mögen. Als unsere Mutter gestorben ist, haben mich Mamas Schwestern im ersten Winter im Unterland in ein Hotel zum Arbeiten gesteckt. Ich war erst sechzehn und hatte von den Männern noch keine Ahnung. Die Tante hat mich in der Freizeit nie zu sich eingeladen. Aber wenn sie ins Klosterdorf gefahren ist, hat sie den Leuten erzählt, dass ich nur auf Männer aus sei.“

„Aber Pakete hat sie uns früher schon geschickt. Ich weiß noch gut, wie in so einem Paket eine Spielhose mit Rüschenträgern war. Aber die Mama hat gesagt, dass sie mir noch viel zu groß sei, und hat sie dem Hannele gegeben. Ich weiß noch gut, wie ich wild geschrien hab.“

„Ja, einen hochroten Kopf hast du gekriegt. Dann hat die Mama geschrien, dass wir schnell zum Bach laufen müssen. Beide haben wir dich an Händen und Füßen gehalten, sind durch den Vorstall bei der hinteren Tür hinaus, beim ‚Patschklosett‘ zum Bach. Du hast gestampft, so fest du konntest, und dann das Bewusstsein verloren. Wir haben dich mit dem Kopf ins eiskalte Wasser getaucht. Dann haben wir dich wieder langsam herausgezogen. Ein paarmal hast du noch geschluckt, die Augen verdreht, und dann bist du wieder zu dir gekommen. Ich hab, bis du aufgewacht bist, große Angst gehabt. Das Hannele ist lachend mit der Spielhose in der Hand vor der Haustür gestanden. Auch die Mama war froh, wie du wieder aufgewacht bist. Der Hausarzt hat ihr geraten, dass sie dich, wenn du so schreist, in den Dorfbach halten soll. Zwei Brüder sind ja vorher an den ‚schreietn Fraisn‘ gestorben.“

Der Blick der Frau fällt auf den Grabstein, der aber nicht auf dem Friedhof steht. Dort wurde das Kindergrab längst aufgelassen. „Hier ruht unser liebes Kind Alois“ ist in verschnörkelter Schrift eingraviert. Unser liebes Kind Alois, geboren am 15. September 1945, gestorben am 22. November 1945.

Alois,
mein Bruder Alois. Nichts weiß ich von dir, nur diese zwei Zahlen, nichts von dem zwischen den Zahlen. Sieben Wochen hast du gelebt. Der Stammhalter solltest du werden. Geboren am selben Tag wie unsere Schwester, das Hannele, genau ein Jahr später. Warum sie dich Alois nannten? Vielleicht weil dein Onkel, Mamas Bruder, Alois geheißen hat? 1945, der Krieg war aus. Mamas Bruder Alois ist nicht von der Front zurückgekehrt. Gefallen für das Vaterland, wie es hieß. Solltest du über Onkels Tod hinwegtrösten? Vermutlich hat sich die Mama mit der Namensgebung durchgesetzt
.

Nichts weiß ich sonst von dir, mein lieber Bruder. Jetzt,...

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