DIE VERFOLGUNG NAZISTISCHER GWALTVERBRECHEN NACH DEM ENDE DES 2. WELTKRIEGES
Als sich die Alliierten Anfang Februar 1945 auf der Krim zur sogenannten Konferenz von Jalta trafen, war auch die Bestrafung der Kriegsverbrecher Gegenstand der Beratungen. Man kam überein: »Nur dann, wenn Nationalsozialismus und Militarismus ausgerottet sind, wird für die Deutschen Hoffnung auf ein würdiges Leben und einen Platz in der Völkergemeinschaft bestehen.« In den Beschlüssen der Konferenz wurde festgehalten: »Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, dass Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören. Wir sind entschlossen […] alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen […] die nationalsozialistische Partei, die nationalsozialistischen Gesetze, Organisationen und Einrichtungen zu beseitigen, alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse aus den öffentlichen Dienststellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes auszuschalten.«
Im Ergebnis des erneuten Treffens der Alliierten in Potsdam vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 kam es zum Abschluss des Potsdamer Abkommens. Dort heißt es unter III A 5: »Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Gräuel und Kriegsverbrechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. Nazistische Parteiführer, einflussreiche Nazianhänger und die Leiter der nazistischen Ämter und Organisationen und alle anderen Personen, die für die Besetzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren.« Kurze Zeit darauf wurde im August 1945 das Viermächte-Abkommen »über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse« verabschiedet. Artikel 1 dieses Abkommens sah die Bildung eines Internationalen Militärgerichtshofs vor, »zur Aburteilung der Kriegsverbrecher, für deren Verbrechen ein geografisch bestimmbarer Tatort nicht vorhanden ist, gleichgültig, ob sie angeklagt sind als Einzelpersonen oder in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Organisationen oder Gruppen oder in beiden Eigenschaften«.
Bestandteil dieses Abkommens ist das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof. Hierin wurde unter anderem festgelegt, welche Handlungen Verbrechen darstellen, »die der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterliegen und für die persönliche Verantwortlichkeit besteht«. Das waren Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter Letzterem verstand das Statut »Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen […] Anführer, Organisatoren, Anstifter und Mitschuldige, die am Entwurf der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen beteiligt sind, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.« (Artikel 6) Dabei wurde in Artikel 8 ausdrücklich vorgesehen: »Die Tatsache, dass ein Angeklagter auf Befehl seiner Regierung oder eines Vorgesetzten gehandelt hat, gilt nicht als Strafausschließungsgrund, kann aber als Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden.« Auf dieser Grundlage kam es zum Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, in dessen Folge Hermann Göring, Rudolf Heß und andere Nazis zum Tod oder langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Es folgten zwölf weitere Prozesse vor amerikanischen Militärgerichten in Nürnberg, unter anderem gegen Ärzte, Juristen, Angehörige von Konzentrationslagern. Auch hier wurden Todesstrafen, lebenslängliche und zeitlich beschränkte Freiheitsstrafen ausgesprochen.
Wesentliche Rechtsgrundlage war das von den Alliierten am 20. Dezember 1945 erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 10. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten – Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik – wurde sukzessive die Verantwortung für die Verfolgung nazistischer Gewalttaten auf die Gerichte des jeweiligen Staates übertragen. In der Sowjetischen Besatzungszone erfolgte dies auf der Grundlage des bereits am 16. August 1947 erlassenen Befehls Nr. 201 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Das Interesse an der Verfolgung der zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen war in beiden deutschen Staaten jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Die Bundesrepublik hat sich dabei über einen sehr langen Zeitraum verhalten »wie der Jagdhund, der zur Jagd getragen werden muss«, wie das Friedrich Karl Kaul am Beispiel der Verfolgung der Tatverdächtigen an der Ermordung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann einmal formuliert hat.
Das Straffreiheitsgesetz von 1949 war ein erster Schritt in diese Richtung, die ganz eindeutig sowohl politisch wie juristisch gewollt war. Dabei fällt auf: »Nicht ein einziger Redner legte offen dar, dass sich die Amnestie auf Straftaten bis hin zur Körperverletzung mit Todesfolge, ja in minderschweren Fällen selbst auf Totschlag erstrecken sollte – und das es solche bisher weder amnestierten noch verjährten Delikte seit der ›Reichskristallnacht‹ nicht eben selten gegeben hatte.« Dieses Fazit zog der Historiker Norbert Frei 1996 in seinem Buch »Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit.« Dem Straffreiheitsgesetz folgte die Wiedereingliederung der aus dem öffentlichen Dienst ausgeschiedenen und mit NS-Vergangenheit belasteten Personen. »Anfang der 50er Jahre ließen die Anstrengungen, Untaten aus der NS-Zeit strafrechtlich zu ahnden, auffallend rasch und drastisch nach.« Frei führt weiter aus: »Einer der Gründe für den unübersehbaren Verfall der Ahndungsmoral so bald nach Entstehung der Bundesrepublik war die durch das ›131er‹-Gesetz garantierte hochgradige personelle Kontinuität im Bereich der Justiz, die, in der Wahrnehmung der Begünstigten, dadurch auch ihre politische Rechtfertigung erfahren zu haben schien. Etliche Staatsanwälte und Richter waren, wie eine Vielzahl verzögerter Ermittlungen, Verfahrenseinstellungen und außerordentlich milder Urteile erweist, in NS-Strafsachen zu einer angemessenen Handhabung der Gesetze immer weniger bereit.« So wundert es nicht: »Die Zahl der neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren sackte in diesem Jahr auf ein Rekordtief ab, und im Jahr darauf wurden lediglich 21 Personen rechtskräftig verurteilt – ein Tiefstand, der bis in die 60er Jahre nur einmal (1959) unterschritten werden sollte.«
Das zweite Straffreiheitsgesetz aus dem Jahr 1954 stärkte diese politische, moralische und juristische Fehlhaltung, indem letztlich »alle jene, die sich vor 1945 an hilflosen und wehrlosen Menschen so mörderisch und viehisch vergangen hatten, begnadigt [wurden], wenn nicht mehr als drei Jahre Freiheitsstrafe zu erwarten waren«, wie der Bundestagsbericht von 1955 festhielt. Die Taten mussten laut »Gesetz über den Erlass von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren vom 17. Juli 1954« nur »in der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere eines Befehls, begangen worden« sein.
Wie bereits dargelegt, galt die Berufung auf Befehl allenfalls als Strafmilderungsgrund. Am 8. Mai 1960 verjährten alle strafrechtlich relevanten Handlungen, die während der Naziherrschaft begangen wurden, wenn sie nicht als Mord einzustufen waren. Eine heftige Debatte im Deutschen Bundestag am 10. März 1965 führte zumindest dazu, dass die drohende Verjährung für Mord nicht eintrat (die Verjährungszeit belief sich damals auf 20 Jahre mit Verjährungsbeginn 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation des NS-Regimes. Dieses Datum wurde später in das Jahr 1949 verschoben). Durch das 9. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1969 verlängerte sich die Verjährungsfrist für Mordtaten auf 30 Jahre, und erst mit dem 16. Strafrechtsänderungsgesetz vom 3. Juli 1979 wurden die Bestimmungen über eine Verjährung bei Mord ganz aufgehoben. Bereits im Jahr 1968 hatten die Vereinten Nationen eine Konvention über die Nichtanwendbarkeit der gesetzlichen Verjährungsfristen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verabschiedet, der die Bundesrepublik allerdings nicht beigetreten ist.
In der Deutschen Demokratischen Republik wurde der Verfolgung von Nazigewaltverbrechern stärkere Aufmerksamkeit gewidmet. Das hing nicht nur damit zusammen, dass zahlreiche Antifaschisten in verantwortlichen Positionen tätig waren, sondern es bestand auch ein breiterer gesellschaftlicher Konsens, diese Verbrechen konsequent zu verfolgen. Die Masse der Verfahren wurde bereits bis zum Jahr 1950 durchgeführt.
Staatsanwalt Peter Przybylski konstatierte in seinem Buch »Zwischen Galgen und Amnestie. Kriegsverbrecherprozesse im Spiegel von Nürnberg«: »Bis zum 31. Dezember 1950 waren bereits 12 147 Personen abgeurteilt, das sind etwa 95 % aller bis zum heutigen Tag auf dem Gebiet der DDR zur Verantwortung gezogenen Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit. Obwohl die DDR nur ein Drittel des Territoriums des ehemaligen Deutschen Reiches umfasst und zahlreiche Naziverbrecher 1945 in die Westzonen bzw. in die BRD geflohen waren, ist die Zahl der hier verurteilten...