Sozialrangordnung bei Wölfen
Wölfe sind große Landraubtiere, die in so genannten Rudeln leben, sich territorial verhalten und im koordinierten Verband große Huftiere erbeuten. So weit die stark vereinfachte Beschreibung des Wolfes, welche man in der Vergangenheit breiten Bevölkerungsschichten vermittelte – inklusive Hundetrainern und meiner Person. Weil der Mensch den verhassten Nahrungskonkurrenten Wolf über Jahrtausende hinweg verfolgte und in vielen Gebieten der nördlichen Hemisphäre sogar ausrottete, handelt es sich heute um ein scheues Tier, das man in freier Wildbahn selten zu Gesicht bekommt. Wenn überhaupt.
Die Fellfärbung des nordamerikanischen Timberwolfes variiert, im Gegensatz zu der des typischen Grauwolfes europäischer Breitengrade, von schneeweiß bis pechschwarz.
In den kanadischen Rocky Mountains haben wir mit einem Anteil von ca. 33% vergleichsweise den höchsten Bestand an schwarzen Wölfen weltweit.
Wölfe in Gefangenschaft
Die überwiegende Mehrheit aller Publikationen zur Verhaltenseinschätzung des Wolfes verbreitet meist nur Informationen, die man an in Gehegen vergesellschafteten Tieren sammelte. Nach Überprüfung von „Gefangenschaftsberichten“ wird deutlich, dass die Gruppenkonstellation eines Wolfsrudels im Gehege sehr oft aus einem Zusammenschluss von Alttieren vieler Generationen nebst Nachwuchs besteht. Zur Aufrechterhaltung der sozialen Gemeinschaft muss es anscheinend eine streng hierarchisch geordnete Hackordnung (Alpha bis Omega) geben. Sie macht Sinn, da der Lebensraum eines Geheges extrem überschaubar ist und kein Tier das Rudel verlassen kann. Auseinandersetzungen zwischen mehreren Alttieren, die alle versuchen ihren Sozialstatus zu verbessern, bleiben zwangsläufig nicht aus. Die Bezeichnung „Rudel“ steht also gedanklich in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff „Rangordnung“. Wie von den Ethologen R. Schenkel (1946), D. Feddersen-Petersen (1992) oder E. Klinghammer (2002) beschrieben, brechen außerdem Streitigkeiten um die Nutzung von Ressourcen (z.B. Futter, Schlafmulden oder erhöhte Liegepositionen) aus. So ist in der Forschungsstation Wolf Park/USA die Trennung eines Rudels leider fast schon an der Tagesordnung. Die Folge: immer mehr Einzelwölfe in Einzelzwingern.
Frei lebende Wölfe
Laut den Biologen D. Mech (1999), D. Smith (2002) und unseren eigenen Untersuchungsergebnissen (Bloch & Bloch, 2002) besteht hingegen in der Wildnis die Tendenz, dass die Sozialstruktur einer typischen Wolfsfamilie nur aus Elterntieren und deren Nachwuchs der letzten zwei bis drei Jahren besteht.
Auch wenn es im ersten Moment verblüffend klingen mag, wandert der mit Beendigung des zweiten Lebensjahres selbstständig und selbstsicher handelnde Nachwuchs im Normalfall ab und verlässt Vater und Mutter.
Natürlich handelt es sich bei Wolfsrudeln um komplexe Gebilde, die in Bezug auf Geschlechterverteilung, Altersstruktur und Anzahl der Nachkommen unterschiedlich strukturiert sind. Dennoch besteht bei zwei bis drei Jahre alten Wölfen im Allgemeinen die Tendenz, mit Beginn der Paarungszeit zum Zuge zu kommen. Der Versuch, diese Bestrebungen in der eigenen Familie umzusetzen, ist in der Regel zum Scheitern verurteilt. Ich spreche seit vielen Jahren bewusst von Familien, weil Wölfen fälschlicherweise unterstellt wird, sie seien im Gegensatz zu Haushunden „Rudeltiere“. Wölfe bilden unter Freilandbedingungen aber Familiengebilde, deren Sozialstruktur und Rangbeziehungsgeflecht denen von Mensch-Hund-Beziehungen stark ähneln. Menschen genießen wie Wolfseltern normalerweise bestimmte Vorrechte, weil sie alle wesentlichen Ressourcen kontrollieren. Selbst hoch motivierte Jungwölfe müssen erkennen, dass sie den hohen Sozialstatus der Eltern kaum infrage stellen können. Man stößt an seine Grenzen und wandert ab, weil gestandene Wolfseltern das „Zepter“ besonnen und souverän führen und halten und somit natürliche Autorität besitzen. Eine streng hierarchisch gegliederte Hackordnung nach altem Schema ist somit eher die Ausnahme.
? Kurzinfo
Taktische Winkelzüge, inklusive vieler Streitigkeiten, die sich aus einem Zusammenleben etlicher Generationen zwangsläufig ergeben, sehen wir in der Wildnis sehr selten. In Wirklichkeit müssen wir Wolfseltern oft als einzige Langzeitmitglieder eines Rudels ansehen. Sie sind die eigentlichen „Alphatiere“.
Das etwas traurig anmutende Schicksal des frustrierten „Jungspunds“ hat aus rein genetischer Sicht einen riesigen Vorteil: Inzucht ist in freier Wildbahn fast unbekannt, was auch die Untersuchungsergebnisse des Verhaltensökologen Paul Paquet (1993) belegen!
Statt sich mit der Mutter zu verpaaren oder vom Vater gedeckt zu werden, sucht sich der geschlechtsreife Jungwolf lieber einen eigenen Fortpflanzungspartner und ein eigenes Territorium. Mit etwas Glück wird er fündig. Womöglich ist der neue Lebensraum sogar ganz in der Nähe der alten Heimat gelegen. Dann kann er sich „qualmende Socken“ ersparen. Hat er Pech, muss er laufen, laufen, laufen. Manche Individuen sind zwecks Familienneugründung sowohl mehrere Monate als auch hunderte Kilometer unterwegs. Statistiken des Feldforschers D. Mech (2001) belegen, dass ca. 20% des gesamten Wolfsbestandes Einzeltiere sind. Kein Wunder bei so viel „liebestollen“ Exemplaren.
Während der Paarungszeit kommt es zwischen Wolfseltern und einzelnen Tieren des geschlechtsreifen Nachwuchses mitunter zu massiven Konkurrenzsituationen. Auch Jungwölfin „Hope“ stritt sich mit ihrer Mutter um das Recht auf Paarung, unterlag aber deren Durchsetzungsvermögen und musste den Familienverband im Alter von 20 Monaten endgültig verlassen.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Wolfseltern zahlenmäßig großer Würfe wenden zum Erhalt ihrer sozialen Kompetenz freilich mehr Zeit und Mühe auf als Eltern überschaubarerer Familiengebilde. Zudem kommt es immer wieder vor, dass einige (erwachsene) Jungwölfe enge Bindungen zu ihren Eltern aufbauen. Tolerante und charakterlich gefestigte, ausgeglichene Jungwölfe, die wenig Interesse an aggressiven Auseinandersetzungen zeigen, bleiben eher Bestandteil eines Familienverbandes, weil die sprichwörtliche „Chemie“ zwischen ihnen und den Eltern stimmt. Für den statusbezogenen Nachwuchs, besonders für „Kleinalphas“, wie der Zoologe E. Zimen (1986) die ranghöchsten Zweijährigen gern nannte, bleibt es hingegen eher ein Wunschtraum, sich innerhalb des Rangordnungsgefüges spektakulär nach oben „kämpfen“ zu können. Für einen Jungwolf macht das Leben in der Gruppe nur dann Sinn, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ist das nicht mehr der Fall, so sagt er schnell „Servus“ und besetzt nebst neuem Fortpflanzungspartner einen freien Lebensraum. Hat eine neue Generation „frisch vermählter“ Wölfe eigenen Nachwuchs hervorgebracht, befindet sich diese gegenüber den Heranwachsenden automatisch wieder im so genannten „Alpha-Status“.
Die Macht der Erfahrung
Wolfseltern kann man während der Aufzuchtphase ihrer Kinder in erster Linie als „Problembewältiger“ ansehen. Sie leben vor, was wann zu tun und zu unterlassen ist. Dabei ist es das Privileg der Eltern, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen – nicht mit Muskelkraft, sondern mit „Köpfchen“. Die „Macht“ von Wolfseltern beruht primär auf Erfahrung. Ihr Wissensvorsprung gegenüber den „Schnöseln“, wie wir Jungwölfe gern zu bezeichnen pflegen, ist aufgrund ihrer reichen Lebenserfahrung naturgemäß enorm. Der oft etwas konfus anmutende Nachwuchs setzt gezieltes Beobachtungslernen um, kommt zu konkreten Schlussfolgerungen und kopiert die Verhaltensweisen der Eltern – mal schneller, mal langsamer. Bei der Umsetzung von Lernerfahrungen scheint es geschlechtsspezifische Entwicklungsunterschiede zu geben. Bei Rüden handelt es sich tendenziell um Spätentwickler. Bei Wolfsweibchen ist der Prozess des Lernens über Lernerfahrungen früher abgeschlossen. Die Leserinnen dieses Buches freuen sich bestimmt über meine Erkenntnis.
Junge Wölfinnen scheinen sich tendenziell erheblich schneller zu biologisch ausgereiften und somit erfolgreichen Jägern zu entwickeln als Jungrüden. Sie sind meist schlanker, wendiger und schneller und verfügen erheblich früher über jene mentale Stärke, die für eine zielgerichtete Jagd notwendig ist.
Dass der Wolf sich als hoch komplexes Soziallebewesen so „menschenähnlich“ verhält, braucht uns eigentlich gar nicht zu wundern, oder? Man argumentiert heute sehr vorschnell, Vergleiche zwischen Wolf und Hund seien aus dem Grund abzulehnen, weil man ja auch nicht Menschen mit Primaten vergleichen würde. Ich halte das deswegen für unsinnig, weil Naturvölker, die heute noch Kannibalismus betreiben, deutliche Parallelen zum Primatenverhalten zeigen und dennoch zur Spezies Mensch zählen. Außerdem zeigt uns die Primatenforschung – wie die moderne Wolfsforschung ebenso –, dass sich weder Menschenaffen noch Menschen, Wölfe oder Hunde gleich verhalten, sondern die Anpassung an einen bestimmten Lebensraum und individuelle Persönlichkeitsentwicklungen zu berücksichtigen sind, will man ernsthaft Verhalten beschreiben.
? Das bedeutet
? Der in der Ethologie allgemein verwandte...