KAPITEL 2
Die Vita Karls des Großen und andere Quellen
Welche Nachrichten gibt es, die uns über Karl den Großen und seine Zeit berichten? Über welches ›Arbeitsmaterial‹ verfügen wir? Im Mittelpunkt steht eine ganz einzigartige Quelle, nämlich seine Lebensbeschreibung, die ›Vita Karoli Magni‹. Geschrieben hat sie der Gelehrte Einhart. Dieser gilt bis heute als »der berühmteste Biograph des 9. Jahrhunderts«.1 Um 770 wurde er – vielleicht in Seligenstadt am Main – geboren. Er entstammte einer ostfränkischen Adelsfamilie aus dem »Maingau« (Moingeuui), einem Gebiet, das sich von Hanau über Aschaffenburg und Dieburg bis in den Odenwald erstreckte. Wegen seiner Abstammung nannte sich Einhart einen »Barbaren« (homo barbarus), weil er als »Nichtromane« in der »römischen Sprache« (Romana locutio) wenig geübt sei. Aber ganz so schlecht, so fügte er hinzu, sei sein Latein auch wieder nicht gewesen.2 Dennoch: So wie in der Antike galt demnach im Gelehrtenkreis dieser Zeit derjenige, der nicht Romane war, als Barbar – und das trifft auch auf den Franken Karl den Großen zu.
Die Ostfranken, die rechts des Rheins lebten, zählte Einhart zu den Germanen.3 Das ist ein nicht unwichtiger Hinweis, denn in der jüngeren Forschung glaubte man lange Zeit, das Wort ›Germanen‹ als Bezeichnung für die Völker im fränkischen Reich ganz vermeiden zu müssen. Das Bewusstsein einer solchen Gruppenzugehörigkeit habe es gar nicht gegeben, vielmehr handle es sich um eine Fremdbezeichnung durch die Römer. Der Begriff Germanen galt außerdem durch den Missbrauch im Nationalsozialismus als belastet. Erst vor wenigen Jahren hat der Wiener Historiker und Frühmittelalterforscher Herwig Wolfram eine Ehrenrettung für die Sammelbezeichnung »Germanen« formuliert: Es gebe eben keinen ordentlichen Ersatz dafür.4 In der Zeit um 800 hatte man damit offensichtlich keine Probleme.
Seine Ausbildung erhielt Einhart seit dem Ende der 770er-Jahre im Kloster Fulda, wo er an christlichen Texten der Kirchenväter, aber auch antiken Autoren, Grammatikern und Rhetorikern geschult wurde (unter anderen Origenes, Gregor der Große, Augustinus). Auch Griechischkenntnisse hat er sich dort erworben. Fulda besaß damals zwar noch keine große Bibliothek, aber immerhin die ›Handbibliothek‹ des großen angelsächsischen Missionars Bonifatius (gest. 754), der sich in dem vom ihm gegründeten Kloster Fulda hatte begraben lassen. Einharts in der Klosterschule erworbene Fertigkeiten im Schreiben waren so gut, dass man ihm schon 780 oder kurz danach die Ausfertigung von Urkunden anvertraute. Auch die Schenkung seiner Eltern, Einhart und Engelfrida, an das Kloster Fulda, hat er selbst geschrieben.5
Aber Einhart trat nicht als Mönch in das Kloster ein. Er wurde auch nicht Kleriker, sondern blieb zeitlebens Laie und war mit Imma (gest. 836) aus einer hochgestellten Familie verheiratet. Einen niederen kirchlichen Weihegrad kann man bei ihm nicht ausschließen, aber auch das würde an der Tatsache, dass er ein Leben als Laie führte, im Grunde nichts ändern. Das ist eine bemerkenswerte Beobachtung, denn Quellentexte und Nachrichten, die von Laien stammen, sind für diese Zeit eher selten. Sein Laienstatus hinderte ihn im Übrigen nicht daran, als »Laienabt« die Leitung von sieben Klöstern in den verschiedensten Teilen des karolingischen Reiches zu übernehmen. Am Ende gründete er in Seligenstadt noch ein eigenes Kloster, in dem er nach seinem Tod am 14. März 840 bestattet wurde.
Noch vor 796 schickte der Abt von Fulda, Baugulf (779–802), den jungen Adligen, der durch »Auffassungsgabe und Intelligenz herausragte«6, an den Hof Karls des Großen. Dort befreundete sich dieser mit Alkuin von York (gest. 804), dem wohl größten Gelehrten seiner Zeit, der wegen seiner Gelehrsamkeit in den Hofkreisen den Namen Flaccus nach dem römischen Dichter Horaz führte. Bei ihm lernte er gleichsam die letzten Feinheiten der Wissenschaften und der Weisheit – und in diesem Sinne kann man durchaus davon sprechen, dass Alkuin sein Lehrer war. Einhart verehrte ihn zeitlebens. In seiner ›Vita Karoli Magni‹ hob er ihn als einen in jeder Hinsicht überaus gelehrten »Meister« hervor.7
Am Hof Karls erwarb sich Einhart rasch hohes Ansehen. Man bewunderte seine Schaffenskraft. Sein Gelehrtenkollege Theodulf von Orléans (gest. 821) nannte ihn emsig »wie eine Ameise«.8 Vor allem war er vielseitig. Alkuin erkannte seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Mathematik und empfahl ihn Karl dem Großen als Lehrer für mathematische und astronomische Themen. Doch ebenso großartig waren seine Leistungen als Baumeister. Der Bau der »fünfhundert Schritte« langen, hölzernen Rheinbrücke bei Mainz stand unter seiner Aufsicht, »ein herrliches Werk«, wie Einhart selbst schwärmte.9 In zehn Jahren sei es mit unendlicher Mühe und wunderbarer Kunst so fest aus Holz gebaut worden, als würde es ewig halten. Dass die Brücke einige Jahre später abbrannte – und der Rhein dann über Jahrhunderte keine Brücke mehr hatte –, war freilich ein Desaster. Auch bei den Pfalzbauten in Ingelheim und Aachen wirkte er an vorderster Stelle mit. Am Hof übernahm er überdies die Leitung der Kunstwerkstätten. Alle diese Fertigkeiten haben ihm am Hof den Namen Beseleel (Bezalel) eingebracht, den Namen des Baumeisters im Alten Testament. Dieser war von Moses auserwählt worden, das »Heiligtum«, eine Wohnstätte für den Herrn aus zehn Zelttüchern und in kunstvollster Ausgestaltung, zu errichten (Exodus 35–38). Beseleel sei »durch Weisheit, Klugheit und Kenntnis für jegliche Arbeit« (Exodus 35,31) ausgezeichnet gewesen – und mit diesen ungewöhnlichen und reichen Anlagen war offenbar auch Einhart gesegnet. Sein zweiter ›Spitzname‹ war Nardulus, weil er klein, aber wirkungsvoll gewesen sei wie eine Narde.
Noch wichtiger ist in unserem Zusammenhang, dass Einhart in seiner Zeit in Aachen – wo in den 90er-Jahren des achten Jahrhunderts die Hauptresidenz des karolingischen Reiches entstand – ein enger Vertrauter Karls des Großen wurde. Ihn begleitete er, wann immer es möglich war, auf seinen Reisen, für ihn übernahm er diplomatische Missionen und ihm diente er als Ratgeber. Im Vorwort seiner ›Vita Karoli Magni‹ betonte Einhart selbst die Freundschaft, die ihn mit Karl und dessen Kindern verbunden habe. Niemand, so war er überzeugt, wäre deshalb in der Lage, wahrheitsgetreuer als er diese Vita zu schreiben und aufzuzeichnen, »was ich selbst miterlebt und persönlich mit der Gewissenhaftigkeit eines Augenzeugen erfahren habe«. Der Hof (aula) in Aachen, wo er sich bis 830 aufhielt, wurde zu seiner zweiten Heimat. Hier befand er sich im Zentrum der politischen Vorgänge und Entscheidungen und hier konnte er aus nächster Nähe das herrscherliche Programm seines großen Förderers aufnehmen und begleiten.
Diese Einordnung Einharts ist wichtig, denn sie bietet uns die Voraussetzung dafür, seine ›Vita Karoli Magni‹ in ihrem Aussagewert einzuschätzen. Das Werk ist zweifellos vom Geist der Aachener Reichselite und der dortigen ›Höflinge‹ durchdrungen. Es spiegelt die Auffassung und das Bild, das man im Gelehrtenkreis um Karl entwickelte, und es dürfte auch der Selbsteinschätzung Karls keineswegs widersprochen haben. Schon an scheinbaren Kleinigkeiten ist das zu erkennen. So ist es auffällig, dass Einhart in seinen Schriften niemals das Wort »Adliger« (nobilis) als Standesbezeichnung gebrauchte. Das entsprach ganz dem Programm Karls, für den alle, die nicht Unfreie (servi) waren, vor dem König gleich sein sollten.
Trotz dieser ungewöhnlich guten Informationen, über die Einhart verfügte, ist in der Forschung am Quellenwert der Vita Kritik geäußert worden. Sie sei angeblich erst spät entstanden, etwa um 830, als die Regierung von Karls Sohn und Nachfolger, Ludwig dem Frommen (814–840), in eine tiefe Krise stürzte. Diesem sollte daher mit der Lebensgeschichte seines Vaters ein Beispiel erfolgreicher Herrschaft vor Augen geführt werden, damit sich der Sohn ein Beispiel daran nehmen könne. Zuletzt hat man in der Forschung die Entstehungszeit etwas vordatiert in die Jahre 825–829, weil in den Synoden, den großen kirchlichen Versammlungen dieser Zeit, die eigene (unerfreuliche) Gegenwart mit der (glanzvollen) Herrschaft Karls des Großen verglichen worden sei und somit eine allgemeine Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« spürbar werde.10
Diesen Überlegungen kann man entgegenhalten, dass die Vita selbst keine Hinweise auf eine solche Intention enthält. Nichts ist zu erkennen von Spannungen oder Gegensätzen, die den Hof und das Reich um 830 erschütterten. Die einzige Stelle, die darauf hinzudeuten scheint, findet sich im Prolog. Einhart, so heißt es da, wolle »das ruhmvolle Leben des hoch erhabenen und größten Königs seiner Epoche und seine herausragenden Taten, die von den Menschen der modernen Zeit (moderni temporis hominibus) kaum erreichbar sind, nicht in die Nacht des Vergessens absinken lassen«. Bedeutet der Ausdruck »moderne Zeit« (modernum tempus), dass seit dem Tod Karls ein größerer Zeitabschnitt vergangen sein muss? Nicht unbedingt. Der Begriff modernus bezeichnet im Mittelalter ganz einfach den »Zeitgenossen«.11 Im Satz davor wird von Einhart sogar betont, dass...