Chronik Wilhelm Kohlhammer
Am 30. April 1866 begann die Geschichte des Druck- und Verlagshauses - in passender Weise - mit einem unscheinbaren Verwaltungsakt: Wilhelm Kohlhammer erklärte im Gewerbeänderungsprotokoll der Gemeinde Stuttgart, dass er die 1849 gegründete Druckerei und Badeanstalt seines verstorbenen Schwiegervaters Gottlob Carl Rümelin übernommen habe. Der junge Unternehmer war erst einige Jahre zuvor aus Meimsheim im damaligen Oberamt Brackenheim zugezogen, wo er am 26. August 1839 als Sohn eines Landwirts und Schäfers geboren wurde und als Notariatsassistent gearbeitet hatte.
Die kleine Druckerei, die Kohlhammer nun unter eigenem Namen betrieb, befand sich seit 1857 im hinteren Teil eines Geschäftshaus in der Urbanstraße 14, wo der Verlag in den nächsten 120 Jahren residieren sollte. Die mitübernommene Badeanstalt, das bekannte "Stuttgarter Neckarwasserbad" , arbeitete wegen guten Besuchs höchst einträglich und verschaffte Kohlhammer bis zu seiner Schließung 1890 den finanziellen Rückhalt für den weiteren Ausbau der Druckerei sowie den Aufbau eines Verlages.
Die Druckerei beschäftigte bei ihrer Übernahme durch Kohlhammer nur 6 bis 8 Gehilfen und lebte im Wesentlichen vom bescheidenen Akzidenzgeschäft. Zudem hatte der Betrieb seit dem Tod des Gründers 1856 wirtschaftlich stark gelitten. Die Konsolidierung verdankte Kohlhammer einer rettenden Geschäftsidee: Seine reiche Erfahrung als Notariatsassistent, dessen Tagesgeschäft zu großen Teilen aus der Anfertigung gleichartiger und meist umfangreicher Schriftstücke bestand, brachte ihn auf den Gedanken, für solche Verwaltungsvorgänge standardisierte Formulare herzustellen und dadurch nicht nur zeitraubende Schreibarbeit zu vermeiden, sondern auch einen Beitrag zur administrativen Rechtssicherheit zu leisten.
Da Kohlhammer diese Vordrucke stets in bester Qualität und vor allem rechtzeitig lieferte, genoss der neue Formularverlag bald einen hervorragenden Ruf und wuchs in den Folgejahren stark. Aus dem Geschäft mit Vordrucken entwickelte sich ein weiterer, zukunftsträchtiger Geschäftszweig - die Herstellung von Gesetzestexten, Dienst- und Verwaltungsvorschriften für das Königreich Württemberg - aus dem in der Folgezeit ein renommierter rechts- und staatswissenschaftlicher Verlag entstand, der bis heute eine der tragenden Säulen des Unternehmens bildet.
Berühmt wurde der Kohlhammer Verlag aber auch durch seine landesgeschichtliche und landeskundliche Fachveröffentlichungen. Beispielhaft seien das große "Württembergische Adels- und Wappenbuch" von Archivrat von Alberti, die seit 1880 im Verlag erscheinenden Beschreibungen der Oberämter des Königreichs Württemberg, die Urkundenbücher württembergischer Städte, die berühmten "Württembergischen Jahrbücher für Statistik und Landeskunde", die statistischen Handbücher des Königreichs Württemberg sowie die Hof- und Staatshandbücher genannt.
Den Anstoß für den Aufbau einer theologischen und geisteswissenschaftlichen Abteilung gab die Dissertation des Vikars der Stiftskirche und späteren Professors für das Alte Testament an der Universität Leipzig, Rudolf Kittel, der nach 1880 im Hause Kohlhammer verkehrte. Bereits nach kurzer Zeit erschienen bedeutende Veröffentlichungen und auch dieser Verlagszweig florierte. Einen ersten Höhepunkt bildete die in den Jahren 1885 bis 1895 von dem Marburger Professor Karl Friedrich Geldner besorgte kritische Ausgabe der "Avesta, die heiligen Bücher der Parsen", für deren Herstellung Kohlhammer angeblich eigens einen parsischen Priester nach Stuttgart holte, der beim Satz der komplizierten Zeichen half und die Drucklegung überwachte. Ein weiteres frühes Standardwerk bildete das von dem Tübinger Gräzisten Wilhelm Schmid editierte Opus "Der Atticismus in seinen Hauptvertretern von Dionysius von Harlikarnass bis auf den zweiten Philostratus", das in 5 Bänden in den Jahren 1885 bis 1887 erschien.
Um dem Publikum ein gutes und günstiges Sonntagsblatt anbieten zu können, gründete Kohlhammer 1872 das "Neue Deutsches Familienblatt", das große Popularität erlangte. Die volkstümlich geschriebene Zeitung enthielt einen Wochenrückblick, berichtete über Kurioses und Erbauliches. Das Blatt, das seit 1895 auf einer eigens erworbenen Rotationsmaschine gedruckt wurde, erschien in hoher Auflage (185.000 Exemplare im Jahr 1914) zu einem günstigen Preis von 3 Pfennigen für die 8seitige Nummer und sicherte Kohlhammer im Rheinland, Elsaß, in Ostpreußen, Österreich und der Schweiz zahlreiche Abonnenten. Seit 1890 lag die Redaktion bei Dr. Eugen Görlach (1856-1839), dem Schwager Wilhelm Kohlhammers, der über die Beigabe von Illustrationen für die weitere Verbreitung sorgte. Der Erfolg des Familienblattes veranlasste zum weiteren Ausbau der verlagseigenen Zeitschriftensparte, indem man 1882 die Verlagsrechte an der "Deutschen Feuerwehrzeitung" von der Witwe des Verlegers Kitzinger und 1885 die "Württembergische Kriegerzeitung" erwarb. Schließlich wurde 1888 noch der "Schwabenkalender" gegründet, der bis heute alljährlich als "Schwäbischer Heimatkalender" erscheint. Der berühmte "Woll-Jäger", Professor Gustav Jäger, steuerte zunächst Aufsätze über gesunde Lebensführung zum Familienblatt bei, bevor er 1882 selbst bei Kohlhammer ein gefragtes "Monatsblatt zur zeitgemäßen Gesundheitspflege" herausgab. Seine aus heutiger Sicht kuriose gesundheitspolitische Philosophie ("Von der Unterhose zur Untersterblichkeit") propagierte ein komplett neues Bekleidungssystem und verhalf der württembergischen Trikotwarenindustrie zum endgültigen Durchbruch.
Neben den geschäftlichen Verpflichtungen nahm Wilhelm Kohlhammer eine große Zahl von Ehrenämtern wahr. So fungierte er als Vorstandsmitglied des Deutschen Druckervereins und der Deutschen Buchdruckergenossenschaft im Südwestkreis, war Ausschuss- und Vorstandsmitglied des württembergischen Obstbauvereins und darüber hinaus von 1883 bis 1885 noch Mitglied des Bürgerausschusses der Residenzstadt Stuttgart. Auf seine Initiative ging auch die Einrichtung der stark nachgefragten Notariats- und Verwaltungskurse zurück, die vielen Anwärtern die nötigen Kenntnisse vermittelten. Sein herausragendes geschäftliches, bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement wurde 1887 durch die Verleihung des begehrten Kommerzienratstitels honoriert. Angesichts des hohen Arbeitspensums verwundert es nicht, dass die nie geschonte Gesundheit dem rührigen Unternehmer einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machte. Obwohl der plötzliche Tod des Verlagsgründers im Januar 1893 eine tiefe Lücke hinterließ, führte die Witwe Marie Kohlhammer (1850-1925) unterstützt von Ihrem Bruder die Geschäfte erfolgreich weiter, bis 1909 der Sohn Dr. Walter Kohlhammer (1879-1946) als Gesellschafter in die Firma eintrat und das Druck- und Verlagsunternehmen in der Folgezeit weiter ausbaute.