Medizinstudium
Zum Medizinstudium, das ich im Herbst 2000 anfing, kam ich wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind. Ich stamme aus keiner Arztfamilie, aber mein Vater überzeugte mich, dass Medizin ein spannendes Fach war und so immatrikulierte ich mich für das Studium. Ich sollte ja etwas „Sinnvolles im Leben machen!“. Was ich in meinem Leben überhaupt machen wollte, war mir bis dahin als Jugendlicher noch gar nicht klar gewesen. Bis dahin funktionierte ich wirklich prima. Abitur, Sportfördergruppe der Bundeswehr, anschließend nahtlos mit dem Studium begonnen. Nur keine Zeit verschwenden. Was mich genau erwartete, davon hatte ich keinen blassen Schimmer. Pflegepraktikum für zwei Monate? Davon hatte mir keiner erzählt. Chemie? Physik? Biologie? Ehrlich?
Ich fühlte mich sofort in meine Schulzeit versetzt und dachte an die drögen Stunden, in denen wir Stromkreise zusammenbauen sollten. Als Teenager, muss ich ehrlich gestehen, hatte ich doch andere Interessen als die Naturwissenschaften. Dass die Wissenschaft wunderbar sein kann und mir eine neue Welt eröffnen würde, erkannte ich erst viel später.
In dieser neuen Umgebung begann dann also auch der erste spürbare Druck in meinem Leben. Die vorklinische Phase des Studiums ist eine Zeit des Aussiebens. Wer nicht die Masse an Stoff lernen wollte, der hörte auf und beendete das Studium. Wer nicht fleißig sein wollte oder konnte, der wurde über Prüfungen aussortiert. Nur die fleißigsten Bienen sollen heute weiterkommen. Ob sie später jedoch auch die besten Ärzte werden und man nicht wunderbare Menschen durch diesen Prozess aussortiert, lässt sich nicht beweisen.
Es folgte eine Zeit des intensiven Lernens, welche ich in dieser Form noch nicht kannte. Dachte ich noch, die Abiturprüfungen hätten meine wertvolle Muße in Anspruch genommen, so hatte ich mich wirklich noch nicht ernsthaft mit der Biochemie, Anatomie oder Physiologie befasst. Die Menge des anatomischen Wissens, das wir uns innerhalb von einem Semester einprügelten, war gigantisch. Wir mussten lernen, lernen und nochmals lernen. Eigentlich lernten wir in dieser Zeit fast ausschließlich. Freizeit wurde ein Fremdwort und wir hatten selbst in den Semesterferien anfangs nur wenig davon. Es war einfach zu viel Stoff, um nicht auch in der vorlesungsfreien Zeit lernen zu müssen. Glücklicherweise merkte ich aber, dass mich die Wissenschaft hinter den ganzen physiologischen Abläufen im Körper faszinierte, ebenso wie die Physik, Physiologie und Biochemie, die dahinter steckt.
Der menschliche Körper ist ein Wunder.
Heute, mehr denn je, ertappe ich mich immer wieder dabei, das Wunder des Lebens zu analysieren. Es gibt mehr mögliche Kombinationen meiner Gene auf meinen 46 Chromosomen, als es Sandkörner in der Sahara gibt, und trotzdem entstand aus diesen Genen ein Wesen, das lebt, atmet, schwitzt, heizendes Kraftwerk und Kühlung in einem ist. Meine Sinne erlauben mir zu fühlen. Ich kann tasten, sehen, hören, schmecken, berühren. Ich stehe morgens auf, öffne die Augen und mein Hirn verarbeitet die physikalischen Eindrücke und regt in mir elektrochemisch getriggerte Emotionen. Mein Körper reagiert auf meine Umwelt.
Ich kann mit meinen Händen unglaublich komplexe Dinge vollbringen. Ich kann mit ihnen greifen und heben. Kann meine Daumen opponieren, was die wenigstens Tiere können. Meine Beine tragen mich täglich teils über Kilometer. Ich kann springen, bin wasserdicht und atmungsaktiv. Und all das ist aus 46 Chromosomen entstanden!
Mein Essen wird in die kleinsten Bestandteile zersetzt, um sie anschließend aufzunehmen. Ständig werden sie im Körper zu den Zielzellen transportiert, um sie dort als Bausteine zu benutzen und ihre Abbauprodukte dann wieder mit allen Schadstoffen auszuscheiden.
Meine Zellen teilen sich, indem sie sich an mikroskopisch kleinen Spindeln auseinanderziehen. In der Zelle spannen sich Mikrofilamente wie perfekt angeordnete Spinnweben auf und erlauben den Vesikeln (kleine rundliche, ovale Bläschen) den Transport von diversen Stoffen in und aus der Zelle. Sollte die Zelle krank sein, so erkennt unser Körper dies und lässt diese Zelle sterben. Die Apoptose (geplanter Zelltod) ist ein wichtiger Mechanismus, um defekte Zellen aus dem funktionierenden Kollektiv zu entfernen. Nur im Einklang funktioniert der Körper reibungslos.
Die Haut und der Darm sind meine gesamte Körperoberfläche und bilden damit eine natürliche Barriere. Ich werde nämlich täglich von außen angegriffen und dabei schützen mich diverse Abwehrmechanismen, um diese Attacken zu bewältigen. Ich lebe in einer Symbiose mit Abermilliarden von Mikroorganismen auf meiner Körperoberfläche und der Oberfläche des Magen-Darm-Traktes, viele von ihnen fremd und außerirdisch wirkend.
Das Human Microbiome Project fand 2007 heraus, dass wir bis zu einer Billion (1.000.000.000.000) Bakterien in einem Gramm Dickdarminhalt beherbergen. Insgesamt fanden die Forscher rund 10.000 unterschiedliche Bakterienspezies in und an unseren Körpern. Und das wahrlich Beeindruckendste ist, dass kein Mensch dieselbe Zusammensetzung an Bakterienspezies auf der Körperoberfläche trägt. Wir alle unterscheiden uns diesbezüglich, wenn auch nur geringfügig.
Diese für uns lebensnotwendigen Bestandteile unserer körpereigenen Symbiose nehmen wir nicht täglich wahr und schon gar nicht wird ihnen die Wertschätzung entgegengebracht, die ihnen gebührt und ohne die unser Leben gar nicht möglich wäre.
Ständig laufen Millionen Prozesse in meinem Gehirn unbewertet und nicht bewusst gesteuert ab. Bevor ich in der Lage bin, einen Gedanken zu fassen und zu formulieren, so wird dieser im Hirn nur Sekundenbruchteile vorher chemisch getriggert. In einem spannenden Artikel über die Neurobiologie des Bewusstseins schreibt H. Hinterhuber (Neurobiologie des Bewusstseins, H. Hinterhuber, Die Seele, Seiten →-→, Springer 2001) über die Komplexität unseres Gehirns. Er beschreibt, dass 99% Prozent unserer Prozesse im Hirn unterbewusst ablaufen und dass der Großteil der Areale im Gehirn zur Verknüpfung von uns aufgenommenen Sinneswahrnehmungen, Informationen und anschließend Prozessierung dieser Wahrnehmung vorhanden sind.
In Sekundenbruchteilen muss unser Hirn für uns die sinnvollste Entscheidung treffen, basierend auf Erfahrungen und Erlebnissen, die wir in unserem Leben gemacht haben. In seinem faszinierenden Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Original: „Thinking, Fast and Slow.“, Macmillan, EA 2011) beschreibt D. Kahnemann zwei verschiedene Weisen, in denen das Gehirn denkt. Er unterscheidet hier zwei klar distinktive, aber interagierende Systeme:
System 1: Schnell, automatisch, immer aktiv, emotional, stereotypisierend, unbewusst
System 2: Langsam, anstrengend, selten aktiv, logisch, berechnend, bewusst
Er zeigt in seinem Buch die Unterschiede zwischen beiden Gedankenprozessen und wie beide Systeme oft zu verschiedenen Schlüssen kommen. Dabei ist das 2. System rasch „faul“, „schnell erschöpft und ausgelastet“.
Er erklärt das Phänomen der „Bahnung“ (engl. Priming) so, dass bestimmte Ansichten durch Reizworte getriggert werden. Weiter stellt er sehr gut da, wie „kognitive Leichtigkeit“ bestimmte unrealistische Denkweisen fördert. In einem Phänomen, das er „Halo-Effekt“ nennt, werden im Gehirn auf Grund unzureichender und falscher Informationen falsche Schlussfolgerungen gezogen („Halo-Effekt“: „What you see is all there is“ – „WYSIATI“).
Unser Hirn wird zunächst stets den Weg des geringsten Widerstandes denken und dadurch den Weg des geringsten Energieverbrauchs. Manchmal kann man da schon an seiner eigenen Selbstständigkeit zweifeln, wenn angeblich alles un(ter)bewusst ablaufen soll. Aber wir sind nun mal Tiere, die sich in Ihrer Umwelt so gut wie möglich zurechtfinden müssen und natürlich ist unser Gehirn darauf programmiert, so schnell es geht, die für uns sichersten Optionen zu wählen.
Unser Gehirn ist ein phänomenales Organ. Fest steht, dass wir es ihm zu verdanken haben, dass wir es als früher gejagtes Steppentier, heute bis an die Spitze der Nahrungskette geschafft haben. Unser Hirn ist fähig, Situationen in Sekundenbruchteilen zu analysieren und für uns die beste Option zu wählen. Täglich erfasst und verarbeitet es unfassbare Mengen an Informationen. Audiovisuelle Wahrnehmung und andere Sinneswahrnehmungen werden in Sekundenbruchteilen unterbewusst verarbeitet und in elektrische Antworten umgewandelt. Die Stellung und Spannung der Muskulatur bei Bewegung wird maßgeblich durch unser Gleichgewichtsorgan im Innenohr, die Verarbeitung der Information im Kleinhirn sowie den motorischen Impuls der Großhirnrinde beeinflusst.
Versuchen Sie doch mal, alle motorischen Befehle bewusst auszusprechen, die es verlangt, ein Fahrrad in die Kurve zu lenken. In welcher Reihenfolge und welchen Zeitabläufen sprechen sie welche Muskeln an? Machen...