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Klartext kompakt

Frühkindlicher Autismus: Verstehen = Helfen

AutorAndreas Ganz, Bernhard J. Schmidt
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783741270116
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Auch frühkindliche Autisten können sich, entgegen landläufiger Meinung, normal entwickeln. Sie wollen und können kommunizieren und interagieren, und brauchen genauso wie alle anderen Kinder die soziale Interaktion zu ihrer Entwicklung. Kommt es zu einer Störung der sozialen Interaktion, dann kommt es in Folge auch zu einer Störung der Entwicklung. Wie und warum es zu Störungen der sozialen Interaktion kommen kann, und welche Folgen diese haben, wird mit einem - Autisten bisher verweigerten - entwicklungsdynamischen Ansatz dargestellt. Zugleich werden hierzulande weitgehend unbekannte Förderprogramme vorgestellt, die auf eine Wiederherstellung der sozialen Interaktion zwischen Eltern und autistischen Kindern abzielen. Und: "Es ist nie zu spät."

geb. 1973 in Karlsruhe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

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Leseprobe

II. EINFÜHRUNG


Erhält ein Kind die Diagnose „Frühkindlicher Autismus“, so bedeutet das bisher die Abkehr von der Idee jeglicher Entwicklungsmöglichkeit und die Hinwendung zu einem statischen „Urteil“. Eltern und Angehörigen wird durch die Diagnose und die zugrunde liegenden falschen Annahmen, die als Gewissheiten verkauft werden, jede Hoffnung auf eine deutliche Besserung von Problemen des autistischen Kindes und auf eine weitgehend normale Entwicklung genommen. Vertreten wird von Psychiatern, Psychologen und „Fachkräften“ eine statische Sicht mit dem daraus abgeleiteten Rat, die autistischer Kinder doch am Besten in ein Pflegeheim zu geben [siehe z.B. Poustka et al. (2009)].

Die hier von uns vertretene Sicht ist das genaue Gegenteil! Jedes Kind durchläuft eine Entwicklung, jedes Kind hat die Chance – bei entsprechender Förderung – seine Grenzen zu erweitern, sein Leben zu gestalten. Wenn auch in unterschiedlichem Umfang in Abhängigkeit vom Grad der Behinderung.

Doch gerade frühkindlicher Autismus als „tiefgreifende ENTWICKLUNGS-Störung“ bietet viele einfache Möglichkeiten zur Förderung des Kindes – wenn man das autistische Kind und seine besondere Wahrnehmung versteht. Der hier dargelegte entwicklungsdynamische Ansatz wird schon seit Jahrzehnten von einigen Förderprogrammen intuitiv angewendet (siehe Kapitel V: Praxis).

Nun werden diese intuitiven Anwendungen durch ein entsprechendes theoretisches Fundament gestützt.

Jede Stufe der Entwicklung bietet eine Chance, Erfahrungen für Kinder zu schaffen, die ihnen dabei helfen frühe Stufen zu meistern, die vielleicht nicht beim ersten Mal gemeistert wurden. Es ist niemals zu spät.

[Greenspan, Stanley I.; Wieder, Serena (2006)]

1 Wie ist diese positive Sicht möglich?


Die Frage sollte eigentlich eher lauten, warum diese positive Sicht bei frühkindlichem Autismus bisher ausgeblendet wurde?!

Denn im Bereich von Kindern mit geistiger Behinderung existiert diese schon lange. Ersetzt man im folgenden Zitat die Worte „intellektuelle Behinderung“ durch „frühkindlichen Autismus“ (ohne diese gleichzusetzen!), so sind wir bei der entwicklungsdynamischen Perspektive:

Es konnte gezeigt werden, dass durch eine rechtzeitige Unterstützung verschiedener Entwicklungsaspekte eine Verbesserung des globalen Funktionsniveaus dieser Menschen zu erreichen ist (Greenspan & Wieder, 1998;

Guralnick, 1997). Die Erkenntnisse von Spitz (1946), Mahler et al. (1975) und Bowlby (1951) über die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern gelten auch für behinderte Kinder.

Ein Kind mit einer intellektuellen Behinderung ist an erster Stelle ein Kind, das trotz seiner Einschränkungen Entwicklungsmöglichkeiten hat. Diese optimistische Perspektive hat heute die alten Auffassungen von einem unveränderlichen Zustand ersetzt.

Menolascino (1977) und Wolfensberger (1972) gehen davon aus, dass Entwicklung bei allen Menschen, so auch bei geistig behinderten Menschen, ein lebenslanger Prozess ist, selbstverständlich mit jeweils individueller Intensität, Geschwindigkeit und Ausprägung.

[Dosen, A. (2010)]

Dosen nennt sogar als Referenz die bereits zitierten Autoren Greenspan & Wieder, geht jedoch nicht den Schritt, deren und auch seinen eigenen entwicklungsdynamischen Ansatz auch auf frühkindlichen Autismus anzuwenden.

Bereits Jahre vorher findet sich bei Lingg; Theunissen (2000) ein entwicklungsdynamischer Ansatz für Kinder mit geistiger Behinderung – aber bis heute (!) nicht für Autisten.

Sowohl bei Dosen (2010) als auch Lingg; Theunissen (2000) ist der Perspektivenwechsel innerhalb des jeweiligen Buches massiv. Über alle Formen möglicher geistiger Behinderung hinweg wird ein dynamischer Ansatz im Hinblick auf die Entwicklung vertreten. Dies alles ist jedoch schlagartig beim Wechsel zur Darstellung von Autismus vergessen.

Warum aber verweigern Wissenschaft und Forschung autistischen Kindern die Möglichkeit einer (positiven) Entwicklung?

Warum wird frühkindlicher Autismus bis heute als statisch und unveränderbar dargestellt?

Warum wird auf diese Weise Eltern und Angehörigen die Hoffnung genommen und Unterstützung und Hilfe für autistische Kinder geradezu unterbunden?

2 Die drei Fehler der Autismus-Forschung


Der Verweigerung einer entwicklungsdynamischen Sicht und damit auch der Entwicklung von entsprechenden Förderprogrammen für autistische Kinder, liegen drei fundamentale Fehler der Autismus-Forschung zugrunde.

2.1 Das „Kühlschrank-Mutter“ Trauma

Ein erster entwicklungsdynamischer Ansatz führte in eine wissenschaftliche wie menschliche Katastrophe. Auf der Suche nach möglichen Ursachen für die Entstehung von Autismus äußerte schon Leo Kanner die Vermutung, dass ein Mangel an mütterlicher Wärme und Zuneigung eine Ursache sein kann. Weitergeführt wurde diese Annahme von Bruno Bettelheim 1967 in seinem Buch „Die Geburt des Selbst“. Aufgrund einer massiven Verkürzung und mangelnden Diskussion bzw. Überprüfung des Ansatzes von Bettelheim wurde in Folge die „Kühlschrank-Mutter“ als Ursache für Autismus „identifiziert“.

Und das mit verheerenden Folgen insbesondere für die Mütter autistischer Kinder.

Aufgrund dieser Theorie, Autismus werde durch psychische Faktoren verursacht, litten Eltern autistischer Kinder in der Vergangenheit unter ungerechtfertigten Vorwürfen. Teilweise werden auch heute noch Eltern von ihrer Umgebung für das autistische Verhalten ihrer Kinder verantwortlich gemacht.“ [Quelle: wikipedia.de]

Dieser erste entwicklungsdynamische Ansatz bezog sich vor allem auf die Entstehung von Autismus und führte zu falschen Schlüssen mit zugleich sowohl für die Eltern als auch für die Autismus-Forschung traumatischen Folgen. Denn weitere Untersuchungen zeigten, dass Autismus zu einem großen Teil genetisch bedingt ist und somit die Mütter keine Schuld an der Entstehung von Autismus trifft.

2.2 Statisch statt entwicklungsdynamisch

In der Folge wurde das „autistische Kind mit dem Bade ausgeschüttet“. Der Bereich der Entwicklungsdynamik galt in der gesamten Autismus-Forschung als vermint, niemand wollte sich anscheinend ein weiteres Mal die Finger an dem heiklen Thema verbrennen.

Und das mit dramatischen Folgen:

Über 60 Jahre haben sich Behandlungen von ASS auf die Symptome der Erkrankung konzentriert, anstatt auf die zugrunde liegenden Probleme. Als Ergebnis wurden die Ziele für individuelle Kinder oft auf Veränderungen des Verhaltens begrenzt. Und die langfristige Prognose für viele Kinder mit der Erkrankung war tief pessimistisch. Die vorherrschenden Annahmen über die Natur von Autismus haben die Erwartungen bezüglich Fortschritt und Zukunft dieser Kinder begrenzt.

[Greenspan, Stanley I.; Wieder, Serena (2006)]

Es wurde zwar beschrieben, wie eine negative Interaktion mit der Umwelt bei Kindern mit geistiger Behinderung zu psychischen Störungen führen kann, aber dies nicht auf den Bereich Autismus ausgedehnt.

Wir erkennen einerseits, daß geistig Behinderte fähig sind, unabhängig von ihrer geistigen Behinderung, psychisch zu erkranken. Andererseits begreifen wir, daß bestimmte Umstände der Lebenssituation vieler geistig Behinderter das Erkrankungsrisiko entscheidend erhöhen. Bedingungen, die zu einer im Vergleich zur Gesamtbevölkerung höheren Inzidenz psychischer Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung beitragen, sind neben einer in der Regel wenig bedürfnisgerechten Umgebung – vor allem in Großeinrichtungen – eine oft ausgeprägte Selbstwertproblematik, Beeinträchtigungen in der Kontaktaufnahme und Kommunikationsfähigkeit, eingeschränkte oder inadäquate Möglichkeiten der Artikulation und Durchsetzung eigener Wünsche sowie gleichzeitig Unter- und Überforderungen, die immer wieder zu Frustrationserlebnissen führen und die eigenen, eng gesetzten Grenzen schmerzlich spürbar werden lassen. Diesen großen psychosozialen Belastungen stehen beschränkte Selbsthilfemöglichkeiten und meist ein nur geringes Ausmaß an sozialer Unterstützung gegenüber.

[Lingg; Theunissen (2000)]

Auch in dem obigen Zitat reicht es, die Worte „geistige Behinderung“ durch „frühkindlichen Autismus“ zu ersetzen, um die Probleme wie auch Chancen bei der Entwicklung von autistischen Kindern und Erwachsenen zu erschließen.

In dem entwicklungsdynamische Modell für Kinder mit geistiger Behinderung, beschreibt Anton Dosen vier Bereiche, die Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben. Es sind die

  1. biologische Dimension
  2. soziale Dimension
  3. funktionale Dimension
  4. Entwicklungsdimension

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