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E-Book

17. Juni 1953

AutorIlko-Sascha Kowalczuk
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2013
ReiheBeck'sche Reihe 2771
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406645402
FormatePUB/PDF
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nur acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ging es im kommunistischen Osten Deutschlands um Demokratie, Freiheit und Wiedervereinigung. Etwa eine Million Menschen beteiligten sich in über 700 Orten der DDR. Ilko-Sascha Kowalczuk schildert den Volksaufstand in seiner ganzen Vielschichtigkeit und lenkt den Blick auf die Großstädte ebenso wie auf die vielen mutigen Menschen in der Provinz. So entsteht ein breites Panorama einer gesellschaftlichen Bewegung, die die SED-Diktatur bis ins Mark erschütterte.

Ilko-Sascha Kowalczuk, geb.1967, Dr. phil., Historiker, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission «Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit» und arbeitet seit mehreren Jahren als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde.

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Leseprobe

1. Kalter Krieg gegen die eigene Gesellschaft: Der Aufbau des Sozialismus


Vom 9. bis 12. Juli 1952 fand die 2. SED-Parteikonferenz statt. Laut Parteistatut vom Juli 1950 konnte das SED-Zentralkomitee zwischen den turnusmäßigen Parteitagen eine «Parteikonferenz» einberufen, um «über dringende Fragen der Politik und Taktik der Partei» abstimmen zu lassen. 1949 diente die 1. Parteikonferenz dazu, die offene Umwandlung der SED in eine Leninsche Partei neuen Typus zu verkünden. Auch die 2. SED-Parteikonferenz hatte zum Ziel, etwas zu propagieren, was tatsächlich längst begonnen hatte. Beide Konferenzen brachten keine neue Politik, kündigten aber eine verschärfte Gangart, neue Formen von Repressionen und die kompromisslose Umsetzung der proklamierten Zielvorstellungen an.

Am ersten Tagungstag hielt Walter Ulbricht, der mächtigste SED-Funktionär zwischen 1946 und 1971, eine sechsstündige Grundsatzrede. Unter frenetischem Beifall rief er die historisch gewordenen Worte in die tobende Halle hinein: «In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.» Die SED-Führung hatte die DDR von Anfang an nach sowjetischen Vorgaben und Mustern geformt und geleitet. Sie hatte aber aus taktischen Gründen vermieden, vom Aufbau des Sozialismus zu sprechen. Im Frühsommer 1952 war jedoch aus ihrer Sicht der Zeitpunkt gekommen, die seit Kriegsende 1945 verfolgten Ziele offen zu propagieren. Die wichtigste Frage, die sogenannte Machtfrage, schien geklärt. Wozu eine «historische Parteikonferenz», die lediglich einen Kurs verkündete, der bereits seit Jahren verfolgt wurde?

Dafür gab es zwei Gründe. Der eine betraf die «deutsche Frage»: Mit dem Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus machte die SED-Führung deutlich, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands nur denkbar sei, wenn ein sozialistisches Gesamtdeutschland entstehen würde. Die Wiedergewinnung staatlicher Souveränität im Rahmen der westeuropäischen Integration durch die Bundesrepublik, die mit dem Deutschlandvertrag und der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Mai 1952 politische Realität geworden war, hatte die SED-Führung in Zugzwang versetzt und trieb sie dazu, ihre Zukunftsvorstellungen von einer kommunistischen Gesellschaft zu zementieren. Zweitens sollten Entwicklungen beschleunigt und unumkehrbar gemacht werden, die bereits vor der Parteikonferenz in Gang gesetzt worden waren. Dazu zählten etwa der Ausbau des Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze, der Aufbau von bewaffneten Streitkräften, die Vorbereitungen für eine groß angelegte Verwaltungsreform, die Reorganisation der Ministerien, die weitere Formierung einer zentral geleiteten Industrie, der weitere Umbau des Rechtswesens, die Militarisierung der Gesellschaft, die Fortführung der Hochschulreform und anderes mehr. Zugleich forcierte die SED-Führung den Sowjetisierungsprozess der Gesellschaft. Dazu zählten die geplante Kollektivierung der Landwirtschaft, die Verschärfung des Kirchenkampfes oder der Kampf gegen selbstständige Unternehmer, Handwerker und Gewerbetreibende.

Die SED-Führung hatte in Konsultationen mit der Moskauer Führung diesen neuen Kurs besprochen und schließlich am 2. Juli 1952 einen Brief an Stalin gerichtet, in dem sie ihn um Zustimmung für die Beschlüsse bat. Er segnete sie ab. Die Beschlüsse betrafen die gesamte Bevölkerung, da alle sozialen Schichten mehr oder weniger gezwungen wurden, sich dem gesteigerten Entwicklungstempo und der einseitigen wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. Auch die Auswirkungen dieser Politik bekam die gesamte Gesellschaft zu spüren. Die Läden wurden leerer und das erarbeitete Geld wertloser.

Sowenig die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz auf demokratische Weise herbeigeführt worden waren, so wenig war daran gedacht, sie demokratisch umzusetzen. Vielmehr sollte der Sozialismus mittels Repressionen und Verfolgungen, von ideologischen Kampagnen begleitet und in einer Atmosphäre des Terrors etabliert werden. Die Delegierten reisten ab, um die Beschlüsse im ganzen Land zu verkünden. Dabei schlug ihnen nur selten Sympathie entgegen. Viele Menschen waren bestürzt über die drohende Militarisierung, von der besonders die Jugend betroffen war. Aber auch Handwerker, Bauern sowie Klein- und mittelständische Unternehmer zeigten sich besorgt. Sie befürchteten Enteignungen und Zwangskollektivierungen. Immer wieder wiesen die Funktionäre von der Basis die Zentrale in Berlin darauf hin, welche Vorstellungen weit verbreitet seien. So berichtete ein Genosse aus der Farbenfabrik in Wolfen, dass SED-Mitglieder der Meinung seien, «die Diktatur des Proletariats […] führe» dazu, «dass nun die Betriebsleiter nichts mehr zu sagen hätten». Diese Konsequenz trug die SED-Führung nicht mit. Sie war auf Fachleute angewiesen, bestand aber darauf, in allen Fragen des Staates und der Gesellschaft die letzte Entscheidungsbefugnis auszuüben. Die DDR war als zentralistischer Staat gebildet worden, den die SED dominierte, auch wenn ihre «führende Rolle» erst 1968 «verfassungsrechtlich» verankert worden ist. Bereits am 17. Oktober 1949, also nur zehn Tage nach der Gründung der DDR, hatte die SED-Parteiführung verfügt, dass alle Erlasse, Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse vor der Verabschiedung durch die Volkskammer oder die Regierung vom SED-Politbüro bzw. vom Sekretariat des Politbüros bestätigt werden mussten.

Als die 2. Parteikonferenz tagte, war die «Diktatur des Proletariats» bereits so weit aufgebaut worden, dass es niemanden mehr wunderte, dass eine Parteikonferenz und nicht die Regierung solche weitgehenden, die gesamte Gesellschaft berührenden Beschlüsse fasste. Gleichzeitig zeigte sich, dass viele Parteilose die Konsequenzen nicht überblickten und sich die meisten Parteifunktionäre außerstande sahen, ihnen diese zu erläutern. Der Mehrheit der Bevölkerung aber war bewusst, «dass der Aufbau des Sozialismus eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands mit sich bringen wird». Zum damaligen Zeitpunkt, sieben Jahre nach Kriegsende, war die deutsche Teilung in den Köpfen noch lange nicht zementiert. Fast alle hofften, die Spaltung sei eine vorübergehende Erscheinung. Mit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus trat Ernüchterung ein, ohne dass die Hoffnungen verschwanden. Die «Verschärfung des Klassenkampfes», wie Ulbricht im Anschluss an seinen Lehrmeister Stalin pausenlos verkündete, bedeutete eine Verschärfung des Terrors. Ein Parteisoldat aus Angermünde brachte dies überspitzt auf den Punkt: «Jetzt haben wir endlich die Diktatur des Proletariats. Wer jetzt nicht mitmacht, wird kurzerhand umgelegt. Auf den Tag habe ich schon lange gewartet.» Der Genosse freute sich zu früh. Mord und Totschlag zählten nicht zum geplanten Programm. Dieses Zitat verdeutlicht aber, welche Atmosphäre in der Gesellschaft herrschte.

Durch einen erheblichen Produktionsanstieg und die Beseitigung der Kriegsfolgen sollte der Vorkriegslebensstandard der Bevölkerung erreicht und bis Ende 1955 überschritten werden. Das galt besonders für den Verbrauch von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern. Laut den Plänen sollten zum Beispiel die landwirtschaftlichen Erträge um 25 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 72 Prozent erhöht werden. Diese Versprechen konnten jedoch nicht eingelöst werden. Ende 1952 war der Vorkriegsstand in der Verbrauchsgüterindustrie nicht annähernd erreicht worden. Das lag auch an der weitreichenden Militarisierung der Gesellschaft, die im Umfeld der 2. SED-Parteikonferenz einsetzte und erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Folgelasten nach sich zog. Die FDJ übernahm im Mai 1952 die Patenschaft über die Kasernierte Volkspolizei (KVP). Bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962 zählte fortan zu ihrer zentralen Aufgabe, Jugendliche für Polizei und Militär zu gewinnen. Auch die Bildung der «Gesellschaft für Sport und Technik» (GST) 1952 stand im Zeichen der Militarisierung, die allerdings bereits in den Jahren zuvor begonnen hatte. Zudem hatte die 2. Parteikonferenz den Aufbau «nationaler» Streitkräfte proklamiert. Bereits im Frühjahr 1952 notierte Staatspräsident Wilhelm Pieck bei einem Besuch in Moskau, die «pazifistische» Phase der DDR-Politik sei zu beenden und Armee und Rüstungsindustrie aufzubauen. In der DDR waren zu diesem Zeitpunkt rund 500.000 Soldaten der sowjetischen Besatzungsarmee stationiert. Die Moskauer und Ostberliner Führungen schickten sich an, die DDR zur militärisch am dichtesten besetzten Fläche Europas werden zu lassen. Die KVP bzw. deren Vorläufer verfügten Anfang 1952 über etwa 50.000 Angehörige. Ende des Jahres waren es bereits 90.000 und Mitte 1953 über 110.000 Mann.

Der Produktion wurden in einem sehr kurzen Zeitraum 60.000 junge, in der Industrie dringend benötigte Facharbeiter entzogen. Da viele Kasernen erst gebaut oder...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Vorwort7
1. Kalter Krieg gegen die eigene Gesellschaft: Der Aufbau des Sozialismus9
2. Stalins Tod und der «Neue Kurs»22
3. Der Aufstand in den Großstädten34
Berlin36
Dresden52
Halle56
Leipzig66
Magdeburg70
4. Der Aufstand in der Provinz74
Mecklenburg-Vorpommern74
Brandenburg78
Sachsen-Anhalt84
Thüringen89
Sachsen99
5. Die Rache der Herrschenden105
Hinrichtungen in der Sowjetarmee?114
6. Internationale Reaktionen116
7. Die Zukunft des 17. Juni: Nachbetrachtung120
Auswahlbibliographie124
Register127

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