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E-Book

1941 - Das Jahr, das nicht vergeht

Die Saat des Hasses auf dem Balkan

AutorSlavko Goldstein
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783104038247
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Eine einzigartige Erzählung über eine der großen Tragödien des 20. Jahrhunderts »Eine perfekt gelungene Mischung von persönlicher Erinnerung und historischer Reflexion. Alle, die dieses Buch lesen, werden durch Slavko Goldsteins zutiefst humanen Blick auf die Erfahrung des Schreckens vieles erst begreifen.« Timothy Snyder 1941 besetzten die Deutschen das Königreich Jugoslawien, in Kroatien übernahm die faschistische Ustascha die Macht. Slavko Goldstein, einer der bekanntesten Intellektuellen im ehemaligen Jugoslawien, erzählt von diesen Wochen und Monaten, die er selbst als Vierzehnjähriger erlebt hat. Fesselnd beschreibt er die Dynamik der Gewalt auf dem Balkan, die 1941 in Gang gesetzt wurde, als die Ustascha-Regierung hunderttausende Menschen, vorrangig aus der serbischen Bevölkerung, ermordete. Goldstein beschreibt die Ereignisse Tag für Tag, Woche für Woche, schildert die Schicksale zahlreicher Menschen, ob Täter oder Opfer, und versucht, ihre Motive zu verstehen, ohne vorschnell zu urteilen. Die Gewalt von 1941 prägte die Region auch nach dem Krieg, als den Tätern im Geheimen der Prozess gemacht, aber in der Öffentlichkeit geschwiegen wurde. Der Hass entlud sich schließlich 1991 erneut in ungeahnter Brutalität. Slavko Goldstein macht diesen unheilvollen Kreislauf der Gewalt, der exemplarisch ist für viele ähnliche Konflikte, unmittelbar nachvollziehbar. Seine Erzählung ist getragen von einer zutiefst humanistischen Haltung, die zugleich deutlich macht, dass Gut und Böse in dieser Tragödie untrennbar miteinander verwoben sind.

Slavko Goldstein (1928-2017) war einer der wichtigsten Intellektuellen Kroatiens und des ehemaligen Jugoslawien. Nach dem Tod seines Vaters 1941 ging seine Mutter mit ihm und seinem Bruder zu den Partisanen, wo er mit 17 den Rang eines Leutnants erreichte. In Jugoslawien zählte er nach dem Krieg zu den bekanntesten Journalisten und Drehbuchschreibern und gründete den Verlag Novi Liber. In den 1980er Jahren war er Präsident der Jüdischen Gemeinde von Zagreb, 1989 gründete er die erste nichtkommunistische Partei Kroatiens.

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Leseprobe

I Mein Vater


1 Zwei Spaliere (1941–1945)


Ich war ein neugieriger, nicht allzu großer Junge und musste auf ein Gatter klettern, um über die Menschenmenge hinwegsehen zu können. Der Tag zuvor war ein Donnerstag gewesen, der 10. April 1941, der Himmel war dunkel bestirnt, ein wenig Neuschnee war gefallen, der rasch auf den Straßen von Karlovac schmolz. Über Nacht klarte der Himmel auf. Der Karfreitag badete im Sonnenlicht des Frühlings, auf den Dächern, an den Fenstern und Balkonen flatterte die kroatische Trikolore. In der Banija-Straße drängten sich die Menschen in einem langgezogenen Spalier aneinander, um den Einzug der deutschen Soldaten in die Stadt zu feiern. Die Kinder schwenkten Papierfähnchen. Die Menschenmenge skandierte freudig: »Ganz ohne Krieg haben wir einen eigenen Staat bekommen!«

Der erste deutsche Panzer hielt vor der improvisierten Tribüne an der Ecke Banija-/Kolodvorska-Straße. Neben der Tribüne stand die Blaskapelle der Freiwilligen Feuerwehr und spielte Militärmärsche. Die heißwangigen Redner sprachen ihre Willkommensgrüße. Ich konnte sie nicht gut hören, weil die Lautsprecher schlecht abgestimmt waren. Gemeinsam mit meinen Freunden Tonček Strzalkowski und Bogdan Lasić hatte ich vom Gatter einen guten Überblick. Wir konnten alles genau sehen. Unsere Neugierde war zwar gestillt, aber wir waren froh, nicht in der Masse aufzugehen, deren Glück wir an diesem Tag kein bisschen teilten.

Unser Schulkamerad Lončarić, der drei, vier Jahre älter war als ich und den wir beim Fußballspielen Lonac, Topf, nannten, marschierte mit einem Gewehr im Arm durch die Menge. Er trug jetzt eine Mütze mit Abzeichen und war offensichtlich stolz darauf, einer von denen zu sein, die hier für Ordnung sorgten. Auch Herr Livadić paradierte beflissen mit einem Gewehr im Arm umher, wie irgendein Oberstleutnant in einer kroatischen Heimwehr-Uniform mit einer frisch angenähten Kokarde. Eigentlich hieß er Leitner und war ein vor kurzem zum Katholizismus konvertierter Jude und der Besitzer eines Eisenwarenladens, der sich unweit unseres Hauses auf dem Korso befand. Flink hatte er sich den neuen politischen Gegebenheiten angepasst, aber das konnte sein Leben nicht retten. Da er von Geburt an Jude war, wurde er noch im gleichen Jahr in das Konzentrationslager Jadovno deportiert. Als ich nach oben schaute, glaubte ich einen kurzen Augenblick lang im ersten Stock Smiljka Kozomarić hinter einem Vorhang am Fenster gesehen zu haben. Sie war genauso alt wie ich. Noch letzten Sommer hatte ich sie beim Baden am Fluss Korana, als sie ihre sich entwickelnden weiblichen Rundungen Sonne und Wasser zur Schau stellte, schamhaft und voller Sehnsucht betrachtet. Ihr Vater war ein wohlhabender Händler aus Karlovac, ein Unterstützer serbischer Kulturvereine und der Jugoslawischen Sokol,[1] Smiljka hatte also ebenfalls keinen Anlass, sich zu freuen – weder über die Ankunft der Deutschen noch über die Ausrufung des Unabhängigen Staates Kroatien und diesen ganzen Glücksrummel unter ihrem Fenster.

Ein junger deutscher Soldat (vielleicht war er auch Offizier), der bis zur Hüfte in der Panzerluke steckte und sich geradezu entspannt die Willkommensreden in einer ihm fremden Sprache anhörte, schielte, so kam es mir jedenfalls aus der Ferne vor, heimlich auf seine Uhr. Sechzig Jahre später erzählte mir mein Freund Vaništa, damals hätten ihn das jugendlich schöne Gesicht dieses Soldaten und seine feine Erscheinung auf jenem riesigen hässlichen Panzer sehr überrascht.

Die deutschen Militärs bahnten sich ihren Weg durch die Menschenmenge in Richtung Banija-Brücke, marschierten in Karlovac ein und verteilten sich allmählich in der Stadt. Als wir nach Hause gingen, sagte Bogdan niedergeschlagen: »Bei diesem Militär ist Widerstand sinnlos.« Noch immer stand er unter dem Eindruck der deutschen Panzer. Bogdan war ein glühender Verehrer der Jungen Jugoslawischen Kommunisten. Drei Jahre später wurde er bei den Partisanen Anführer einer Kompanie in der Žumberak-Brigade.

In den nächsten Tagen sahen wir von unseren Fenstern aus die deutschen motorisierten Einheiten kommen und gehen. Sie marschierten vor dem örtlichen Kulturzentrum Zorin Dom auf und ab, als wären sie jederzeit einsatzbereit. Gepanzerte Kleinlastwagen zogen Artillerie mit Gewehrläufen hinter sich her, die länger waren als die Wagen selbst. Die Jugoslawisch-Königliche-Armee, die bei diesem Aufmarsch der motorisierten deutschen Vorhut in sich zusammengefallen war, hatte ebenfalls Geschütze, aber diese wurden von Ochsen gezogen. In der nahe gelegenen Stadt Glina, so hat es ein Historiker aus dieser Gegend festgehalten, stellte eine solche mit Ochsen ausgestattete Artilleriedivision ihre Zelte auf und übernachtete in den Gärten und im Stadtpark. Als am nächsten Morgen die deutschen Panzer durch Glina donnerten, lösten sich die Stellungen der königlichen Artillerie eilig auf. Die von ihnen zurückgelassenen hungrigen und durstigen Ochsen zogen traurig blökend durch die Straßen und Parks.

Vier Jahre später strömten erneut auf beiden Seiten der Banija-Straße glückliche Menschen in langen Reihen in die Stadt. Das war am späten Abend des 8. Mai 1945. Der Krieg war zu Ende. Durch diesen lärmenden Menschenkordon kehrte die Karlovac-Stoßtrupp-Brigade nach Hause zurück. An der Ecke der Kolodvorska- und Banija-Straße stellte sich wieder eine Blaskapelle auf, vielleicht sogar genau jene, die schon vor vier Jahren beschwingte Märsche gespielt hatte. Die Menschen in der Menge schwenkten kleine Flaggen, begrüßten laut und freudig die Soldaten. Die bemühten sich, ihre Reihen ordentlich gerade zu halten, hätten sich aber am liebsten selbst zu den Städtern gesellt, denn sie kamen aus dem Krieg zu ihren Familien und in ihre Häuser zurück.

An der Ecke der Kolodvorska- und Banija-Straße stand dieses Mal keine Tribüne. Wir Rückkehrer wurden an der zerstörten Brücke empfangen. Die Redner habe ich von dort weder gesehen noch gehört, weil ich weit entfernt in den hinteren Reihen unserer Brigade stand, im 4. Bataillon. Vor dem Hotel Evropa glaubte ich in der Menge wieder den Radiotechniker Kiš zu sehen, den Mann mit dem prachtvollsten Haar der ganzen Stadt, der genau an dieser Stelle schon vor vier Jahren gestanden hatte. Die Vorhänge an den Fenstern von Smiljkas Haus waren dieses Mal nicht zugezogen, an einem stand Smiljka und winkte. Auf beiden Seiten des Spaliers rannten immer wieder Menschen in die Reihen der Brigade, um den Sohn, die Tochter, den Bruder, den Freund zu umarmen. Die Reihen strammstehender Soldaten lösten sich dann langsam auf. Die Männer verschwanden in der Menschenmenge. Kurz vor der Brücke sah ich plötzlich meine Mutter auf mich zurennen. Wir weinten lange vor lauter Glück, wieder zusammen zu sein, aber auch aus Traurigkeit, weil einige unserer nahen Angehörigen und so viele andere Menschen nicht mehr am Leben waren. Der Krieg war nun wirklich zu Ende. Für uns war das die Befreiung. Erst später haben wir gesehen, dass diese Freude nicht von allen geteilt wurde. Das Ende des Krieges brachte vielen anderen Leiden und Not. Wir waren stark genug gewesen, um dem Bösen Widerstand entgegenzusetzen, aber unsere Kraft reichte nicht aus, um unseren Sieg auch auf eine menschliche Weise zu krönen. Wie so viele andere militärische Siege in der Geschichte blieb unser Sieg nicht frei von Makel.

Vier Jahre, die zwischen dem ersten und dem zweiten Spalier auf der Banija-Straße lagen, hat dieser Krieg gedauert, der unser aller Schicksal bestimmt hat. Er zerstörte Millionen von Familien, verkrüppelte unzählige Menschen und trieb sie in alle Himmelsrichtungen auseinander. Einstige Nachbarn und Freunde hatten einander durch die Zielfernrohre ihrer Maschinengewehre angesehen. Dieser Krieg hat ein Erbe hinterlassen, das noch lange nach unserem Tod nachwirken wird. Die Deutschen haben dreißig Jahre später – ein bisschen selbstzufrieden – den Neologismus »Vergangenheitsbewältigung« kreiert, aber ich befürchte, die Vergangenheit ist keineswegs vollständig bewältigt, weder dort noch in den osteuropäischen Gesellschaften und auch nicht in Kroatien. Die Schatten, deren dunkelste Untiefen mit 1941 verwoben sind, sind noch nicht ganz verschwunden. Aber auch die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und danach kann man nicht gerade frei von Schuld nennen.

Das Schreiben über meine Angehörigen in diesem Buch hat mir die Mühe abverlangt, die Schicksale in meiner Familie nicht vom Leben der anderen Menschen oder dem Land selbst getrennt zu sehen. Ich schreite hierfür in Gedanken meine eigenen Erinnerungen an Freunde und Bekannte ab, versuche aber auch, jene Menschen mit zu bedenken, die ich damals nicht persönlich gekannt habe, die ich aber von heute aus verstehen möchte, obwohl uns die Geschichte auf verschiedenen Seiten der Ereignisse platziert hat. Ich glaube, dass das Schicksal meiner Familie, mit der ich diese Rückschau beginne, das Gesamtbild der Ereignisse vervollständigen kann. Dieses Gesamtbild hat sich mir durch die Sichtung unzähliger Dokumente und mittels meiner eigenen Recherchen erschlossen. Es kann helfen, das Geschehene besser zu verstehen – das, was den mir nahen Menschen, mir selbst und so vielen anderen widerfahren ist, und warum es geschah.

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Ich kann auf den Tag und die Stunde genau sagen, wann meine Kindheit zu Ende ging. Es war an einem Sonntag, dem 13. April 1941. Die Katholiken begingen das Osterfest. Es war ein Vormittag im Frühling. Auf der Promenade vor dem Kulturzentrum Zorin Dom, ganz in der Nähe unseres Hauses, waren akkurat...

Blick ins Buch

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