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E-Book

1946

Das Jahr, in dem die Welt neu entstand

AutorVictor Sebestyen
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783644120617
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Zerfallende Imperien, neue Konflikte - Victor Sebestyens großes Panorama des Jahres, in dem die Gegenwart begann. Nach dem zerstörerischsten aller Kriege ordnet sich die Welt von Grund auf neu. Aber auch neue Konflikte entstehen: So eint in Indien Moslems und Hindus allein der Hass auf die britischen Kolonialherren, in China greifen die Kommunisten nach der Macht, und in Palästina nimmt eine bis heute andauernde blutige Auseinandersetzung ihren Anfang. Japan wird die Demokratie verordnet, während in Europa weiterhin Vertreibung und Gewalt an der Tagesordnung sind. Zwei Weltmächte steigen auf, die fortan die Welt in Einflusssphären teilen: die USA und die Sowjetunion. Temporeich erzählt Victor Sebestyen von Politikern und Revolutionären, von Churchill, Stalin, Truman, Mao oder Gandhi, und von globalen Entwicklungen, die bis heute bestimmend sind. Sein Schauplatz ist die ganze Welt; er betrachtet oft vernachlässigte Ereignisse wie etwa jene in der Türkei oder Aserbaidschan, wo die ersten Stellvertreterkriege zu eskalieren drohen. Und wer weiß schon, wie die Amerikaner und Briten hinter den Kulissen um die atomaren Geheimnisse gerungen haben? Victor Sebestyen vereint kluge Analyse und mitreißendes Erzählen. Sein Buch ist ein Leseerlebnis - und lässt uns verstehen, warum die Welt, in der wir leben, so ist, wie sie heute ist.

Victor Sebestyen wurde 1956 in Budapest geboren und verließ Ungarn noch als Kind. Er ist Historiker und arbeitete als Journalist und Auslandskorrespondent u. a. für den «London Evening Standard» und die «New York Times». Heute ist er für «Newsweek» tätig. 2015 erschien bei Rowohlt Berlin sein Buch «1946. Das Jahr, in dem die Welt neu entstand», das von der Presse hoch gelobt wurde. Victor Sebestyen lebt in London.

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Leseprobe

Einleitung


Als Journalist war ich Zeuge einer Fülle von Ereignissen – vom Fall der Berliner Mauer über den Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion bis hin zum Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt in Israel und Palästina. Im Verlauf vieler Besuche in Indien habe ich miterlebt, wie sich ein rückwärtsgewandtes, bitterarmes Land zu einer pulsierenden Gesellschaft wandelte, die sich ganz der Zukunft öffnete. China tauschte die permanente Revolution gegen eine Form des Turbokapitalismus ein, die von Menschen vorangetrieben wird, die sich selbst als Kommunisten bezeichnen. Während des gesamten Zeitraums wurde die Welt von der Supermacht Amerika dominiert. Bei dem Versuch, als Historiker alle diese Ereignisse zu ihren Wurzeln zurückzuverfolgen, landete ich immer wieder bei demselben Bezugspunkt: 1946. Das erste Nachkriegsjahr schuf die Grundlagen der modernen Welt. Der Kalte Krieg begann, die Welt teilte sich entlang der ideologischen Bruchlinien, und Europa zerfiel in zwei Hälften zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Der Staat Israel sollte erst zwei Jahre später gegründet werden, doch 1946 fielen die Entscheidungen, die die Bildung der jüdischen Heimstatt ermöglichten – mit all den Konsequenzen, die sich inzwischen als so verhängnisvoll erwiesen haben. In diesem Jahr kämpfte Indien um seine Unabhängigkeit; es ist heute die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Die imperiale Macht des alten Britanniens begann zu bröckeln. Alle europäischen Kolonialreiche befanden sich im Zerfall, auch wenn der Imperialismus in verschiedenen Formen weiterlebte. Es war das Jahr, in dem die chinesischen Kommunisten endgültig ihren Sieg in einem Bürgerkrieg besiegelten, der den erneuten Aufstieg Chinas zur Großmacht einleitete. Dieses Buch soll zeigen, wie die Entscheidungen des Jahres 1946 die Welt prägten, in der wir heute leben.

1946 herrschte nirgendwo viel Optimismus. Zu Beginn des Jahres war ein hoher Repräsentant der amerikanischen Regierung von einem Europabesuch zurückgekehrt. Als er Präsident Harry Truman im Weißen Haus aufsuchte, klang sein Bericht apokalyptisch. «Die wesentlichen Grundlagen, die ganze Struktur der Weltorganisation, die wir zeit unseres Lebens kannten und mit der unsere Väter und Großväter lebten», sei bedroht, sagte er. Und er übertrieb nicht. Wie so oft fand Winston Churchill die eindringlichsten Worte und brachte damit die Gefühle von Millionen Menschen zum Ausdruck. Im September 1946 beschrieb er die fortdauernden Folgen des Zweiten Weltkrieges: «Und welches ist der Zustand, in den Europa gebracht worden ist? Zwar haben sich einige der kleineren Staaten gut erholt, aber in weiten Gebieten starren ungeheure Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen und suchen den düsteren Horizont angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen Gefahr, einer neuen Tyrannei oder eines neuen Schreckens ab. Unter den Siegern herrscht ein babylonisches Stimmengewirr; unter den Besiegten das trotzige Schweigen der Verzweiflung.»[1]

Churchill sprach von Europa, aber seine Worte hätten sich ebenso gut auf große Teile Asiens beziehen können. Wie viele vernünftige Menschen fürchtete er «ein neues dunkles Zeitalter – mit all seiner Grausamkeit und Not». In keinem anderen Krieg waren so viele Menschen in so kurzer Zeit getötet worden – rund sechzig Millionen in sechs Jahren. Der Weltkrieg war jetzt zwar zu Ende, das Sterben jedoch nicht. Im Jahr zuvor war der Augenblick der «Befreiung» von Freude und Erleichterung begleitet worden, doch schon bald wurden die Menschen von der Wirklichkeit eingeholt. Während der nächsten vier Jahre nahmen die Bürgerkriege in China und Griechenland ihren Lauf. Es kam zu Aufständen gegen die Sowjets in der Ukraine, wo Nationalisten gleichzeitig einen brutalen Kampf gegen Polen führten, in dem mehr als fünfzigtausend Menschen ihr Leben verloren, während in verschiedenen Teilen Asiens Unabhängigkeitskriege aufflammten. Auch nach dem Holocaust kam es in Osteuropa zu antisemitischen Ausschreitungen, was für einen modernen Leser kaum zu verstehen ist; tausendfünfhundert Juden, denen es irgendwie gelungen war, den Nazis zu entkommen, verloren ihr Leben.

In großen Teilen Europas gab es keine Schulen, so gut wie keine Verkehrsverbindungen, keine Bibliotheken, keine Geschäfte – es gab nichts zu kaufen und fast nichts, was noch hergestellt wurde. Auch Banken existierten praktisch nicht mehr, was kaum eine Rolle spielte, weil das Geld wertlos war. Gesetz und Ordnung zählten nicht länger. Durch die Straßen streiften Männer und Kinder, die sich bewaffnet hatten, entweder um zu verteidigen, was sie besaßen, oder um zu plündern. Frauen aller Altersgruppen und sozialer Schichten prostituierten sich für Essen und Schutz. Moralvorstellungen und Eigentumsbegriffe hatten sich gründlich gewandelt; gewöhnlich lautete das Gebot der Stunde jetzt: überleben. So erging es 1946 Millionen Europäern.

Berlin und Hiroshima lieferten die eindringlichsten Bilder des Krieges: In beiden Städten waren drei Viertel der Bausubstanz von alliierten Bombenangriffen zerstört worden. Von der Seine bis zum Donaudelta war das Kernland Europas verwüstet. In China wurden im Kampf gegen die japanischen Invasoren alle Deiche am Gelben Fluss in die Luft gesprengt, sodass zwölftausend Quadratkilometer fruchtbares Ackerland überflutet wurden – ein Schaden, dessen Beseitigung dreißig Jahre dauern und Millionen Chinesen zu bitterem Hunger verurteilen sollte.

Hungersnöte und Wirtschaftszusammenbrüche häuften sich. In Osteuropa verhungerten in den achtzehn Monaten nach dem Krieg rund drei Millionen Menschen. In Ungarn erreichte die Inflation einen traurigen Weltrekord von vierzehn Milliarden Prozent (das sind neun Nullen). In ganz Europa wurden wertlose Währungen durch den Tauschhandel mit Zigaretten oder durch die Bettelei bei ausländischen Soldaten ersetzt. Flüchtlinge überschwemmten die nördliche Hemisphäre, besonders in Zentraleuropa, wo Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und zu Skeletten abgemagerte Überlebende der Konzentrationslager von den siegreichen Alliierten pauschal unter dem Oberbegriff Displaced Persons zusammengefasst wurden.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Grenzen neu gezogen und Staaten erfunden, aber die Menschen blieben, wo sie waren. 1946 ging man umgekehrt vor. Der Siegeszug der Roten Armee war von einer massiven ethnischen Säuberung begleitet, in deren Verlauf fast zwölf Millionen Deutsche nach Westen vertrieben wurden. Zweieinhalb Millionen Menschen in Westeuropa schickten die Streitkräfte der Westalliierten in die liebevoll geöffneten Arme Stalins und seiner Mordschergen zurück, meist gegen ihren Willen und einige mit vorgehaltener Waffe.

Das vorliegende Buch geht von einer globalen Perspektive aus; man kann der Ansicht sein, die ganze Welt sei nach dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifender umgestaltet worden als nach dem Ersten. Der Erste Weltkrieg zerstörte Reiche, die es seit Jahrhunderten gab – das der Osmanen, der Romanows und der Habsburger. Nach 1945 waren die verbliebenen Weltreiche, wie etwa das britische, nicht mehr zu halten, trotz aller verzweifelten Versuche der schwächelnden Kolonialmächte, an ihrer einstigen Herrlichkeit festzuhalten. Der Imperialismus war nicht mehr dynastisch, sondern ideologisch – man erwartete von den Menschen keine Loyalität gegenüber einem König oder Kaiser, sondern gegenüber einer Idee wie dem Marxismus-Leninismus.

Der eine oder andere Leser mag überrascht sein, dass ich mich bei der Geschichte, die ich hier erzähle, auf Europa konzentriere. Doch der Kalte Krieg, der Kampf zweier Kulturen, der die folgenden vierzig Jahre überdauern sollte, war in Europa am heftigsten, zumindest in seinen Anfängen. Den Geschehnissen in Deutschland und Osteuropa, in Großbritannien und Frankreich maßen die wichtigsten Akteure auf der politischen Bühne höchste Bedeutung bei. Falls es einen neuen bewaffneten Konflikt geben sollte – und 1946 sah es ganz danach aus –, würde das Kernland Europas wieder das Schlachtfeld sein. Daher erschien es mir angebracht, das Buch vor allem in Europa anzusiedeln, aber gleichzeitig zu zeigen, wie tiefgreifend die Ereignisse des Jahres 1946 auch die Zukunft Asiens und des Nahen Ostens prägten.

Ein einziges Land ging erheblich gestärkt aus dem Krieg hervor. Die Vereinigten Staaten waren der einzige Hauptakteur des Konflikts, dessen Territorium praktisch unberührt geblieben war. Die überwältigende wirtschaftliche, finanzielle und militärische Dominanz der USA auf der Weltbühne begann 1946. Der Krieg führte Amerika aus der Depression heraus. Für die Nachkriegszeit war der Kontrast zwischen Amerikas neuem Wohlstand und der Armut seiner Feinde und Alliierten von großer Bedeutung.

In großen Teilen Asiens ist «Befreiung» nicht das richtige Wort für die Ereignisse, die auf die Kapitulation Japans folgten. Die europäischen Weltreiche versuchten, ihre Dominanz über die alten Kolonien wieder zu festigen: die Franzosen in Indochina, die Holländer in Ostindien, die Briten in Malaya und Singapur. Aber sie konnten die traditionelle Kolonialherrschaft nicht mehr lange aufrechterhalten. Der langsame und quälende Rückzug war für manche Nationen schlimmer und blutiger als für andere – denken wir beispielsweise an die Demütigung Frankreichs in Vietnam. Die Briten waren verzweifelt bemüht, sich so rasch wie möglich aus dem indischen Subkontinent zurückzuziehen; mit würdeloser Hast, wie ihnen viele Kritiker bescheinigten, die der Meinung waren, die Briten hätten die Sache «vermasselt» und seien...

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