1. Von Paris nach Chapelon.
Die Karawane
Am 10. Juni elf Uhr vormittags begegne ich Tr… auf der Avenue des Champs-Élysées. Wir beschließen, zum Continental zu gehen, »um etwas zu erfahren«. Mitten auf der Fahrbahn reißt ein Arbeiter mit einem Presslufthammer ein paar Steine aus dem Pflaster. Straßenreparatur oder Verteidigung gegen Panzer? Währenddessen sprüht ein Rasensprenger seine Wasserperlen über das Gras einer Grünfläche. Der Rasensprenger bringt uns auf kindliche Gedanken, er beruhigt uns: »Wenn es ernst wäre, dächte man nicht daran, den Rasen zu sprengen …«
»Geh mit Gott …«, sage ich ihm, als wir uns trennen. »In Kriegszeiten gibt es Gott«, sagt er zu mir. Das ist keineswegs ein Glaubensbekenntnis. Er will damit ausdrücken, dass weder er noch ich Einfluss auf die Ereignisse haben, dass die Geschichte sich ohne unser Zutun vollzieht.
Die Rue d’Assas, in der ich wohne, ist leer. Die Leute, die ein Auto zur täglichen Verfügung haben, die ihren Wagen direkt am Bordstein stehen lassen, während sie zu Mittag essen, sind längst abgereist. Ich habe es mit der Abreise nicht eilig. Die klügsten, die sachkundigsten Ratschläge haben meine Überzeugung nicht beeinflusst. Es hat nichts mit Vernunft zu tun. Meine Gewissheit und meine Sicherheit ruhen tief in mir, in einem Bereich, in den weder strategische Überlegungen noch die Vernunft vordringen. »Paris ist Paris, und dass die Deutschen in die Stadt eindringen, ist unmöglich.«
Doch in der Nacht hat mir A… den freundschaftlichen, den brüderlichen Befehl gegeben, sechzig Kilometer Abstand zwischen die Deutschen und uns zu bringen. Ich bin entschlossen zu gehorchen, aber eigentlich nur ihm zuliebe. Ich glaube, dass er sich als Freund Sorgen macht, so wie auch ich mir im umgekehrten Fall Sorgen machen würde, dass er selbst die Gefahr klarsieht und nur um uns Angst hat.
Wie jedes Jahr machen wir uns auf den Weg in Richtung Saint-Amour, unseren Fixpunkt zwischen dem Jura, der Bresse und unterem Burgund. Wir fahren am 11. Juni neun Uhr morgens los. Wir rechnen damit, dass wir gegen fünf Uhr nachmittags ankommen, ohne uns zu hetzen. Doch was für ein seltsamer Aufbruch. Ein Rußtrichter hängt über Paris. Ich habe nie herausgefunden, was für eine dicke schwarze Wolke das war. Rauch der Benzinreservoirs von Rouen? Eine Kriegslist, erfunden von uns, erfunden von den Deutschen?
Ich lasse den Krieg hinter mir. Ich mache mir nichts vor. Ich gönne mir einen Entspannungsurlaub. Seit September vergangenen Jahres habe ich versucht, nicht zu lügen und mich nicht zu belügen. Ich habe die Rolle von Don Diego akzeptiert. Und ich glaube, dass es für Jahrhunderte keine Zivilisation mehr geben wird, wenn der Soldat sich nicht an den Boden krallt, wie General Weygand[2] gesagt hat. Gerade erst in dieser Woche habe ich versucht, dieses Sich-Festkrallen genauer zu bestimmen, mich in die Haut des Soldaten zu versetzen, der sich festkrallt. Ich habe unter einer solchen Zustimmung zum Heldentum gelitten. Nur dieses Leiden hat mich getröstet und beruhigt.
Porte d’Italie, Villejuif, Thiais. Der Verkehr ist wie an Werktagen. Bald ist die Straße so voll wie an einem Sonntagabend. Ich halte an einer Tankstelle. Die Frau, die den Schlauch mit hocherhobenen Armen hält: Ich habe sofort das Gefühl, dass zwischen ihr und mir etwas anderes stattfindet als ein Treibstoffverkauf. Sie erwartet mich. Reglos hält sie den Schlauch über ihren Kopf, sie macht keinen Schritt auf den Benzintank am Wagen zu. Ihr Blick sucht meinen. Und sie sagt: »Russland hat Deutschland den Krieg erklärt …«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Meine ebenfalls. Wie weit zurück scheinen die Diskussionen über den Stalinismus und die Revolution zu liegen! Russland schickt seine Armeen in den Kampf. Und die Deutschen, in Compiègne oder Pontoise, machen wie von der Tarantel gestochen kehrt.
Soll ein Historiker mich wegen meiner Leichtgläubigkeit verspotten. Aber wie begierig hatten wir auf solche Nachrichten gewartet! Gewiss, es waren Gerüchte in Paris umgegangen, waren rasch durch die Flure der Straßen geeilt, in die Hausmeisterlogen, die Kneipen und durch die Fenster in die Wohnungen gelangt. Aber sie waren nicht falsch, sie kündigten eine Katastrophe an, die am Tag darauf bestätigt wurde.
Und Sie werden gut verstehen, dass ich mir diese Nachricht ohne jeden Widerstand zu eigen machte. Ich näherte mich einem haltenden Lastwagen. Drei Männer saßen auf der Fahrerbank. »Ist es wahr, dass … haben Sie gehört …?« – »Russland … Ja, natürlich …«
Jenem in den Krieg eintretenden Russland begegnete ich auf dem ganzen Weg, als die Überfüllung der Straße zum Stau wurde, als sich die Autos in Viererkolonnen fortbewegten und als die Nacht hereinbrach, wartete es auf mich, hockte in einem kleinen Dorf, in einer Dorfgasse, weit abseits des großen Fluchtweges.
In Plessis-Chenet sperrt man uns den Weg nach Fontainebleau, wir werden umgeleitet in Richtung Pithiviers, Orléans, ich weiß nicht genau. Aber wir stecken in einer endlosen Karawane. Wir sind nur noch Glieder einer endlosen Kette, die mit einer Geschwindigkeit von zehn, von fünf Stundenkilometern langsam über die Straße zieht … Sechs Uhr abends, in dem Dorf Auverneaux, sind wir vierzig Kilometer von Paris entfernt. Wir finden ein Zimmer. Biedere Leute, die Paris mit dem Fahrrad verlassen haben, sind schon da. Vor dem Radioapparat weint eine Frau: Das Radio-Journal de France hat von Russland nichts gesagt.
Wir fahren am nächsten Tag, dem 12. Juni, vier Uhr morgens weiter. Wir glauben, dass niemand so früh aufsteht. Aber wir finden uns in der Karawane wieder. Wir fahren mit brummendem Motor im zweiten Gang, meistens im ersten, zwanzig Meter und wieder zwanzig Meter. Dann ein Stillstand von sechs oder sieben Stunden, ich weiß nicht mehr genau. Sechs oder sieben Stunden in der Sonne. Doch in der Menge, die die Böschungen der Straße säumt, in der sich hinziehenden Menge, in dieser ausgewalzten Menge gibt es noch keine schlechte Stimmung, nicht einmal Ungeduld. Sie gibt nach, sie glaubt, militärischen Notwendigkeiten nachzugeben. Und das Gerücht verbreitet sich von einem zum anderen, auf einer Seitenstraße führen Munitionswagen vorbei.
Bei Einbruch der Dunkelheit halten wir in Milly. Wir haben sechzehn Kilometer in fünfzehn Stunden zurückgelegt.
Auf dem Dorfplatz stehen zahlreiche Autos, für eine Ruhepause oder wegen einer Panne. Die Hotels und Cafés sind voll, doch die Menge ist nicht beunruhigt. Der Autoverkehr wird geregelt. Der Ortskommandant hat eine kleine Werkstatt eingerichtet, wo Feuerwehrleute den Autofahrern helfen, die eine Panne haben. Freundlich und gutgelaunt. Und Monsieur Popot, von Beruf Mechaniker, dosiert routiniert die Mischung aus Öl und Benzin, mit der die Kupplung eines alten Bugatti geschmiert werden muss.
Der Markt hat ein schönes Dach aus alten Ziegeln. Wir finden Asyl in einem Café, das wie ein Tanzlokal aussieht. Ein weiträumiger Saal: ein Klondike-Saloon wie aus dem Kino. Der Spiegel, die Palmen, die gelblichen Wände, die braunen Holzleisten, die rotgewachsten Tische bilden das Jahrmarktsdekor für ein wildes Fest. Die Chefin hinter der Theke ist eine energische Blondine; die Kellnerin, dunkelhaarig und schlagfertig, eine gewitzte Soubrette, eilt durch den Raum. Es gibt nirgends mehr ein Abendessen, doch man erlaubt, dass wir unsere Sardinendose holen.
Am anderen Ende des Raumes sitzen zwei Soldaten einander gegenüber. Der Tisch mit einer Flasche Rotwein trennt sie. Sie gehören zusammen, sprechen aber nicht miteinander. Sie sitzen vollkommen regungslos auf ihren Stühlen. Sie sehen einander nicht an. Und ihre Blicke sind auf zwei verschiedene Punkte des Fußbodens gerichtet. Sie machen den Eindruck von etwas Ewigem.
Die Hotels sind voll. Wir schlafen und frühstücken am nächsten Tag bei einem Lebensmittelhändler. Man bittet uns an den Familientisch. Zwei Tage haben ausgereicht, damit wir uns wie in der Fremde fühlen: Schon spüren wir den Wert der Ruhepause, der Zuflucht, der Gastfreundschaft. Es sind keine Händler, keine Vermieter. Sie winkten ab, als wir aus Anstand den Preis verdoppeln wollten, den sie von uns verlangten.
Wir nehmen wieder unseren Platz ein in der Schneckentempo-Karawane. Die Straße nach Nemours ist gesperrt. Wir versuchen, über Château-Landon und Saint-Julien-du-Saut nach Joigny zu kommen. Aber wir werden über Malesherbes geleitet.
Die Autos drängen sich wie vor einer Schranke. Die Fußgänger überholen sie. Kein Motor liebt diese Fahrweise. Doch der Drei-Liter-Bugatti von 1932 streikt. Sein Kühlwasser kocht. Wir halten; wir fahren wieder an; doch jedes Anfahren wird zu einem Problem. Denn die Kupplung hat alle möglichen Vorzüge, nur geschmeidig ist sie nicht. Ich versuche, sie zu überlisten. Nach ein paar Stunden wird das sehr anstrengend. Es geht auf die Nerven. Der Ernst der Lage ändert daran nichts. Umso weniger, als der Ernst der Lage und die Sorge um die Mechanik sich gegenseitig steigern. Wir haben Angst, mit einer Panne liegenzubleiben.
Hinter der Kreuzung der Straße nach Pithiviers fängt das Kühlwasser wieder an zu kochen. Die Straßenböschung hat die Breite eines Autos, ich fahre aus der Karawane heraus und halte auf dem rechten Böschungsstreifen. Die Straße führt an einem Wald entlang. Die Karawane zieht vorbei. Alte Autos sind aus ihren Schlupfwinkeln in den Vorstädten gekommen oder aus einem Karosseriemuseum oder aus den Lagern, wo die...