BODEN
Das Dorf im kroatischen Istrien, in dem ich einen Großteil des Jahres wohne, liegt hoch oben auf einem Bergrücken, zweihundertdreiundneunzig (293) Meter über dem Meer, und diese Angabe ist so wichtig, dass sie auf einer an der Kirchenmauer angeschlagenen Steintafel steht.
Die Tafel ist das heraldische Schild des Dorfes. Das Meer kennen die Menschen hier weder als Traum noch als Sehnsucht, nur als etwas, das es ihnen zusammen mit der Meterangabe ermöglicht, ihre Position im Verhältnis zu allen anderen zu bestimmen; dass das Meer dennoch nicht weit weg ist, verrät einzig und allein die insulare Selbstgenügsamkeit dieser Menschen, eine Selbstgenügsamkeit, wie man sie sonst nur auf den Inseln der Adria oder entlang der Küste in Städten wie Venedig, Split oder Dubrovnik antrifft. Die Steintafel an der Kirche verkündet, dass wir uns auf einem völlig anderen Niveau befinden als die Dörfer unter uns in den Tälern und – das braucht gar nicht schriftlich festgehalten zu werden – dass sich jemand, der eine solche Höhe erreicht hat, ungern unter das gewohnte Niveau begibt.
Wer den Gipfel erreicht hat, will dort bleiben. Die eingesessenen Dorfbewohner, so arm und elend wie die meisten im Innern Istriens, sprechen gern schlecht über diejenigen, die weiter unten leben. Zum Gottesdienst müssen diese armen Menschen jeden Sonntag aus ihren Tälern zu uns heraufkommen. Sie haben in ihren Talgründen keine eigenen Kirchen, und auf einer Anhöhe nimmt sich eine Kirche eben doch am besten aus. Früher kamen sie zu Fuß, heutzutage mit dem Auto. Doch schwarzgekleidet wie eh und je. Die Männer sind jetzt nur noch Chauffeure; während die Frauen in die Kirche gehen, steuern sie schnurstracks das Wirtshaus an. Dort sitzen sie dann den ganzen Gottesdienst über bei ihrem Glas, und diese Arbeitsteilung zwischen Wirtshaus und Kirche zeigt, dass der uralte Streit zwischen Fleisch und Seele, zwischen Welt und Geist auf bestem Weg ist, zugunsten des Fleisches und der Welt entschieden zu werden.
Doch zweihundertdreiundneunzig Meter sind und bleiben zweihundertdreiundneunzig Meter, und bevor die Frauen die Kirche betreten, erinnert sie die Steintafel links neben dem Kirchenportal an das, was hier im Leben nicht zu ändern ist.
Der Friedhof liegt genau im Westen, und von nirgendwo im Dorf ist der Sonnenuntergang so schön wie von der Friedhofsmauer aus, wo die Sonne oft als feuerroter Ball am Horizont hinter den Zypressen versinkt. Früher war an dieser Stelle eine Befestigung mit Aussicht über verschiedene Täler, und obwohl das bald mehr als tausend Jahre her ist, nennen die Leute im Dorf den Friedhof immer noch Kastell (auf Kroatisch und Slowenisch kaštel, castello auf Italienisch).
Die Kelten waren als Erste hier.
Manchmal habe ich jedoch das Gefühl, Kelten sei nur der Name für unsere geballte Unkenntnis der dunklen Vorgeschichte, für alles, wovon wir nicht die geringste Ahnung haben oder was sich nicht erklären lässt, selbst wenn die Historiker sagen, das sei alles wirklich wahr: Unser Friedhof sei auf den Ruinen einer keltischen Wallburg errichtet und auch der Name des Dorfes, Sovinjak, sei keltischen Ursprungs.
Das Dorf interessiert das jedoch alles nicht. Jegliche Wissenschaft und Kenntnis, die über den gesunden Menschenverstand hinausgeht, gilt als überflüssig. Das Dorf hält sich an die Natur. Was es braucht, um eine Welt zu erklären, die nur selten größer sein darf als das Dorf, holt es aus dem Vorrat an Überzeugungen und Mythen hervor, der in seinem ungeordneten kollektiven Bewusstsein aufbewahrt ist. Man leistet sich hier seine eigene Geschichtsschreibung, und ohne eine wie auch immer geartete historische Rücksicht wird der Name Sovinjak mit dem reichlichen Vorkommen von Eulen bei uns erklärt.
In den meisten slawischen Sprachen heißt Eule sova.
Und tatsächlich: Es gibt hier ungewöhnlich viele Eulen, sie scheinen sich in den Kronen der großen Laubbäume dicht am Stamm wohl zu fühlen, und die Alten im Dorf sagen, das sei schon immer so gewesen oder zumindest, so weit sie zurückdenken können. Die Eulen gehören zum Dorf. Bricht die Dämmerung an, sind sie bald zu hören, und das ist für die Geschichtsschreibung des Dorfes eine weit wichtigere Tatsache als die ausgestorbene und von niemandem je vernommene Sprache der Kelten.
Dass das Dorf Sovinjak heißt, erhält damit buchstäblich seine natürliche Erklärung.
Unser Gastwirt Lino hat sogar eine Standarte anfertigen lassen, die bei allen Prozessionen hier im Dorf vorweggetragen wird, bei Erntefesten oder zur Karnevalszeit, wobei die meisten von der Kirche zum Friedhof und vom Friedhof zurück zur Kirche führen. Auf diese Standarte ist der Name des Dorfes gestickt, auf Italienisch (Sovignacco), aber auch auf Keltisch (Sovinjak), was sowohl die kroatische als auch die slowenische Sprache übernommen haben.
Und mitten auf die Standarte ist eine große Eule gestickt.
Im Dorf zählen nur die Tiere der Luft und des Bodens. Von Fischen hat es keine Ahnung, ebenso wenig von Schalentieren. Was aus dem Meer kommt, kennt das Dorf nicht, und was es nicht kennt, wird nicht als Nahrung betrachtet. Man steckt nur das in den Mund, was man seit Generationen in sich hineingefuttert und hinuntergeschluckt hat. Lediglich Klippfisch (bakalar auf Kroatisch, auf Italienisch baccalà) und der eine oder andere Karpfen finden den Weg hierher, doch ausschließlich zu hohen Feiertagen und weil die Kirche es seit undenklichen Zeiten vorschreibt.
Im Binnenland Istriens verlangt nicht einmal eine Katze nach Fisch.
Trotzdem ist auch hier das Wasser von größter Bedeutung. Wasser ist so kostbar, dass die Menschen es früher einander stahlen. Noch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Sovinjak nur zwei Zisternen, in denen Regenwasser aufgefangen wurde, eine im Garten des Priesters und eine neben der Schule, wobei die neben der Schule eine junge Lehrerin aus Slawonien gemauert hatte, die nach dem Krieg von der kommunistischen Partei hierherbeordert worden war. Istrien ist arm, Slawonien dagegen ein reiches Bauernland mit fleißigen Menschen, mitteleuropäisch und überaus wohlhabend.
Hier, in unserem Dorf, litt die slawonische Lehrerin. Aber wahrscheinlich krempelte sie Sovinjak mehr um als seinerzeit die Partisanen. Zumindest die Schulkinder sollten etwas zu trinken haben in einem Dorf, wo das Trinkwasser aus Gräben oder Wasserlachen kam, Regenwasser, das mit Essig versetzt wurde, um die schlimmsten Verunreinigungen abzutöten. Alles Trinkbare war selten und kostbar, die Milch, die man den Kindern gab, wurde gesalzen, damit sie sich nicht an ihre angenehme Süße gewöhnten. Milch war Medizin oder etwas für feierliche Anlässe. Wein trank man im Dorf ausschließlich mit Regenwasser gemischt, das seinerseits bereits mit Essig versetzt worden war.
Sich mit diesem kostbaren Wasser zu waschen wäre undenkbar gewesen: Schmutz und Ungeziefer schrubbte man sich mit Lappen oder dem, was die Natur in Form von Gras oder Laub hergab, vom Leib.
Das Wasser in Sovinjak kommt aus dem Erdinnern oder von oben. Das von oben hat an Bedeutung verloren, seit Wasserleitungen bis zum Dorf herauf verlegt wurden, außer als Gesprächsstoff. Von oben bekommen wir entweder zu wenig oder zu viel. Doch selbst wenn wir zu viel Wasser bekommen, ist es zu wenig; es hat sich halt nur alles auf einmal ergossen, eine Grausamkeit oder Laune der Natur, die, wenn man nachdenkt, eigentlich nur unterstreicht, wovon es halt zu wenig gibt. Od Trsta dva prsta, od Motovuna dva vagona. Das stimmt. Regen aus Triest im Westen ergibt nie mehr als zwei Fingerbreit, Regen aus Motovun (Montona auf Italienisch) im Süden dagegen zwei volle Wagenladungen. Diese Feststellung stützt sich auf eine sehr lange und gründliche Beobachtung.
Die beiden Wagen aus Motovun wecken außerdem Assoziationen an die Eisenbahn. Und tatsächlich, der Regen aus Motovun findet sich in Sovinjak wie nach einem Zugfahrplan ein: Wir sehen ihn schon früh unter uns im Mirnatal und können auf die Minute genau sagen, wann er bei uns eintreffen wird.
Hochgelegene Siedlungen wie Sovinjak symbolisieren für gewöhnlich Macht oder Isolation. Oder sie symbolisieren sowohl Macht als auch Isolation, die dann zum Hochmut führt. Die Lebensbedingungen so hoch oben sind jedoch karg; wohin das Auge blickt, tritt nackter Fels zutage, die Erde findet nur schwer Halt, mit Platzregen einhergehende Stürme spülen sie die Abhänge hinunter.
Oft schlägt der Blitz ein, und was an Erde dann noch übrig ist, wird von ihrem Besitzer eifersüchtig bewacht. Die Menschen auf dem Gipfel eines solchen Berges werden von einer besonderen Art Hochmut beherrscht, einer fatalistischen, erbarmungslosen Rücksichtslosigkeit gleich; man glaubt genug Steine gegessen zu haben und hält es nun für an der Zeit, dass andere sich davon zu ernähren versuchen, um die missliche Lage hier oben besser verstehen zu können. Bitte sehr!
Die Menschen auf so einer Bergkuppe sind oft einsam und mit sich selbst beschäftigt, wobei sich das eine aus dem anderen ergibt. Sie blicken über die Täler unter sich und überlegen vielleicht einen Augenblick lang, wie es sich da unten wohl lebt, um sich gleich im nächsten davon zu überzeugen, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollen. Mit all den zerkauten Steinen im Magen glauben sie es verdient zu haben, sozusagen von hoch zu Ross auf alle anderen herabzuschauen. Lediglich voreinander können die Dorfbewohner hin und wieder eine unbeholfene Demut an den Tag legen, dann allerdings aus Schwäche, nicht aus Überzeugung des Herzens.
Im Dorf wird einzig und allein beklagt, dass man von oben das Elend der anderen...