Raymond Borens
Er – war nicht Raoul. Sie – war nicht Marguerite
»Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: Da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.«
Zhuang Zi (Dschuang Dsi): »Das wahre Buch vom südlichen Blütenland«, Berliner Ausgabe 2013. Edition Holzinger.
Angeregt wurde ich zu diesen Zeilen von dem wiederholten, teils verzweifelten, teils ungläubig staunenden Ausruf eines jungen Mannes: Sie ist es nicht! Dieser Mann liebt eine Frau, mit der er dreimal den Versuch unternommen hat zusammenzuleben, dreimal war er glücklich mit ihr, dreimal »musste« er sich von ihr trennen mit einem: Sie ist es nicht. Und dem sich anschließenden: Wer bin ich? Derjenige, der diese Frau liebt, oder derjenige, der sie immer wieder verlässt und Affären mit anderen hat? Bin ich der Schmetterling, oder bin ich Dschuang Dschou?
Ich werde später auf den Fall zurückkommen, der in seiner Ausprägung ungewöhnlich ist, gleichzeitig aber auch eine für den Analytiker häufige Beobachtung bestätigt: Die Partnerin (oder der Partner), die geliebt und begehrt wird, ist plötzlich oder allmählich nicht mehr die Richtige, die Eigentliche. Es ist eine geradezu alltägliche Geschichte – außer für den/die Betroffenen.
»Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.«
(H. Heine. Ein Jüngling liebt ein Mädchen, im »Buch der Lieder«)
Nicht nur der Analytiker, auch die Literatur lebt von dieser oder ähnlichen Geschichten.
Es findet sich eine wunderbare Gestaltung der Geschichte bei Alphonse Allais. Alphonse Allais ist ein französischer Schriftsteller und Humorist (1854–1905), Verfasser von phantastischen Novellen; sein Name taucht mehrmals bei Lacan auf, der besonders auf eine Geschichte Bezug nimmt, auf »Un drame bien parisien«, (»Ein sehr pariserisches Drama«; in: À se tordre, Paris 2002: Garnier Flammarion). Ich werde jetzt etwas Unmögliches versuchen, nämlich das kunstvoll komponierte, in sieben Kapitel unterteilte und mit vielen Zitaten angereicherte Werk zusammenfassend wiederzugeben.
Raoul und Marguerite sind seit fünf Monaten verheiratet. Raoul hatte sich geschworen, Marguerite würde niemals jemand anderem gehören als ihm. Sie könnten glücklich sein, wären da nicht immer ihre ewigen Missverständnisse. Es kam ständig zu Streitereien und leidenschaftlichen Versöhnungen. Eines Tages flattern zwei anonyme Denunziationen ins Haus. An Raoul: Wenn Sie Ihre Frau mal in bester Laune sehen wollen, gehen Sie nächsten Donnerstag zum Ball der Unzusammenhängenden im Moulin Rouge. Sie wird dort maskiert sein, verkleidet als kongolesische Piroge. An Marguerite: Wenn Sie Ihren Mann mal in bester Laune sehen wollen, gehen Sie nächsten Donnerstag zum Ball der Unzusammenhängenden im Moulin Rouge. Er wird dort maskiert sein, verkleidet als Tempelritter. Beide gehen hin. Zu fortgeschrittener Stunde kommt auf dem rauschenden Ball der Ritter auf die Piroge zu und lädt sie zum Essen ein. In einem Séparée nimmt er seine Maske ab, reißt ihr die Larve vom Gesicht, und beide stoßen gleichzeitig einen Schrei des Entsetzens aus. Sie erkennen sich nicht, weder er sie noch sie ihn.
Er – war nicht Raoul.
Sie – war nicht Marguerite.
Sie entschuldigen sich gegenseitig und schließen Bekanntschaft bei einem kleinen Mahl, mehr sage ich Ihnen nicht.
So weit dieser literarische Text, ein Text von einem der Schriftsteller, von denen Freud meinte, sie wüssten es immer schon, nämlich das, was wir Analytiker in mühsamer, hinkender Art und Weise erarbeiten müssen. Begegnen wir nun in unserer Tätigkeit Situationen, welche uns an literarische Texte erinnern oder umgekehrt? Die französische Redewendung »la réalité dépasse la fiction« (die Realität übersteigt die Fiktion) lässt sich zwar nicht abweisen, wohl aber muss die Frage aufgeworfen werden, was nun was beeinflusst oder gar determiniert: die Fiktion die Realität oder die Realität die Fiktion? Anders gesagt, welches ist das Modell: Emma Bovary für Provinzmädchen des 19. Jahrhunderts oder Letztere für Flauberts literarische Figur? Vielschichtiger wird die Frage noch dadurch, dass Emma Bovary nicht zuletzt erst durch Lektüre ihre ideal-romantischen Vorstellungen entwickelt. Ist Werther als Modell für romantische junge Männer zu sehen oder diese (zumindest einer von ihnen: Karl Wilhelm Jerusalem) für Goethes Figur?
Ich kann hier den verwickelten, letztlich wohl unauflösbaren Beziehungen und gegenseitigen Beeinflussungen von Realität und Fiktion nicht nachgehen, aber darauf hinweisen, dass immer wieder Situationen der Realität und solche der Fiktion spiegelbildlich aufeinander verweisen.
Vor einiger Zeit stellte mir ein Kollege einen jungen Mann vor, der wegen unerklärlicher Schwächeanfälle in die Analyse gekommen war. Er ist ein großer Sportler, spielt in seiner Disziplin in der obersten Liga, fährt leidenschaftlich Ski und läuft regelmäßig Marathon. Ohne ersichtlichen Grund und ohne dass gründliche medizinische Abklärungen einen Befund ergeben hätten, konnte er plötzlich keine Treppen mehr steigen, geriet bei der geringsten Anstrengung außer Atem, so dass er nicht nur seine sportlichen Aktivitäten sistieren, sondern auch sein brillantes Jurastudium unterbrechen musste.
Der gutaussehende, sportlich-durchtrainierte junge Mann stammt aus einer sehr wohlhabenden Familie, hat eine jüngere Schwester. Die Mutter ist eine sehr erfolgreiche Anwältin, der Vater ein ebensolcher Unternehmer.
Die Mutter soll eine noch heute sehr schöne Frau sein, groß, schlank, blond, und zu Hause das Sagen haben. Der Vater sei trotz großen geschäftlichen Erfolgs ein ängstlicher, unsicherer Mensch, lebe zurückgezogen und spreche kaum, sei der Mutter in allen Belangen unterlegen.
Er kennt seit einigen Jahren eine junge Frau, die aus einfacheren Verhältnissen stammt, deshalb auch der Mutter, die einen starken Sozialdünkel hat, den sie keineswegs versteckt, nicht genehm ist. Diese Freundin ist eine sehr intelligente Studentin, die aber seinem an der Mutter orientierten Idealtyp von Frau nicht entspricht, weil sie dunkelhaarig und zudem etwas pummelig sei. Er liebt diese Frau sehr, fühlt sich bei ihr wohl, geborgen und lebt mit ihr eine befriedigende Sexualität, sagt er, trennt sich aber immer wieder von ihr, weil er den quälenden Gedanken nicht loswird: Sie ist es nicht. Er geht dann jeweils schnell wechselnde Frauenbeziehungen ein, mit Frauen seines Idealtyps, die auf ihn fliegen und auf die er fliegt. Von diesen Frauen trennt er sich jedoch schnell, oder aber sie lassen ihn fallen, nicht zuletzt weil er mit diesen Frauen impotent ist.
Die Eroberung vieler Frauen gefällt der Mutter, die ihm gestanden hat, in ihrer Jugend viele Affären gehabt zu haben, dann einen Mann kennenlernte, der ihre große Liebe war, von diesem verlassen wurde und daraufhin den Vater, den sie nie liebte, heiratete. Sie lebt heute noch auf zwei jährliche berufliche Termine hin, bei denen sie ihre große Liebe trifft und sich bei einem gesellschaftlichen Anlass für ein paar Stunden in ihrer Nähe aufhalten kann.
Die Gespräche mit dem motivierten, intelligenten jungen Mann verlaufen erfreulich, fast zu erfreulich. Nach einigen Monaten, in denen besonders seine Schwächeanfälle als ein Nein an die elterlichen Ansprüche und seine Impotenz als ein Symptom einer zu großen Nähe zu der ödipalen Mutter gesehen werden konnten, verschwanden seine Beschwerden, er konnte Studium und sportliche Aktivitäten wiederaufnehmen und näherte sich erneut seiner Freundin, die bereit war, es noch einmal mit ihm zu versuchen. Er beendete zu früh die analytische Arbeit und meinte, jetzt allein zurechtzukommen, und sprach von Plänen, zu heiraten und eine Familie zu gründen.
Nach einigen Monaten kommt er wieder, deutlich beunruhigt, verunsichert, ratlos. Er hat sich von seiner Freundin, wie er meint, nunmehr definitiv getrennt, trotz einer sehr schönen Zeit des harmonischen Zusammenseins, in der er sich geborgen und ihr sehr nahe fühlte. Einzig der bohrende Gedanke, sie könne nicht die Richtige sein, habe ihn wieder zunehmend mit großer Hartnäckigkeit geplagt. Sie habe eben doch nicht die rechte Figur, entspreche nicht seiner Idealvorstellung einer Frau, und er habe sich jetzt trennen müssen, weil er es nicht verantworten könne, mit ihr Kinder zu zeugen und zu riskieren, sie dann später zu verlassen. Jegliche Hoffnung, die quälenden Gedanken loszuwerden, habe er aufgegeben. Seit er sich von seiner Freundin getrennt habe, sei er allein geblieben und wolle auch keine neuen Beziehungen aufnehmen.
Was teilt er uns mit? Ce n’est pas elle, sie ist es nicht. Aber auch: Ich bin es nicht, wenn ich mit ihr bin. Ich bin es aber auch nicht, wenn ich mit anderen Frauen zusammen bin. Das Begehren ist das Begehren des Anderen, und das zeigt sich hier in doppelter Weise. Sein ideales Objekt ist und bleibt die Mutter, groß,...