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E-Book

Nikomachische Ethik

(Mit Begleittexten vom Philosophie Magazin)

AutorAristoteles
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783104036885
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Edition Philosophie Magazin: Eine exklusive Auswahl zentraler philosophischer Texte durch das »Philosophie Magazin«. Mit dem ungekürzten Originaltext sowie - einer sachkundigen Einführung in Werk und Vita - einer Zeitleiste zu Leben und historischem Kontext - Erläuterungen der Grundbegriffe Aristoteles - mit Beiträgen von Julian Nida-Rümelin sowie Brigitte Falkenburg zur bleibenden Bedeutung des Werks Die ?Nikomachische Ethik? ist die bedeutendste der drei ethischen Schriften Aristoteles' und gilt als sein ethisches Hauptwerk. Ziel ist es, einen Leitfaden zu geben, um zu erlernen, wie man ein guter Mensch wird und wie man ein glückliches Leben führt.

Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.) ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten griechischen Philosophen der Geschichte. Als Schüler Platons und Lehrer Alexander des Großen verfasste er zahlreiche Werke, die richtungsweisend in der Philosophie und den Naturwissenschaften sind. Er befasste sich grundlegend mit den Disziplinen Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, Ethik sowie Politik, zudem begründete und beeinflusste er andere maßgeblich.

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Leseprobe

I. Teil Die sittliche Anforderung


I. Kennzeichen der sittlichen Beschaffenheit und ihrer Betätigung


1. Die Trefflichkeit eines Menschen


Die Eudämonie ist die innerer Trefflichkeit entsprechende geistige Wirksamkeit. Wir haben also zunächst diese innere Trefflichkeit zu betrachten; dadurch werden wir dann auch wohl das Wesen der Eudämonie besser verstehen lernen. Auch der Staatsmann, der es im wahren Sinne ist, hat sich von je um sie vielleicht mehr als um alles andere bekümmert; denn seine Absicht ist gerade die, in den Staatsangehörigen Tüchtigkeit und Gehorsam gegen die Gesetze groß zu ziehen. Ein Muster dafür haben wir an den Gesetzgebern der Kreter und Lakedämonier und an denen, die etwa sonst das gleiche Ziel verfolgt haben. Wenn aber dieser Gesichtspunkt dem Gebiete der Wissenschaft vom Staate angehört, so entspricht offenbar die Erörterung, zu der wir nun übergehen, dem, was wir von Anfang an als unser Vorhaben bezeichnet haben.

Es ist klar, daß was wir zu betrachten haben, die innere Trefflichkeit als die eines Menschen ist; haben wir doch auch das Gute als das für den Menschen Gute und die Eudämonie als die dem Menschen zukommende zu ermitteln gesucht. Unter der Trefflichkeit eines Menschen aber verstehen wir nicht eine Beschaffenheit des Leibes, sondern des Geistes, und so fassen wir auch die Eudämonie als eine geistige Betätigung. Ist dem aber so, so muß der Staatsmann offenbar bis zu einem gewissen Grade eine Kenntnis von der Natur des Geistes besitzen, gerade wie der Arzt, der die Augen kurieren will, auch den ganzen Leib kennen muß; ja, das Bedürfnis solchen Wissens ist bei jenem in demselben Verhältnis noch dringlicher, als die Staatskunst an innerem Wert und Bedeutung die Heilkunst überragt. Wissenschaftlich gebildete Ärzte geben sich in der Tat um die Kenntnis des Leibes die erdenklichste Mühe. So muß denn auch der Staatsmann das Wesen des Geistes erwägen, und zwar muß er solche Erwägung anstellen um der ihm gestellten Aufgabe willen und soweit als es für das was er anstrebt, hinreichend ist. Denn in die Einzelheiten noch genauer einzugehen, würde doch wohl größere Mühe in Anspruch nehmen als die Aufgabe erfordert. Darüber findet man auch in der geläufigen Literatur mancherlei ausreichend behandelt, und man wird gut tun, davon Gebrauch zu machen. Da heißt es unter anderm, daß in der Seele der eine Teil ohne Denkvermögen, der andere mit Denkvermögen ausgestattet ist. Die Frage aber, ob diese beiden von einander getrennt sind wie die leiblichen Organe und alles sonstige was nach Teilen gesondert ist, oder ob es nur der Auffassung nach zweierlei, seiner Natur nach aber ebenso untrennbar beisammen ist wie am Kreisbogen das Konvexe und das Konkave, das braucht uns bei unserem jetzigen Vorhaben nicht weiter zu beschäftigen.

Der nicht mit Denkvermögen ausgestattete Seelenteil gleicht teils dem, was uns mit den Pflanzen gemein ist / dahin gehört das, was der Ernährung und dem Wachstum zugrunde liegt; denn ein solches seelisches Vermögen muß man doch wohl allen Wesen zuschreiben, die Nahrung aufnehmen, auch dem Embryo, und ganz ebenso den ausgewachsenen Geschöpfen; jedenfalls hat solche Annahme mehr für sich, als daß es ein anderes sein sollte. Die angemessene Beschaffenheit dieses Seelenteils ist, wie sich daraus ergibt, dem Menschen mit anderen Wesen gemeinsam und nicht spezifisch menschlich. Dieser Seelenteil und dieses Vermögen übt augenscheinlich seine Wirksamkeit am meisten im Zustande des Schlafes; wer aber gut oder schlecht ist, das zeigt sich im Schlaf am wenigsten. Daher der Ausspruch, daß der Beglückte vom Elenden sich während der einen Hälfte des Lebens gar nicht unterscheidet; ein ganz natürliches Ergebnis. Denn der Schlaf ist ein Zustand der Untätigkeit der Seele gerade in der Beziehung, wonach sie tüchtig oder untüchtig genannt wird, allerdings mit der Einschränkung, daß in geringen Spuren immerhin manche Regungen bis an die Seele gelangen, so daß infolgedessen auch die Traumvorstellungen edelgesinnter Menschen lauterer sind als die beliebiger Persönlichkeiten. Doch genug davon. Von der vegetativen Seite dürfen wir absehen, da sie ihrer Natur nach an dem, was an der wertvollen Beschaffenheit das spezifisch Menschliche ausmacht, nicht beteiligt ist.

Nun gibt es aber noch eine andere Seite der Seele, die den Eindruck macht ohne Denkvermögen zu sein, während sie zu demselben doch irgendwie in Beziehung steht. An einem enthaltsamen und einem unenthaltsamen Menschen ist es das Denkvermögen und der damit begabte Seelenteil, was wir schätzen: denn dieser liefert den Antrieb im rechten Sinne und in der Richtung auf das Edelste. Dann aber ist offenbar bei jenen beiden in ihrer Natur außerdem Denkvermögen noch etwas anderes wirksam, was diesem Vermögen widerstreitet und sich ihm entgegenstellt. Denn wie gelähmte leibliche Glieder, wenn die Absicht ist, sie nach rechts zu bewegen, sich ungeschickterweise gerade entgegengesetzt nach links wenden, so geht es auch in der Seele zu: die Antriebe gehen bei den Unenthaltsamen in die dem Gedanken entgegengesetzte Richtung. Nur nehmen wir beim Leibe die Ablenkung äußerlich wahr, bei der Seele nicht. So wird denn auch wohl in der Seele nicht minder als dort außer dem Denkvermögen noch etwas anderes anzunehmen sein, was sich ihm entgegenstellt und ihm widerstrebt. In welchem Sinne dies Element ein anderes ist, das geht uns hier nichts an. Doch steht offenbar auch dieses, wie oben bemerkt, zum Denkvermögen irgendwie in Beziehung. Beim Enthaltsamen wenigstens gehorcht es der Herrschaft der Vernunft, und vielleicht ist es bei einem besonnenen und einem willensstarken Menschen derselben noch willfähriger. Denn hier steht es mit dem Denkvermögen in vollem Einklang.

Offenbar ist nun auch dieses Nicht-denkende in der Seele ein gedoppeltes. Denn das vegetative Element hat mit dem Denkvermögen keinerlei Gemeinschaft; dagegen steht das Begehrungs- und überhaupt das Willensvermögen zu demselben insofern in Beziehung, als es ihm unterwürfig und gehorsam zu sein vermag. So sagen wir ja auch, daß man zu seinem Vater und zu befreundeten Personen ein gedankenmäßiges »rationelles« Verhältnis innehält, das Wort natürlich nicht in dem Sinne genommen, wie es in der Mathematik gebraucht wird. Daß der nicht-denkende Seelenteil irgendwie von dem Denkvermögen sich überreden läßt, das zeigt schon der Gebrauch, den man von der Ermahnung wie von allen Arten des Tadels und der Anfeuerung macht. Gilt aber die Aussage, daß auch dieser Seelenteil ein Denkvermögen hat, dann ergibt sich, daß auch der denkende Seelenteil ein gedoppelter ist, denkend teils eigentlich und an und für sich, teils in dem Sinne wie ein Vermögen seinem Vater zu gehorchen ein denkendes Vermögen ist.

Darin liegt nun auch der Einteilungsgrund für die Beschaffenheiten eines Menschen, die seine Trefflichkeit ausmachen. Wir weisen sie teils dem Intellekt, teils dem Willen zu, jene als dianoëtische, diese als ethische: Wissenschaft, Verstand und Einsicht als dianoëtische, Edelmut und Besonnenheit als ethische Beschaffenheiten. Sprechen wir vom ethischen Charakter, so sagen wir nicht, daß jemand wissenschaftlich gebildet oder verständig, sondern etwa, daß er sanftmütig oder besonnen ist. Aber unsere Hochachtung gewähren wir auch dem wissenschaftlich Gebildeten auf Grund dieser seiner geistigen Verfassung; diejenigen Arten geistiger Verfassung aber, die der Hochachtung würdig sind, bezeichnen wir als Trefflichkeiten und Vorzüge.

2. Gewöhnung und Erziehung


Von den beiden Arten der inneren Trefflichkeit des Menschen, der intellektuellen und der ethischen, verdankt jene, die intellektuelle, Ursprung und Wachstum am meisten der Belehrung; sie bedarf deshalb der Erfahrung und der Zeit. Die rechte ethische Beschaffenheit dagegen wird durch Gewöhnung erlangt und hat davon auch ihren Namen (Ethos mit langem e) erhalten, der sich von dem Ausdruck für Gewöhnung (Ethos mit kurzem e) nur ganz leise unterscheidet.

Es ergibt sich daraus auch dies, daß keine der ethischen Eigenschaften uns durch die Naturanlage zuteil wird. Denn kein Naturwesen wird durch Gewöhnung umgebildet. Ein Stein hat von Natur die Richtung nach unten; keine Gewöhnung könnte je bewirken, daß er ein Streben nach oben annähme, und wenn ihn auch einer mit der Absicht ihn umzugewöhnen unzähligemal in die Höhe würfe. Ebensowenig läßt sich das Feuer zur Richtung nach unten umgewöhnen, und das gleiche gilt von allem übrigen; von den Erzeugnissen der Natur läßt sich kein einziges umgewöhnen. Also werden uns die sittlichen Beschaffenheiten ebensowenig durch die Natur wie wider die Natur zuteil; wir haben von Natur nur die Fähigkeit sie zu gewinnen, und durch Gewöhnung kommen sie in uns zur Entwicklung.

Alles was in uns als natürliche Mitgabe ist, besitzen wir zuerst als bloße Anlage und bringen es erst nachher zur Verwirklichung. Man sieht das schon an der sinnlichen Wahrnehmung. Das Vermögen der Wahrnehmung haben wir nicht etwa durch häufiges Sehen oder Hören erworben, sondern umgekehrt; weil wir das Wahrnehmungsvermögen schon hatten, haben wir von ihm Gebrauch gemacht; wir haben es nicht erst durch den Gebrauch erlangt. Unsere inneren Eigenschaften dagegen gewinnen wir auf Grund vorhergehender Tätigkeiten. Es ist damit, wie mit den übrigen technischen Fertigkeiten auch. Was wir erst lernen müssen, um es auszuüben, das erlernen wir, indem wir es ausüben. So wird man ein Baumeister dadurch daß man baut und ein Zitherspieler dadurch daß man die Zither spielt. So nun wird man auch gerecht...

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