Alles essbar!
Die Nahrungsproduktion ist eine der Grundlagen jeder Gesellschaft. Weltweit gibt es eine Fülle von Initiativen für eine nachhaltige Form der Lebensmittelproduktion. Mit der Konzentration der Menschen in den Städten verstärkt sich weltweit das Bedürfnis, Elemente des Gartenbaus in die Stadt zu bringen. Diese Entwicklung findet ihren Ausdruck in dem schon länger bestehenden Konzept der Essbaren Landschaft und neuerdings der „Essbaren Stadt“. Dies hat mich zur Überschrift Alles essbar! angeregt. In London gibt es „Edible Busstops“ und so spricht nichts dagegen, Kindergärten, Schulhöfe und andere Bereiche des öffentlichen Lebens essbar zu gestalten.
Dahinter sehe ich das Bedürfnis der Menschen nach Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit und danach, das eigne Lebensumfeld zu formen.
Essbare Landschaft
Die Essbare Landschaft ist vor allem ein Bild, das unsere innere Vorstellung anspricht und das auch anderen leicht zu vermitteln ist. In meinem Verständnis von Essbarer Landschaft geht es um eine Verknüpfung der Nutzung von Wildpflanzen und eingebrachten Kulturpflanzen. Es geht darum, unser unmittelbares Umfeld für den Anbau von Lebensmitteln intensiv zu nutzen.
Die Essbare Landschaft ist ein Kontrapunkt zur zunehmenden gleichförmigen Gestaltung unseres Lebensumfelds mit Rasenflächen, Sträuchern oder Bäumen, die wegen ihres Zierwertes angebaut werden. Kritisch betrachte ich auch die Versiegelung ertragsfähiger Flächen oder, wie neuerdings in Mode, die Anlage von Steingärten mit nur wenigen Gräsern. Die Bewohner argumentieren mit der vereinfachten Pflege und geringem Arbeitsaufwand. Diese Art von Gestaltung wird sozial und kulturell positiv honoriert. Im Siedlungsbereich entsteht dadurch ein unbewusster sozialer Anpassungsdruck zur ähnlichen Gestaltung.
Waldgarten und Streuobstwiese dienen bei der Gestaltung als Vorbild.
Mit dem Motto „Don’t mow your lawn, eat it!“ wird die Gegenbewegung zur monotonen Gestaltung gut beschrieben. Statt Rasenmähen gilt es, die vorhandenen Wildpflanzen zu pflegen und zu ernten und die vorhandene Vielfalt durch neue Wildpflanzen oder Kultursorten zu ergänzen. Das vorliegende Buch liefert dazu einen Beitrag.
Essbare Gemeinde – Essbare Stadt
Die Begriffe Essbare Gemeinde und Essbare Stadt sehe ich als Überbegriff für einen Wandel in Bezug auf das Bild von Gemeinden und Städten. Sie sind gleichsam wie Schirme, unter denen sich unterschiedliche Initiativen wie Urban Gardening, Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten oder Obst in der Stadt wiederfinden. Für alle diese Initiativen bietet dieses Buch auch eine Darstellung möglicher Pflanzungen von Obstgehölzen.
Auf der Suche nach Himbeeren im Essbaren Kindergarten (Foto: Johannes Hloch)
Warum die Essbare Stadt ein globaler Erfolg ist
Die Essbare Stadt vereint aus meiner Sicht die zwei Grundbedürfnisse der Menschen, nach Nahrung und Sicherheit.
Immer wieder werde ich gefragt, ob denn tatsächlich „Alles“ im Alchemistenpark gefahrlos essbar ist. Essen ist eine Vertrauenssache. Ich muss mich darauf verlassen können, dass die mir angebotene Frucht genießbar ist und mir nicht schadet. Orte, an denen wir gut gegessen haben, merken wir uns, denn es lohnt dort wieder hinzugehen. Genauso geht es uns mit Orten, an denen wir schlechte Nahrung fanden. Die werden wir in Zukunft meiden. Diese Grundorientierung begleitet die Menschheit seit Anbeginn. Die Stadt selbst steht für das Bedürfnis nach einem sicheren Ort, nach einer Heimstatt. Auch hier spielt Vertrauen eine zentrale Rolle.
Essbare Städte gleichen, je nachdem wie viele und welche Flächen dafür zur Verfügung stehen, eher Gärten und Parks. Die Farben- und Formenvielfalt der vielen Obst- und Gemüsearten vermitteln Sinnlichkeit und fordern dazu auf, mit diesen Flächen sorgsam umzugehen. Dieser Effekt breitet sich auch auf das Umfeld aus. Positive ökologische Entwicklungen ziehen so positive soziale Effekte nach sich. Der umgekehrte Effekt zeigt sich allerdings ebenso. Ein verwahrlostes Umfeld und vermüllte Gärten wirken sich auch im sozialen Bereich und auf das Sicherheitsgefühl aus. Anonyme Siedlungen sind für die Entstehung gesellschaftlicher Probleme anfälliger als Lebensräume, die durch ihre Bepflanzung Identität stiften.
Japanischer Zierapfel ‚Mandarin‘ (Foto: Johannes Hloch)
Die Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum zu betätigen, etwas zu gestalten oder zu nutzen, fördert den sozialen Austausch. Obstbäume sind dafür ein ideales Mittel. Vom Apfelbaum möchten viele ernten und müssen sich dabei miteinander arrangieren. Einer von hunderten anonymen Ziersträuchern hingegen berührt uns nicht, wird deshalb oft auch nur lieblos betrachtet und notdürftig gepflegt.
Kirchberg am Wagram -die 1. Essbare Gemeinde Niederösterreichs – ein Modell
Meine Erfahrungen beziehen sich auf die Gemeinde, in der ich wohne. Begonnen hat alles mit der essbaren Gestaltung des Kindergartens. Die Minikiwis ranken sich im Zaun, die Kinder spielen unter dem Hängemaulbeerbaum, verstecken oder klettern auf die kleinen Apfelbäume. Die Nachfrage nach den Felsenbirnen und Himbeeren ist stark gestiegen. Im Herbst kocht man zusammen Quittenmarmelade ein und verkostet die ersten Indianerbananen. Mit der Anlage des Alchemistenparks – einer öffentlich zugänglichen Obstsammlung in unmittelbarer Nähe zum Kindergarten – entstand ein weiteres Zentrum für Vielfalt. Engagierte Menschen der vis-a-vis gelegenen Volksschule organisierten dann auch die essbare Bepflanzung des Schulhofs. Der letzte Schritt hin zu einer Essbaren Gemeinde war die Entscheidung, in den neuen Siedlungsbereichen auf öffentlichem Grund nicht mehr Zierpflanzen zu setzen, sondern Obst-und Nussgehölze. In den bestehenden Siedlungsbereichen findet ein langsamer Austausch nach diesem Prinzip statt.
Essbarer Schulhof in Kirchberg am Wagram. Plan DI Georg Schuhmacher, Pflanzenauswahl Mag. (FH) Siegfried Tatschl
Der Gärtner bei der Pflanzung (Foto: Sandra Eichinger)
Die Entscheidung des Gemeinderats im Jahr 2013 für die Selbstbenennung als erste „Essbare Gemeinde Niederösterreichs“ zu stimmen, war der Schlusspunkt einer zwölf Jahre dauernden Entwicklung. Wie es weitergeht und man mit Bedenken („Da kommen dann Fremde in meine Gasse ernten. Da will ich lieber einen Ahorn gepflanzt haben.“) umgeht, wird die Zukunft weisen.
Kastenbeete im Alchemistenpark (Foto: Johannes Hloch)
Der Schlüssel für den Erfolg solcher Initiativen ist die gelungene Zusammenarbeit von engagierten Einzelpersonen, Gruppen wie einem Dorferneuerungsverein und den politisch Verantwortlichen. In jedem der drei Bereiche braucht es zumindest eine Person, die sich für das Anliegen engagiert, bereit ist mit allen zu reden und viel Geduld bei Rückschlägen aufbringt. Bei derartigen Entwicklungen können Ängste und Neid entstehen – auch mit Gegenspielern muss man rechnen. Meine Erfahrungen zeigen, dass man einen langen Atem für derartige Projekte braucht. Die praktischen Beteiligung möglichst vieler Menschen sowie die Anerkennung und Wertschätzung ihres Beitrages führen schlussendlich aber zum Ziel.
Essbarer Kindergarten – Essbare Schule – Essbare Stadt: Worauf es ankommt
Zwei Momente entscheiden über den Erfolg der Projekte: erstens die oben beschriebene Einbeziehung entscheidender politisch Verantwortlicher und der Betroffenen in der Planungsphase und zweitens die Sicherung der nachhaltigen Nutzung der Pflanzen. Fragen wie „Wer räumt das Fallobst weg?“ und „Wer soll das Ganze pflegen, ich habe keine Zeit dafür“ müssen ernst genommen werden. Überall, wo engagierte und verlässliche Gruppen aktiv sind, finden sich Lösungen. Aus meiner Sicht spielt die kommunale Verwaltung eine entscheidende Rolle. Sie soll hier für Initiativen unterstützend tätig sein, bei Konflikten moderieren und die Verantwortung übernehmen.
Foto: Johannes Hloch
Wenn sich Menschen engagieren können, schafft dies eine Verbundenheit mit dem Projekt. Die Volksschüler schauen noch Jahre später, ob es „ihren“ Bäumen gut geht.
Für die Entfernung des Fallobsts, die Pflege der Pflanzen, die laufende Information von Anrainern oder das Aufnehmen von Anregungen und Beschwerden habe ich das Modell der „Fruit-Streetworker“ entwickelt. Im sozialen Bereich hat es sich als wirksam gezeigt, dass speziell geschulte SozialarbeiterInnen direkt dorthin gehen, wo es gesellschaftliche Konflikte gibt, um mit den Menschen vor Ort zu reden und Konflikte kanalisieren zu können. Bei der Kommune angestellte oder von ihr bezahlte „Fruit-Streetworker“ stelle ich mir ganz praktisch so vor: Sie entfernen das Fallobst, geben Rezepte für die Obstverwertung weiter, heben ein kleines Kind hoch, damit es an die Beeren kommt, oder holen einer betagten Person einen Apfel vom Baum. Viele Ängste und Befürchtungen lassen sich praktisch lösen, wenn man auf die Menschen zugeht und mit ihnen spricht.
Der Alchemistenpark in Kirchberg am Wagram –...