2. Kapitel
GROSS
BRITANNIEN
Umlaufende Bücherregale und hohe, stuckverzierte Decken: Die denkmalgeschützte Buchhandlung Waterstones Birmingham New Street mutet wie ein herrschaftlicher Palast an.
Die Fähre, die mich nach Harwich befördert, ist mindestens zweihundert Meter lang, weniger groß ist die Schlafkabine, in der es mir aber an nichts – außer Handyempfang – fehlt. Die Motoren laufen sich bereits warm, und kurz nachdem ich meine Kabine betrete, legt das Schiff auch schon ab.
Am frühen Morgen, nach kurzem Schlaf, gilt mein erster Griff der Fernbedienung des Kabinenfernsehers, wohl als Ersatz fürs Handy, das keinen Empfang hat: Sender 1 zeigt eine interaktive Europakarte, auf der ein GPS-Signal markiert, wo auf hoher See wir uns gerade befinden – jetzt sind wir noch eine gute Strecke von der Küste entfernt. Sender 2 bietet ein Kamera-Livebild vom Deck des Schiffes, das kurz vor Sonnenaufgang noch mit einem Schwarzbild gleichzusetzen ist. Sender 3 scheint sich an alle besorgten Tierhalter zu richten und zeigt im automatischen Perspektivwechsel ein paar Hunde, die in Transportboxen irgendwo unter Deck darauf warten, dass wir anlegen. Für einen Moment befürchte ich, dass Sender 4 die eigene Kabine zeigen könnte – als sich hier jedoch normale Fernsehsender anschließen, stehe ich erleichtert auf und gehe ins Bad. Frisch geduscht und rasiert, packe ich anschließend meine Sachen und tausche die Reiselektüre aus: Als Nächstes steht London auf dem Programm!
Doch statt der geplanten Zugfahrt – die Bahn hat wegen eines Stromausfalls den Verkehr vorübergehend eingestellt – geselle ich mich zu einer kleinen Reisegruppe, die an einem angrenzenden Kiesplatz neben den Gleisen im Regen steht und auf einen Bus wartet. Kurz darauf biegt das von allen ersehnte Gefährt auch schon um die Ecke.
»Wann werden wir in London sein?«, fragt die Dame vor mir den Fahrer, dessen Gesichtsausdruck bestens zum englischen Wetter passt.
»Vielleicht in zwei Stunden. Vielleicht in fünf. Dumme Frage. Das regelt der Verkehr«, antwortet der Mann hinter dem Steuer, steckt sich eine Zigarette an und winkt alle weiteren Passagiere durch. Auch ich nehme in einer der Sitzreihen Platz, obwohl ich bezweifle, dass mein Interrail-Ticket für diese Fahrt Gültigkeit besitzt.
Um kurz nach zehn befinden wir uns bereits in London.
An der Liverpool Street steige ich aus, hebe ein paar Britische Pfund ab und laufe wie zum Eingewöhnen erst mal durch die Gegend, genauer gesagt durchs Künstlerviertel im Norden der Stadt. Sowohl die Straßenkunst als auch die -märkte gefallen mir, wären da nur nicht immer wieder diese kurzen heftigen Regenschauer. Die Idee, ein Fahrrad zu leihen, begrabe ich sofort wieder. Zurück am Bahnhof Victoria Station kaufe ich ein Tagesticket und nehme die Underground zum Piccadilly Circus.
Glück für mich und mein Projekt: In London gibt es gefühlt keine Sonntage, und so sind die meisten Läden geöffnet. Auch diese Filiale der größten Buchhandelskette Großbritanniens:
WATERSTONES PICCADILLY
Auf den letzten Metern dorthin fällt mir plötzlich wieder diese kuriose Geschichte von einem amerikanischen Touristen ein, dem in der nur wenige Hundert Meter entfernten Schwester-Buchhandlung, Waterstones Trafalgar, der Traum aller Vielleser – unfreiwillig – zur Realität wurde: Der Texaner David Willis war am 16. Oktober 2014 versehentlich in der Buchhandlung eingeschlossen worden und avancierte damit noch in derselben Nacht zum Internethit.
Seine Twitter-Statusmeldungen aus der verschlossenen Buchhandlung, die von einem ersten vorsichtigen Hilferuf bis zum augenzwinkernden Rettungsmanöver reichten, wurden damals über fünfzehntausendmal geteilt und sorgten selbst international für Aufsehen. Zu übertreffen wäre dieses Ereignis wohl nur von einer Übernachtung in der größeren Filiale, nämlich Waterstones Piccadilly, gewesen, vor der ich nun stehe und die weitläufige Schaufensterfront bewundere.
Auch diese Buchhandlung steht dabei zunächst einmal ganz im Zeichen von Harper Lees Go set a watchman (Gehe hin, stelle einen Wächter), das am morgigen Montag seinen Erstverkaufstag feiern wird. Mehrere Plakate und Hinweisschilder kündigen nicht nur das Erscheinen, sondern auch ein exklusives »Midnight Opening« für die heutige Nacht an – auf den Spuren von David Willis würde ich also schon einmal nicht wandeln können.
Voller Bedacht betrete ich die Buchhandlung, in deren Eingangsbereich ein paar Treppenstufen ins hell ausgeleuchtete Foyer hinabführen. Mir fallen sofort die Blumen auf den Büchertischen auf, die eine große Auswahl an Neuerscheinungen, Bestsellern und persönlichen Favoriten der Buchhändler präsentieren. Erst beim genaueren Betrachten entdecke ich die wohldosiert angebrachten Hinweistafeln und Tippkärtchen, alle in einer schönen Schrift von Hand verfasst. Die Abteilung im Erdgeschoss, die sich ans Foyer anschließt, ist ebenso einladend gestaltet, hier füllt eine Auswahl der beliebtesten Kinderbücher und Regionaltitel die Regale. Dass Waterstones nicht kleckern möchte, zeigt sich im hinteren Bereich des Verkaufsraumes, aber ich meine nicht die riesige Informations- und Kassentheke, sondern das goldene Waterstones »W«, das über den Regalen an der Wand thront.
Ich schlendere ins Mezzanine, ein etwas höher gelegenes holzvertäfeltes Zwischengeschoss, das zum einen Geschenkideen jeglicher Couleur präsentiert und zum anderen ein kleines Café beherbergt, von dem man eine gute Aussicht auf die parallel verlaufende Jermyn Street hat, von der aus ein zweiter Eingang in die Buchhandlung führt. Eine Kaffeepause mache ich aber nicht, es liegen ja noch einige Etagen vor mir. »Lose yourself in fiction, poetry and drama«, prophezeit mir der Slogan auf einem Plakat im ersten Obergeschoss.
Dementsprechend ist diese Etage auch ausgestaltet: Zwischen all den endlosen Regalen finden sich immer wieder Sitzlandschaften mit urgemütlichen Sesseln, in denen diskutierende oder lesende Besucher sitzen.
Jetzt spreche ich einen Buchhändler an, der eine kleine Fliege an seinem Hemdkragen trägt, und mir zu berichten weiß, dass Waterstones Piccadilly – ganz offiziell – als größte Buchhandlung Europas gilt. Auf den siebeneinhalb Etagen werden über zweihunderttausend Bücher angeboten, und wenn man alle Regale aneinanderreihen würde, käme man auf eine Gesamtlänge von rund 13 Kilometern.
Der Buchhändler gewährt mir eine kleine Führung durch die Etage und präsentiert schließlich – nicht ohne Stolz – die Klassikerabteilung, in der eine Hinweistafel über die neu gegründete »Classic Crime Bookgroup« informiert, die in Kooperation mit der Nationalbibliothek stattfindet. Als wir zurücklaufen und er mir empfiehlt, auf gar keinen Fall das Café in der obersten Etage zu verpassen, von dem sich unter anderem schon die Bestsellerautorin Rainbow Rowell als großer Fan geoutet hat, fällt mein Blick auf ein Buch in grünem Einband, das in einem der Regale gleich mehrfach in der Vollansicht nebeneinandersteht: The Bookshop Book von Jen Campbell.
Ich schlage ein Exemplar vorn auf und lese: »Bookshops are time machines, spaceshops, story-makers, secret-keepers, dragon-tamers, dream-catchers, fact-finders & safe places.« Wie wahr! Auch ich weiß das Lesen, Recherchieren, Träumen und Weiterspinnen so sehr zu schätzen, Bücher eröffnen Welten.
Als wollte er meinen Gedanken bestätigen, fügt der Buchhändler an: »Oh ja – dieses Buch ist großartig! Jen Campbell ist nicht nur Autorin und Bloggerin, sondern selbst eine der bekanntesten und beliebtesten Buchhändlerinnen des Landes.«
Ich nicke ihm angemessen beeindruckt zu und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich im Vorfeld meiner Reise schon den einen oder anderen persönlichen (Besuchs-)Tipp von Jen Campbell erhalten habe.
Ich verabschiede mich schließlich bei dem Buchhändler in Richtung des nächsten Obergeschosses und stelle dabei fest, dass an den Wänden im Treppenaufgang Fotos von vergangenen Veranstaltungen hängen: James Franco, Hillary Clinton, David Beckham, Keanu Reeves, Michael Bublé – die Oscar-Verleihung ist nichts dagegen.
Oben angekommen, schafft die Kinder- und Jugendbuchabteilung einen direkten Bezug zum Standort Piccadilly Circus, indem sie optisch einem großen Zirkus nachempfunden ist. Unter Girlanden und Lampions finden sich unzählige Bücher und Spielwaren, zwischen denen gestöbert, gelesen und Verstecken gespielt wird. Eine herrliche und weitläufige Spielelandschaft. In den weiteren Etagen sind vor allem Sachbücher zu finden, wobei sich ganz oben, im fünften Obergeschoss, das besagte Restaurant-Café befindet, das eine atemberaubende Aussicht auf die Umgebung bietet. Ich lehne mich für einen Augenblick an die Fensterscheibe und blicke über die Dächer des gesamten Viertels hinweg, wobei selbst die tief hängenden Regenwolken von hier oben – scheinbar – ein bisschen weniger trist und grau aussehen. Beinahe zwei Stunden habe ich am Ende im Waterstones-Flaggschiff verbracht, zwei kurzweilige und natürlich anregende Stunden. Und ich ziehe mit jeder Menge Fotomaterial sowie schönen Zitaten und Buchtipps weiter.
Nur wenige Meter von Waterstones Piccadilly entfernt, schräg gegenüber der Royal Academy of Arts gelegen, versprüht auch schon die nächste Buchhandlung royalen Charme:
HATCHARDS
Während das Gebäude ansonsten in einem schlichten...