Ans Werk!
In der Ethik geht es um die wirklich wichtigen Entscheidungen, und solche Entscheidungen präsentieren sich meist als Zwickmühlen. Manchmal fragt man sich, für welche von zwei möglichen Alternativen man sich entscheiden soll: ja oder nein, Sein oder Nichtsein, wahr oder falsch. Doch oft genug ist die Lage nicht so übersichtlich. Aber vielleicht geht es tatsächlich auch nur darum: Wie findet man den Weg zwischen den Alternativen hindurch?
99 moralische Zwickmühlen – das hört sich nach einer ordentlichen Menge an. Genug jedenfalls, um die wichtigsten Themen abzudecken, sollte man meinen. Und tatsächlich wird hier einiges abgehandelt. Aber der Brunnen der Ethik ist tief, und wer einmal seinen Schöpfeimer hinabgelassen hat, wird erfahren haben, dass er nie den Grund erreicht. Man bekommt ein Gespür dafür, was es heißt, die Abgründe der menschlichen Seele auszuloten. Wahrhaftig nicht immer eine schöne Erfahrung. Wäre jedes Rätsel ein Eimer Wasser, und würden wir mit unseren 99 Zwickmühlen die Sahara besprengen, es würde diese dürstende Landschaft nicht in einen blühenden Garten verwandeln. Ebenso wenig kann man von diesem Buch erwarten, es würde für die zahllosen Probleme unserer nach Moral dürstenden Welt Lösungen liefern.
Was gibt es zu der uralten Frage nach der Natur des Menschen zu sagen – ist er nun von Grund auf gut oder schlecht? Das weiß niemand. Zu welchem Zeitpunkt beginnt das Leben, wann endet es? Je nachdem. Gibt es absolute ethische Grundsätze? Das wollen wir hoffen. Fördert unser Eimer wenigstens die wichtigsten Themen zu Tage? Eher nicht. Er liefert uns nicht einmal die richtigen Fragen. Am Ende werden wir trotz der »epischen« Breite dieser Untersuchung feststellen müssen, dass weite Gebiete der Moral unberücksichtigt geblieben sind.
Das ist alles nicht sehr ermutigend. Aber so darf man die Sache nicht sehen. Es ist nicht der Sinn der Ethik – und noch viel weniger dieses Buchs – ein Regelwerk aufzustellen oder gar ein erbauliches Traktat zu liefern. Es geht in der Ethik vielmehr darum, unsere Orientierungsfähigkeit zu stärken, damit wir das finden, was die alten Chinesen das »Tao« nannten, was wir gewöhnlich mit »der Weg« wiedergeben. Da ist es gewiss kein Zufall, wenn in Platons ausführlichster Erörterung des Wesens der »Gerechtigkeit« derjenige, der die Antwort weiß, als ein Reisender beschrieben wird, welcher den Weg zum Ziel kennt im Gegensatz zur großen Masse der Menschen, die wie Fremde in einem unbekannten Land auf unzuverlässige Wegzeichen und halb verstandene Hinweise angewiesen sind.
Wenn die Ethik aber eine Reise ist, so gewiss nicht eine, bei der sich jeder auf eigene Faust zu einem selbst gewählten Bestimmungsort aufmachen sollte, auch wenn viele mit dieser Illusion aufbrechen. Schon die Philosophen der Antike wussten, dass man hier ganz anders vorgehen muss. Ethik war für sie das Nachdenken darüber, wie man die Welt organisieren müsse, um größtmögliche Harmonie zu erreichen. Die Welt verstanden sie als Organismus, den es in die »richtige Ordnung« zu bringen gilt, um Gesundheit und Wohlergehen zu sichern. In diesem Sinne handelte es sich um eine ganz und gar praktische, ja sogar eine politische Bemühung. Das Aufgabengebiet der Ethik war die Suche nach der Gerechtigkeit – dikaiosyne auf Griechisch –, Gerechtigkeit mehr im moralischen als im juristischen Sinne verstanden und in enger Verbindung mit der Vorstellung von Weisheit.
Solche Ideen sollten den Marxisten eigentlich zusagen, und doch haben Marx und Engels die Moral als den Mythenproduzenten des Überbaus und als Lügenlieferant der Bourgeoisie diskreditiert. Marx meinte ein wenig verächtlich: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Dieser skeptischen Haltung gegenüber den Philosophen begegnen wir bis heute, von rechts so gut wie von links. Allerdings war Marx hier im Irrtum – wie in anderen Dingen auch. Die Moral ist nicht bloß eine Folge von etwas anderem. Die Moral gehört selbst zu den Grundtatsachen dieser Welt.
Nicht dass Marx und Engels als Erste Kritik angemeldet hätten. Schon Sokrates konnte sich über die Bemühungen der »Moralexperten« seiner Tage lustig machen. Hobbes erklärte im 17. Jahrhundert, es gäbe keinen noch so absurden Gedanken, der nicht von dem einen oder anderen großen Philosophen vertreten worden wäre. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erklärten die logischen Positivisten, schon allein die Vorstellung von Moral sei »unhaltbar«. So haben die Philosophen ihr ureigenstes Thema auf die unterschiedlichste Weise derart zerredet, dass die Ethik heutzutage allgemein bloß noch als Hindernis für ernsthafte Versuche gilt, ein privates oder politisches Leitbild zu entwickeln.
Freilich gibt es neben der wenig zuverlässigen Führerin Philosophie viele andere Quellen, denen sich Lebensregeln entnehmen lassen. Da ist die Religion und nicht zu vergessen das Orakel, im Grunde die älteste Form von Moral. (Der älteste Führer zum »tugendhaften Leben« ist das I Ging). Es gibt die zahllosen moralischen Welten, die in der Literatur eingefangen sind, es gibt die mit wissenschaftlichem Anspruch betriebene Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion von Werten, und es gibt die materialistischen Methoden, welche in der Wirtschaft die höchste Entscheidungsinstanz über das Richtige und Falsche sehen. Doch sie alle erreichen nicht die Tiefe der Philosophie.
So oft Philosophen auch versucht haben, Politik und Moral zu trennen, sie bilden zwei Seiten einer Medaille. Aristoteles erklärte die Politik zur Wissenschaft vom höchsten Guten für den Menschen. Sollte jemandem »diese Wissenschaft ungeheuer kontrovers, tendenziös und parteiisch« vorkommen, schreibt Susan George, »kann man nur hoffen, dass er Recht hat«. Schließlich geht es in der Ethik nicht um Platituden und schon gar nicht um Tautologien, Logik oder Mathematik, sondern um schwierige Entscheidungen – Zwickmühlen eben. Heutzutage ist die Überzeugung weit verbreitet, man müsse sich in Bezug auf das Wahre und Falsche vollkommen wertneutral verhalten. Viele sehen in der Ethik bloß eine rein technische Zergliederung von Begriffen oder versuchen gar, eine neue Ebene in die ethische Diskussion einzuführen, eine »Metaethik«. Doch wie wollen sie eine solche »Überethik« schaffen, wenn sie nicht einmal eine einfache Ethik zustande bringen? Die Loslösung der Frage nach dem Wahren und Falschen von der Welt ist in jedem Fall eine eitle Bemühung. Es gibt im Leben echte Probleme zu lösen und wirkliche Entscheidungen zu treffen.
Wie echt? Welche Art von Entscheidungen? Große oder kleine? Die großen ergeben sich oft genug aus den kleinen. »Ich war immer der Überzeugung, dass gerade die unscheinbaren Dinge die wichtigsten sind«, meint Sherlock Holmes in Ein Fall von Identität. Gewiss, der Mann, der im August 1945 die Enola Gay mit der Atombombe belud, traf damit eine kleine Entscheidung, die ganz am Ende einer langen Reihe anderer kleiner Entscheidungen stand, und ein paar Stunden später waren 100 000 Menschen tot. Und doch war es nur eine kleine Entscheidung, die man nicht eindeutig als »richtig oder falsch« bezeichnen kann. (Er belud jeden Tag Flugzeuge!) Allzu oft geht die akademische Ethik an den eigentlichen Fragen völlig vorbei.
Schauen wir uns die Sache einmal genauer an. Vielleicht war es die schwerwiegendste Entscheidung, die je getroffen wurde – sollte man die Atombombe einsetzen oder lieber nicht? Sollte man sie auf eine Stadt werfen, bewohnt von Männern, Frauen und Kindern? Auf Jugendliche, Schulkinder und selbst auf Babys? Auf Greise, Behinderte und Kranke? Auf alle?
Im Frühjahr 1945 hatte die US Air Force nahezu die Lufthoheit über sämtliche japanische Städte. Mit zigtausend Napalmbrandbomben entfachte sie Feuerstürme, die über die Holzhäuser Tokios und einer Reihe kleinerer Städte hinwegfegten. Die Japaner hatten sich als grausame und gnadenlose Feinde gezeigt. Ihren Opfern, häufiger Zivilisten als Soldaten, begegneten sie gleichgültig und mitleidlos – sie behandelten sie, man kann es nicht anders sagen, wie Tiere. In Minoru Matsuis Film Japanische Soldaten des Teufels (2001) schildern ehemalige japanische Soldaten Massaker an Männern, Frauen, Kindern und sogar Babys. Doch mit einem Mal sah es so aus, als wären die Sieger des Zweiten Weltkriegs moralisch keinen Deut besser als die Besiegten.
Jetzt, wo das japanische Volk buchstäblich am Boden lag, wäre es für die Sieger an der Zeit gewesen, ihre überlegenen Werte, ihr Mitgefühl und ihre Menschlichkeit unter Beweis zu stellen. Stattdessen trat unter dem Vorsitz des Verteidigungsministers zum ersten Mal so etwas wie eine militärische Ethikkommission zusammen, um den Einsatz einer neuen Bombe zu erwägen. Die bis heute namentlich unbekannten Mitglieder der Kommission hatten ein Memorandum der am Manhattan Project beteiligten Wissenschaftler vorliegen, die vor dem Einsatz warnten: Die USA würden damit die Büchse der Pandora öffnen. Im Unterschied zur amerikanischen Öffentlichkeit war der Kommission bekannt, dass Japan militärisch besiegt war und sich keineswegs auf einen Endkampf bis zum letzten Kamikazeeinsatz vorbereitete, sondern bereits über die Kapitulation verhandelte. Und in dieser Situation riet sie zum Einsatz der Bombe.
Nicht einfach irgendwo natürlich. Das wäre unmoralisch gewesen. Doch wollte man sie auch nicht etwa bloß an einem Berg verschwenden. Besser, so befand man, sei der Abwurf »… auf eine wichtige Rüstungsfabrik, die...