Prolog
Es ist der 21. November, 19.55 Uhr. Mein Herz schlägt schnell. Schneller als bei den Intervallen, die ich noch am Morgen gelaufen bin. Beinahe so schnell, dass ich fürchte, es könnte sich überschlagen. Um Punkt 20 Uhr öffnet sich das digitale Tor zu einer neuen, aufregenden Welt: meiner ersten Langdistanz, dem Ironman in Arizona. Ich muss einen der begehrten Plätze ergattern, wenn mein Traum wahr werden soll.
19.57 Uhr. Mein Herz rast. Ich drücke wie wild die F5-Taste, um die Seite neu zu laden. Könnte ja sein, dass es doch schon früher losgeht, und ich muss auf jeden Fall dabei sein! Was, wenn ich es nicht schaffe, nicht durchkomme, der Server abstürzt, die Internetleitung den Geist aufgibt? Nicht auszudenken, denn ich habe keinen Plan B. Kann es jetzt bitte endlich losgehen?
19.59 Uhr. F5. F5. F5. F5. F5. Immer noch nichts. Ob da was kaputt gegangen ist? Haben wir uns etwa bei der Zeitzonen-Umrechnung vertan? Dabei hatte ich direkt beim Veranstalter nachgefragt, was mit „12pm“ gemeint ist. Für den gemeinen Europäer, der die 24h-Systematik gewohnt ist, ist das am/pm-System der Amerikaner ja durchaus ein mittelgroßes Hindernis. War jetzt also mit 12pm Mittag oder Mitternacht gemeint? Die Antwort des Veranstalters hatte „noon“ gelautet, also Mittag, plus 8 Stunden Zeitverschiebung, also 20 Uhr deutscher Zeit. Oder etwa doch nicht?
Einige Sekunden später endlich die Erlösung. Die Anmeldung öffnet ihre Pforten. Na dann: Nichts wie ran an den Speck.
20.00 Uhr. Es geht los! Jetzt bloß die Nerven behalten und keinen Fehler machen. Erste Hürde: das Active.com Passwort. Habe ich natürlich vergessen. Wann braucht man das schon? Richtig, regelmäßig am Sankt Nimmerleinstag. Mist. Schnell neues Passwort festlegen. Ich wechsle nervös zwischen Tablet und Smartphone. Zwei Chancen, einen der begehrten Startplätze zu ergattern, sind mir lieber als eine. Die Anmeldemaske versucht mich mit dem Hinweis zu beruhigen, dass ich 15 Minuten Zeit habe, um meine Anmeldung abzuschließen. So lange bliebe mein Platz reserviert. Ich traue dem Braten nicht.
20.02 Uhr. Ich habe mittlerweile mein Passwort-Problem gelöst. Thank God. Andreas ist inzwischen am Laptop so gut wie fertig, verlangt auf den letzten Metern aber eindringlich nach Übersetzungshilfe. Die amerikanische Tageslizenz ist wirklich unverständlich formuliert. Aber daran soll es jetzt nicht mehr scheitern. Klick, klick, ROT. Eingabe fehlt. Ja Herrgott, welche Eingabe denn?! Ich drohe, den Laptop aus dem Fenster zu werfen. Ah nee, den brauche ich ja noch. Verdammt. Dann entdecke ich das Kästchen, das einen Haken verlangt. Klick, klick, TADAAA. Wenn ich jetzt eine Waschmaschine geliefert bekäme, es wäre mir egal. Andreas kann erstmal alleine weitermachen. Bei mir boykottiert das Tablet derweil alle Auswahl-Versuche im Dropdown-Menü zur Angabe der Nationalität. Ich könnte schreien. Das ist ja wie verhext. Nein, ich komme nicht aus Andorra! Wäre ich Verschwörungstheoretiker, ich würde spätestens jetzt eine Beteiligung der NSA nicht mehr ausschließen. Aber ich schiebe den Gedanken energisch beiseite und will nur noch eins: Endlich angemeldet sein.
20.03 Uhr. Das darf doch alles nicht wahr sein. Da soll die verfluchte Technik dir das Leben einfacher machen, und am Ende möchtest du alle Geräte am liebsten aus dem Fenster werfen. Ich schmeiße zumindest das Tablet tatsächlich in die Ecke, aus dem Fenster wäre mir dann doch zu endgültig. Warum sitzt eigentlich Andreas am Laptop, und nicht ich?
20.05 Uhr. Ach komm, was soll‘s. Ich springe über meinen Schatten und helfe ihm, seine Registrierung abzuschließen. Nicht ganz uneigennützig, klar, denn ich will ja so schnell es geht selbst an den Laptop, um meine eigene Registrierung zu Ende zu bringen. Mittlerweile bin ich gefühlt um mindestens 3 Jahre gealtert. Langdistanz ist anscheinend schon bei der Anmeldung stressig. Was, wenn es jetzt nicht mehr klappt? Wenn schon alles ausgebucht ist? Panik kriecht heran, aber dafür habe ich jetzt wirklich keine Zeit. Prompt ist meine bessere Hälfte fertig registriert. Geht doch. Jetzt komme ich!
20.07 Uhr. Meine Finger fliegen nur so über die Tastatur. Bin ich ich? Check. Geburtsdatum? Check. Nationalität? Check. Erster Ironman? Check. Notfallkontakt? Herrje, wo hab ich jetzt gleich die Handynummern meiner amerikanischen Familie? Natürlich nicht zur Hand. Gut, muss mein Bruder fürs Erste herhalten. Kann man ja sicher später noch ändern, oder?
20.18 Uhr. Klick, klick, GLÜCK! 826 Dollar und eine glühende Kreditkarte später ist es vollbracht. In meinem Posteingang blinkt die Bestätigungs-Email der World Triathlon Corporation. Kneift mich bitte mal einer? Kann das wirklich wahr sein? Ich schwanke zwischen totaler Euphorie und Angst vor der eigenen Courage. Was habe ich getan? Aber auch: Wie geil ist das denn? Das wird das größte sportliche Abenteuer meines Lebens. Ich freue mich wahnsinnig.
Am folgenden Tag wird dank Facebook und Co. klar: Wir hätten durchaus auch leer ausgehen können. Der Ironman Arizona war innerhalb von 10 Minuten ausverkauft. Damit hatte niemand von uns gerechnet. Aber: Ich bin dabei. WIR sind dabei. Wir, das ist eine kleine Gruppe begeisterter Triathleten, die in Düsseldorf leben oder mal gelebt haben. Alle haben einen Startplatz ergattern können. Ironman Arizona, wir kommen!
Unsere kleine Reisegruppe besteht aus insgesamt 8 Personen. Ich darf vorstellen: Andreas, mein damaliger Lebensgefährte und heutiger Ehemann, ein sehr erfahrener Langdistanzhase. Lars, mit über 2 Metern Körpergröße ein Leuchtturm in der Menge und ein hervorragender Radfahrer. Er hat schon tausende Kilometer lange Radtouren durch Asien gemacht, und ist auch sonst in der Regel der Erste, der sich für verrückte Ideen erwärmen lässt – wenn er sie nicht sowieso selbst vorgeschlagen hat. Jana, seine Freundin, ist die Jüngste in der Runde. Sie hat ihren ersten Ironman mit Lars zusammen in Australien gemacht und in sage und schreibe 13 Stunden gefinished, was ihr meinen größten Respekt einbringt. Manu(el), auch Fauli genannt, ist sogar noch ein bisschen größer als Lars. Wenn man mit den beiden unterwegs ist, kommt man sich als normal groß gewachsener Mensch automatisch wie eine Zwergpygmäe vor. Kommt aber beim Radfahren auch in den Genuss, dass beide Windschatten geben wie ein LKW. Mika, Manu’s Freundin, ist sehr schnell und manchmal ein bisschen grummelig, weshalb sie sich selber den Spitznamen „Grummel-Hummel“ gegeben hat. Dann ist da noch Oli(ver), ein vermeintlich stiller, aber sehr sprachtalentierter Zeitgenosse. Dazu später mehr. Er ist bereits seit jungen Jahren im Triathlon zuhause und bringt folgerichtig mit Abstand die meiste Erfahrung mit. Last, but not least, Tine, die Maschine. Auf den ersten Blick leicht zu unterschätzen, weil klein und zierlich, aber wehe, wenn sie losgelassen. Sie ist ein unglaublich schneller und zäher Rennfloh mit riesiger, ansteckender Lebensfreude. Ein bunter Haufen Menschen also, die ich schon vor unserem Abenteuer als Freunde bezeichnet hätte, die mir aber in den kommenden Wochen exponentiell weiter ans Herz wachsen sollten.
Die Idee zu dieser Reise ist nicht mit Vorsatz entstanden, sondern eher zufällig. Während eines Pasta-Abends bei Jana und Lars. Ich hatte schon seit einer Weile mit dem Gedanken gespielt, endlich die Langdistanz, die Königsdisziplin des Triathlons, in Angriff zu nehmen. Eine Reihe von Mitteldistanzen, bestehend aus 1,9 Kilometer Schwimmen, 90 Kilometer Radfahren und 21,1 Kilometer Laufen, hatte ich bereits erfolgreich gefinished. Bis dato hatte ich jedoch die Idee, mich an einer Langdistanz zu versuchen, immer wieder als vollkommen unsinnig, unvernünftig und unrealistisch verworfen. 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren, um dann noch 42,195 Kilometer zu laufen? Das erschien mir schlicht unmöglich. Ich hatte schon beim Erreichen der Mitteldistanz-Ziellinie das Gefühl, es nicht auch nur einen Meter weiter zu schaffen. Die ganze Strecke zweimal absolvieren? Hintereinander weg? Unmöglich. Marathon alleine brachte mich an den Rand meiner (Willens-)Kräfte. Auf den letzten Metern ging es bei mir nur noch ums pure Überleben. Die Vorstellung, diese Strapaze nach 3,8 Kilometern Schwimmen und 180 Kilometern Radfahren in Angriff zu nehmen, sprengte schier meine Vorstellungskraft. Aber der Wunsch blieb, und ließ sich mit rationalen Argumenten auch nicht wegdiskutieren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass mir die Sache wirklich ernst war. Allein, mir fehlte der Mut. Ich suchte das Gespräch mit meinem Umfeld. Meine Mittagspausen-Laufpartner Roland und Benjamin hatten eine klare Empfehlung: Machen. Sie verstanden zwar, dass ich zögerte, wischten aber gleichzeitig alle meine Bedenken resolut zur Seite. Wenn ich es wollte, dann würde ich es auch schaffen. So kannten sie mich. Einmal was in den Kopf gesetzt, knallhart durchgezogen. She executes any given plan like a military operation. Für mich war dieses Feedback wirklich interessant, denn so nahm ich mich selbst gar nicht wahr. Aber auch mein erweiterter Bekanntenkreis spiegelte mir diesen Eindruck. Ich wurde in...