KAPITEL 1
Das »Willensloch«
Was also widerfährt den 108 Millionen diätwilligen Amerikanern, die ich im Prolog erwähnte? Jenen Menschen, die vergeblich versuchen abzunehmen, teilweise vier- bis fünfmal im Jahr? Meine These – die von der Wissenschaft gestützt wird – lautet, dass ihr Gehirn sie davon abhält. »Warum?«, fragen Sie nun womöglich. »Warum sollte das Gehirn so etwas tun?« Denn eine solche These steht ganz offenbar im Widerspruch zu der Vorstellung, dass der Körper sich selbst überwacht, reguliert und heilt. Unter normalen, evolutionsgerechten Umständen könnte er das wahrscheinlich auch. Doch die Moderne hat viele menschliche Verhaltensweisen und Lebensumstände verändert. Studien zeigen, dass aktuelle Lebensmittel und Essgewohnheiten drei entscheidende Prozesse im Gehirn kapern und nachhaltiges Abnehmen damit fast unmöglich machen. Bright Line Eating zielt darauf ab, diese Prozesse wiederherzustellen und das Gehirn wieder auf unsere eigentlichen Ziele umzuprogrammieren. Wer sich auf Bright Line Eating einlässt und dabeibleibt, nimmt nur deshalb auf Dauer ab, weil Gehirn und Körper bei diesem Konzept auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten: ein unbeschwertes, freies Leben.
In den folgenden drei Kapiteln werden diese entscheidenden Prozesse einzeln dargestellt. Im Rest des Buches geht es darum, die Lösung zu erklären. Es ist wichtig, dass Sie diesen Teil nicht einfach überspringen und gleich zum Ernährungskonzept übergehen, nur weil Ihre Nachbarin schon 50 Kilo leichter ist und Ihnen dieses Buch in die Hand gedrückt hat und Sie nun unbedingt loslegen wollen. Erst müssen Sie vollständig begreifen, was in Ihrem Gehirn abläuft. Nur so verstehen Sie, warum Bright Line Eating funktionieren wird, wo so viele andere Versuche gescheitert sind.
In diesem Kapitel befassen wir uns zuerst mit etwas, das die meisten Menschen längst zu kennen glauben: der Willenskraft.
Was ist Willenskraft?
Willenskraft wird meist als moralische Charaktereigenschaft angesehen oder gilt als Werkzeug, das mit wachsender Entschlossenheit stärker wird. Wie nutzen wir sie? Indem wir sie mobilisieren. Diese Ausdrucksweise zeigt, wovon wir automatisch ausgehen: Dass die nötige Willenskraft bereits auf uns wartet. Wir müssen sie nur gezielt einsetzen. Wenn uns dies nicht gelingt, haben wir persönlich versagt.
Aber die Willenskraft ist etwas anderes und folgt anderen Gesetzen, als wir glauben.
Pünktlich zum Jahresbeginn fangen Millionen Menschen eine Diät an. Im Posteingang stapeln sich die E-Mails, das Internet wirbt an jeder Ecke, alle Zeitungen und Zeitschriften berichten von der neuesten Wunderdiät und dem aktuellsten Sportprogramm, und die Menschen glauben wie hypnotisiert daran, dass es diesmal endlich klappt. Nur dass der Erfolg dieser Diäten auf Willenskraft beruht, macht sich niemand bewusst. Die Programme schreiben vor, was wir essen dürfen und was nicht, wie wir Sport treiben sollen (und warum), und dann überlassen sie die langfristige Umsetzung dem Einzelnen.
Deshalb herrscht in den Fitnessstudios im Januar Hochbetrieb, bis die Anwesenheit im Februar wieder auf ein normales Maß zurückgeht. Und deshalb beginnt der Durchschnittsamerikaner schon im Frühling mit der zweiten Diät des Jahres.
In meinen Kursen zur Einführung in die Psychologie und zur Ernährungspsychologie frage ich College-Studenten regelmäßig, wie sie »Willenskraft« definieren würden. Die Mehrheit geht irrtümlicherweise davon aus, dass es sich dabei entweder um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal handelt oder um ein inneres moralisches Barometer.
Das stimmt allerdings beides nicht.
Willenskraft ist schlicht eine Hirnfunktion. Studien konnten zwar eine genetische Komponente nachweisen, die an der Stärke der Willenskraft beteiligt ist,[1] doch das ist keineswegs der einzige Aspekt. Wir sollten uns bewusst machen, dass Willenskraft nicht nur die mentale Fähigkeit umfasst, Versuchungen zu widerstehen – sie regelt auch andere Bereiche des Lebens wie unsere Konzentrationsfähigkeit, die Leistungsfähigkeit, die Regulierung der Emotionen und insbesondere die Entscheidungsfähigkeit. Vielleicht kennen Sie das abendliche Gefühl: »Ich kann keine Entscheidung mehr treffen!« Dann bitten Sie den Partner oder Ihren Mitbewohner, das Essen oder den Film auszuwählen, weil Sie es einfach nicht können. Wissenschaftler sprechen dann von Entscheidungsmüdigkeit.[2] Und die gibt es tatsächlich.
Roy Baumeister ist Psychologieprofessor an der Florida State University und vermutlich der führende Experte für Willenskraft. In diesem Zusammenhang hat er den Begriff Ego-Depletion oder Ego-Erschöpfung geprägt. 1998 erschien im Journal of Personality and Social Psychology ein Artikel von Baumeister und anderen, der die Willenskraft zum wissenschaftlichen Forschungsthema erhob.[3]
In diesem Artikel wird das inzwischen berühmte Radieschen-Experiment beschrieben. Die Teilnehmer sollten über Nacht fasten und am anderen Morgen ohne Frühstück zu dem Experiment erscheinen. Dort führte man sie in ein Zimmer, in dem es nach frisch gebackenen Keksen duftete, und ließ sie an einem Tisch Platz nehmen, auf dem zweierlei bereitstand: Eine Schale mit rohen Radieschen und ein Teller mit Schokolade und Schokoladenkeksen. Die eine Gruppe erhielt die Anweisung, einen Fragebogen auszufüllen und auf Wunsch Radieschen zu essen. Die Kekse oder die Schokolade sollten sie nicht anrühren, die würden für eine andere Studie benötigt. Einer zweiten Gruppe wurde mitgeteilt, dass sie die Kekse und die Schokolade haben dürfte, aber bitte die Radieschen nicht anrühren sollte. Eine dritte Gruppe fand keinerlei Nahrung im Zimmer vor. Alle Teilnehmer bekamen 15 Minuten Zeit für den Fragebogen. Dann wurden sie in den Nachbarraum geführt, wo »die eigentliche Studie« stattfände, angeblich ein Intelligenztest. In Wahrheit handelte es sich um verschiedene unlösbare Geometrieaufgaben. Dann wurde ermittelt, wie viele Versuche die Teilnehmer starteten und wie lange sie jeweils an der Lösung tüftelten.
Die Teilnehmer, die gerade 15 Minuten lang den Keksen widerstanden hatten, hatten nur noch wenig Willenskraft übrig, um an den unlösbaren Geometrieaufgaben zu arbeiten. Nach acht Minuten gaben sie auf. Diejenigen hingegen, die Kekse essen durften, sowie diejenigen, die gar nichts erhalten hatten, konzentrierten sich fast 19 Minuten auf die geometrischen Rätsel, obwohl es dafür keine Lösung gab. Sie probierten es einfach immer wieder. Sie hatten die nötige Willenskraft.
Das war das erste Experiment, bei dem man erkannte: »Hey, die Willenskraft existiert tatsächlich.« Bis 1998 hatte man nicht gewusst, dass Willenskraft messbar ist. Zudem konnte Baumeister belegen, dass eiserne Selbstkontrolle in einem Lebensbereich diese kostbare, begrenzte Ressource verbraucht und danach die Regulierung weiterer Funktionen beeinträchtigt.[4]
Diese Erkenntnis sollten Sie sich gut einprägen, denn die Selbstbeherrschungsspanne der meisten Menschen liegt im Durchschnitt bei lediglich 15 Minuten.* Eine Viertelstunde. (Können Sie sich vorstellen, Ihr Smartphone hätte nur 15 Minuten Ladekapazität?) Und sie wird von diversen Aktivitäten und Stressfaktoren beansprucht, zum Beispiel dem E-Mail-Checken. Sie nehmen es möglicherweise nicht bewusst wahr, aber jede erhaltene Mail verlangt dem Gehirn eine Fülle von Entscheidungen ab: Löschen? Lesen? Speichern? Antworten? Alles? Jetzt? Später? Wie?
Auch die Affektregulierung nagt unablässig an der Willenskraft, zum Beispiel die Kinder vom Kindergarten abholen, sie nach Hause bringen, sie beschäftigen, dann Abendessen, ins Badezimmer und schließlich ins Bett bringen, samt Auseinandersetzungen und Quengeleien, ohne die Geduld zu verlieren. Das erfordert jede Menge Willenskraft. Wie oft möchten wir am liebsten direkt in die Küche marschieren, sobald im Kinderzimmer endlich das Licht aus ist? Der Zusammenhang ist Ihnen unklar, doch es ist der Zuckerstand im Gehirn. Einer Studie zufolge haben Häftlinge, die um vorzeitige Entlassung ersuchen, nur eine Chance von 15 Prozent, wenn der zuständige Richter eine Pause (und vermutlich etwas zu essen) brauchte. Nach der Pause hingegen standen ihre Chancen bei 65 Prozent.[5] Wie kann das sein?
Willenskraft im Gehirn
Im Gehirn ist die Willenskraft im vorderen Teil des cingulären Cortex verankert, der auch als ACC (anteriorer cingulärer Cortex) bezeichnet wird.
Dieser ACC sitzt unmittelbar hinter der vorderen Hirnrinde (präfrontaler Cortex), wo die rationalen Entscheidungen getroffen werden.
Das gesamte Gehirn benötigt Glukose, aber der ACC reagiert ausgesprochen empfindlich auf Zuckerschwankungen.[6] Sobald der Zuckergehalt im Gehirn zurückgeht, wird die Aktivität in diesem Areal immer langsamer. Es erscheint wie eine grausame Laune der Natur: Wenn wir ein paar Stunden gearbeitet haben oder der Blutzuckerspiegel nach einem langen Tag auf dem Tiefpunkt ist, lässt das Gehirn uns im Stich, sodass wir in Bezug auf unser Essen keine kluge Entscheidung mehr treffen können.
Was uns wieder zu unseren Diätkandidaten zum Jahresauftakt zurückführt. Jeden...