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E-Book

Abschied braucht Zeit

Palliativmedizin und Ethik des Sterbens

AutorH. Christof Müller-Busch
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
ReihemedizinHuman 14
Seitenanzahl295 Seiten
ISBN9783518779200
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Gibt es einen guten Tod? Abends friedlich einschlummern und im Schlaf sanft hinübergleiten. So stellen sich viele von uns einen guten Tod vor. Für schwerkranke Menschen, deren Lebenszeit begrenzt ist, sind dagegen oft andere Dinge wichtig: ausreichend Zeit für den Abschied, keine Schmerzen zu spüren und dem Tod ohne Furcht begegnen zu können. Die Palliativmedizin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lebensqualität ihrer Patienten in ihrer letzten Lebenszeit zu fördern und ihnen so die Möglichkeit zu geben, in Würde zu sterben. Dabei geht es ihr nicht nur um Schmerztherapie und Angstlinderung, um Trost und Beistand für die Sterbenden und ihre Angehörigen, sondern auch darum, dem Tod Raum und Zeit zu geben, seinen Moment zuzulassen. Kann man trotz schwerer Krankheit in Würde sterben? H. Christof Müller-Busch, einer der bekanntesten Palliativmediziner Deutschlands, ist davon überzeugt: Man kann. Sein Buch ist ein hochreflektierter und sehr persönlicher Bericht über den Umgang mit Krankheit und Sterben, ein Plädoyer für einen guten, einen würdigen Tod.

<p>H. Christof M&uuml;ller-Busch war bis 2008 Leitender Arzt am Gemeinschaftskrankenhaus Havelh&ouml;he, Berlin. Schwerpunkte seiner klinischen T&auml;tigkeit waren Schmerztherapie und Palliativmedizin. Seit 1994 ist er ma&szlig;geblich am Aufbau der Palliativversorgung in Deutschland beteiligt. Er ist Sprecher des Arbeitskreises Ethik und war von 2006 bis 2010 Pr&auml;sident der Deutschen Gesellschaft f&uuml;r Palliativmedizin (DGP).</p>

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Leseprobe

Kapitel 1

Palliativ: Geschichte eines Wortes und einer Idee


Ist Gras gewachsen über die Geschichte,
Weiß nicht mehr recht, wie sie sich zugetragen;
Nur manchmal schwebt mirs vor im Dämmerlichte,
Als hätt ich einer Schuld mich anzuklagen.

Doch abgewandt vom störenden Gesichte,
Ruf ichs nicht an und will es nicht befragen,
Weil Blick und Mut ich in die Zukunft richte;
Ich schlage mich nicht gern mit alten Tagen.

»Wenn dir der Sensenmann den Leib hinstrecket,
Wird er auch säuberlich das Gras dir mähen,
Das jene Schuldgeschichte dir verdecket.

Kehr mutig um zu den verlaßnen Bühnen,
Die Schuld mit scharfem Reueblick zu sehen;
Soll sie dir sterben, eile, sie zu sühnen.«

Das von dem österreichischen Lyriker Nikolaus Lenau stammende, im Jahr 1839 entstandene Sonett mit dem Titel Palliativ ist wahrscheinlich beim Anblick seiner Jugendliebe Bertha entstanden. Mit ihr hatte er im Alter von neunzehn Jahren eine Affäre, in deren Folge er an Syphilis erkrankte. Diese Krankheit hat sein späteres Leben wesentlich bestimmt. Als er Bertha nach vielen Jahren wiedersah, wagte er nicht sie anzusprechen. Die letzten sechs Jahre seines Lebens verbrachte der Dichter, der nach einem Schlaganfall unter schweren Depressionen und Wahnvorstellungen als Spätfolge der Syphilis litt, in verschiedenen Irrenanstalten, bis er im Jahr 1850 aus seinem »trostlosen Restdasein« in der Irrenanstalt von Oberdöbling erlöst wurde.6 Aus welchem Grund Lenau dieses Gedicht »Palliativ« nannte, ist nicht bekannt, auch wenn die Syphilis damals als eine der am häufigsten zu Siechtum und palliativer Betreuung führenden Erkrankungen angesehen werden muss.

Das Wort palliativ wurde früher häufig in literarischen Bedeutungszusammenhängen gebraucht und selten mit dem Verständnis, mit dem wir heute von Palliative Care oder Palliativmedizin sprechen. So war die Verwendung des Begriffs im Sinne von »dämpfend«, »erleichternd«, »lindernd«, aber auch »täuschend« in der europäischen Literatur bis ins 19. Jahrhundert hinein geläufig. Auch im politischen Kontext fand der Begriff Anwendung, allerdings mit einer etwas anderen Bedeutung. So erscheint das Wort »palliativ« mehrfach in den Schriften von Karl Marx, später auch bei Rosa Luxemburg oder in der politischen Debatte Frankreichs bei Victor de Broglie im Sinne von »das Übel nicht kurierend«, »nicht ursächlich«, »oberflächlich bleibend«. Ähnliche Beschreibungen finden sich auch in Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts.

Johann Wolfgang von Goethe gebrauchte den Begriff palliativ in einem interessanten Zusammenhang, und zwar im Sinne von »Ablenkung bietend und Sehnsucht lindernd«. So schreibt er in einem seiner ersten Briefe Ende Januar 1776 an die sieben Jahre ältere Charlotte von Stein, die er wenige Wochen zuvor am Hofe kennengelernt hatte: »Liebe Frau ich war heut Nacht von einem Teufels Humor zu Anfange …. Es drückte mich … Endlich fing ich an zu miseln und da gings besser. Die Liebeley ist doch das probatste Palliativ in solchen Umständen … Ich log und trog mich bey allen hübschen Gesichtern herum … Das Milchmädgen gefiel mir wohl, mit etwas mehr Jugend und Gesundheit wäre sie mir gefährlich … Aber ich blieb in Fassung … G. 27. Jan. 76.« Die intensive und von tiefen Sehnsüchten getragene Liebesbeziehung, die wohl nur in einem umfangreichen Briefwechsel Erfüllung finden konnte und die die beiden mehr als zehn Jahre lang verband, ist in ungefähr 1700 Briefen Goethes dokumentiert. Leider sind alle Briefe der Freifrau von Stein verlorengegangen.

In einer schönen Übersicht zur palliativen Krankheitsbehandlung in der vormodernen Medizin (ca. 1500-1850) zeigte der Medizinhistoriker Michael Stolberg, dass es schon im 16. und 17. Jahrhundert eine intensive Diskussion zur Cura palliativa gab, die als unverzichtbare Alternative zu einer radikalen, kurativen Behandlung angesehen wurde. Cura palliativa war auch ein polemischer Begriff in der damals heftig geförderten Diskussion um die »wahre« ärztliche Kunst, bei der man die weniger gebildete Konkurrenz für unfähig erklärte.7

Eine präzise – und der medizinischen Bedeutung des Wortes sehr nahe kommende – Definition von palliatio findet sich bei Francis Bacon, dem einflussreichen englischen Rechtsgelehrten, Staatsmann, Essayisten und Begründer des wissenschaftlichen Empirismus. In einem berühmten Brief an Sir Henry Savill unterschied er zwischen Arzneimitteln, die zur eigentlichen Heilung und solchen, die (nur) zur Palliation eingesetzt werden: »Remedies … generally … do issue, as medicines do, into two kinds of cures; whereof the one is a just or true cure, and the other is called palliation.«8

Wann und in welchen Zusammenhängen der Begriff palliativ in die Medizin eingeführt wurde, lässt sich nach Stolberg bislang nicht eindeutig nachweisen. Man führt ihn in der Regel auf das lateinischen Wort pallium (Mantel, Umhang) und palliare (bedecken, tarnen, lindern) zurück. Das Pallium galt auch als Zeichen geistlicher Macht und wurde seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. den höheren Bischöfen von den römischen Kaisern verliehen. In althochdeutschen Wörterbüchern wird auf die Nähe zu pallere oder pallescere (bleichen, blass sein) hingewiesen. In der vormodernen Medizin verband man das Wort palliare allerdings nicht nur mit Vorstellungen eines bloßen »Bemäntelns«, nach Stolberg wurden damit auch Behandlungen bezeichnet, die äußere Makel oder gar die Unfähigkeit des Heilkundigen verbergen sollten, eine Krankheit wirksam zu kurieren.

In einem einführenden Kapitel zu seiner Chirurgia (um 1363) forderte Guy de Chauliac grundsätzlich eine spezifische, an den Ursachen ansetzende Behandlung von Krankheiten. Er nannte aber drei Ausnahmen, in denen sich der Arzt mit einer »cura larga, praeservativa, et palliativa«, also mit großzügig schützenden und lindernden Maßnahmen, begnügen dürfe: erstens bei Krankheiten wie der Lepra, die grundsätzlich unheilbar seien; zweitens, wenn der Patient eine mögliche kausale, kurative Behandlung ablehne oder die ärztlichen Anweisungen nicht befolge; und drittens, wenn die kurative Behandlung größeren Schaden anrichten würde als die Krankheit selbst.

Die älteste bisher bekannte Quelle, in der ausdrücklich von Palliation gesprochen wird, findet sich bei dem Lehrer Guy de Chauliacs, Henri de Mondeville‚ Lehrer der Anatomie und Chirurgie in Montpellier und Leibarzt Philipps des Schönen: Wenn schädliche Ursachen nicht gefunden werden könnten, sollte Leidenslinderung (Pauliation) erfolgen: »Et se [les choses nuisibles] ne puent [peuvent] estre ostées, soit faite pauliation.«9

Die Wiedereinführung des Begriffs palliativ in die moderne Medizin als besondere Form der Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen ist auf Balfour Mount zurückzuführen. Der kanadische Urologe benannte 1973 erstmals eine Krankenstation in Montreal als Palliative Care Unit, um damit die Besonderheit dieser Station zu charakterisieren, die sich speziell der Behandlung sterbender und an weit fortgeschrittenen onkologischen Erkrankungen leidender Menschen widmete. Wenige Monate zuvor hatte er das St. Christopher Hospice in London besucht, eine Einrichtung, die von Cicely Saunders 1967 speziell für die Betreuung sterbender Menschen gegründet worden war. Da im Unterschied zu dem englischen Wort hospice das gleiche Wort im Französischen für Einrichtungen zur Pflege alter und sterbender Menschen negativ besetzt war, suchte Balfour Mount nach einem anderen Begriff und entdeckte dabei das im Sinne von »lindern« in der Medizin selten gebrauchte und zum damaligen Zeitpunkt kaum bekannte Wort »palliativ« wieder – auch um damit zu verdeutlichen, dass es in der Palliative Care um ein umfassendes Betreuungskonzept für die vielfältigen Probleme bei Sterbenden geht.

Nach der im Jahr 2002 revidierten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Palliative Care oder Palliativmedizin ein »Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen.«10 Dies geschieht durch »Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art«. Nicht Lebensverlängerung um jeden Preis ist das Ziel, sondern qualitative Lebensverbesserung: »Palliativmedizin bedeutet nicht, dem Leben bei fortgeschrittenen Erkrankungen mehr Zeit, sondern der verbleibenden Zeit mehr Leben zu geben.«11

Palliative Care und Hospizbewegung sind Schwestern, die sich ergänzen. Während Palliative Care eher die professionellen Aufgaben umschreibt, umfasst die Hospizbewegung vorrangig ein ehrenamtliches Engagement mit dem Ziel, das Sterben wieder mehr in das gesellschaftliche Leben und Miteinander zu integrieren. Die Hospizidee ist ähnlich alt wie der palliative Ansatz in der Medizin. So gab es wohl schon im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. in Syrien Gasthäuser, Xenodochions, die sich der Betreuung Kranker und Sterbender widmeten, wobei die Pflege der Sterbenden im Vordergrund stand. Am bekanntesten ist das von der Patriziersfrau Fabiola im frühchristlichen Rom Ende des 4. Jahrhunderts gegründete Hospiz zur Pflege von aus Afrika heimkehrenden siechen Pilgern, das als ein erster Vorläufer eines Krankenhauses angesehen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch/Inhalt2
Impressum4
Inhaltsverzeichnis5
Vorbemerkung des Herausgebers7
Einleitung9
1. Palliativ: Geschichte eines Wortes und einer Idee21
2. Intensivmedizin und Palliativmedizin – Widerspruch oder Ergänzung?41
3. Tötung auf Verlangen, ärztliche Beihilfe zum Suizid und Palliativmedizin – eine medizinische und ethische Herausforderung64
4. Respekt vor Autonomie – das Recht des Schwächeren und die Dominanz des Stärkeren97
5. Essen und Trinken bis zum Abwinken – wie viel Nahrung braucht der Mensch?120
6. Schmerz bei Sterbenskranken – phänomenologische und therapeutische Aspekte138
7. Scham, Ekel und Schuld am Lebensende154
8. Sterbensangst und welcher Tod ist der beste?171
9. Zeit im Angesicht des Todes186
10. Was erlebt ein Mensch, wenn er stirbt? Gedanken zum Nahtodphänomen196
11. Zur Bedeutung der Hoffnung in der Medizin210
12. Humor bei Sterbenden223
13. Trauer, Rituale und Angehörige237
14. Wie ich sterben will – was ist mein guter Tod?251
1. Wissen, wann der Tod kommt, und verstehen, was im Sterben zu erwarten ist251
2. Sterben können, wenn die Zeit gekommen ist, und keine sinnlose Lebensverlängerung erleiden253
3. Die Kontrolle über das Geschehen behalten256
4. Würde und Privatsphäre respektieren257
5. Gute Behandlung von Schmerzen und anderen Symptomen260
6. Wählen können, wo man sterben möchte (zu Hause oder anderswo)261
7. Alle Informationen bekommen264
8. Spirituelle und emotionale Unterstützung266
9. Möglichkeiten der Hospizbetreuung haben – nicht nur im Krankenhaus268
10. Bestimmen können, wer beim Ende dabei sein soll270
11. Vorausbestimmen können, welche Wünsche respektiert werden sollen272
12. Zeit haben für den Abschied275
Dank277
Anhang278
Literatur zum Weiterlesen278
Literatur und Quellen281

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