Neubeginn Niger (S. 113-126)
Wenn die Erinnerung den Schmerz eines Verlustes unerträglich werden lässt, dann sollte man etwas suchen, das außerhalb der Relationen des Bisherigen liegt. Etwas, das größer ist, höher, tiefer und wilder. So erhält die Erinnerung kein vertrautes Stichwort mehr, und die Sehnsucht hört auf, unerträglich zu sein. Dennoch versuche ich oft, Details des Unvergleichlichen in den Rahmen des Bekannten zu ziehen – ein Menschenfluch oder eine Elementarstrategie, um Neues zu begreifen? Wir ziehen dieses Neue herüber ins Vertraute, bis es uns irgendwann ruckartig und endgültig hinüberzieht und Geborgenheit im Neuen gibt. Blicken wir von dort zurück, so verwundern uns die Grenzen des Bisherigen, und die Schiksalsbefohlenheit, mit der wir sie zur Kenntnis genommen haben.
Nach einem Tag und einer Nacht in Flugzeugen heute früh Agadez. Eine Landepiste mit Hangar und Wartehalle, und am Rand der Rollbahn ein einsamer Doppeldecker. Noch nie so viele Fliegen an einem einzigen Weihnachtsmorgen. Mit dem Geländewagen nach Norden ins Aïr-Gebirge. Während der Rast am Rand des Lagers ein kleiner Bub mit staubigem Haar. Er hält sich die Augen zu, damit keiner ihn sieht. Weiter nordostwärts, Oase Dabaga. Alte Landrover 88 ohne Nummernschilder und ohne Reifenprofil, aber mit rammelvollen Dachträgern. Am Weg ein Grab – kein Name, nur ein paar Steine, die anders liegen als der Rest – genug für jene, die die Erinnerung bewahren. Salzkarawanen von Bilma kommen durch.
Ein etwa 12jähriger hält sich an den Fixierungsleinen der Salzladung an der Seite eines Kamels – aber er geht, wenn er auch hinkt, und reitet nicht, wahrscheinlich 16 Stunden am Tag. Wenn die Kamele nicht mehr aufstehen können, dann füllt man ihre Nüstern mit Wasser – in der Panik überwindet sich die Erschöpfung und es geht weiter. Drei Salzbrote aus Bilma sind zwei Ziegen oder hundert Kilo Hirse wert, fünfzehn Salzbrote ein Kamel. Hier ist wache Aufmerksamkeit gegenüber jeder Regung der Natur – nicht im Geist der Widersetzung, sondern einer Verinnerlichung ihrer Ordnung. Die Reihenfolge des Erwachens am Rand einer Oasenstadt: Zuerst die Hähne, dann die Mulis, dann der Muezzin – und dass man selber aufstehen sollte, weiß man, wenn um den Schlafsack sich ein Rudel Kinder versammelt hat. Berge, bedeckt mit Geröll aus Lavagestein – in diesem Teil des Aïr-Gebirges porös wie Riesenschwämme. Hier hat alles seine denkbar letzte Größe, und man meint selber ein wenig zu wachsen. Alles Zögerliche und die Bereitschaft zur Klage hören auf. Wieder das musikalische Plaudern der Beduinen, während sie die Abendmahlzeit zubereiten. Es ist wie ein Lagerfeuer neben dem Lagerfeuer. Einfach, warm und schön.
Es gibt die innere Gewißheit, den Ort gefunden zu haben, der die wortlos stimmige äußere Entsprechung des eigenen Fühlens ist – dort hört das Bedürfnis nach Gemeinschaft auf, stark und drängend zu sein, ja selbst die Sehnsucht nach Liebe. Dieses Empfinden habe ich hier zwischen Magmakesseln und Vulkanstümpfen. Es ist ein konzentriertes Glück ohne jenen Jubel, der zuletzt immer verstummt in Betretenheit. In der Wüste kommt die Anmut aus dem Herzen, bei uns kommt sie mehrheitlich aus dem Spiegel. Und die Anmut von Händen und Armen scheint hier überhaupt entstanden zu sein. Sie stammt aus der Not, die Augen zu beschatten und dem Kopf eine Stütze zu geben, aus den vielen kleinen Handgriffen, die nie wie Arbeit aussehen, und aus der stillen Verbundenheit der Frau mit ihren Kindern. Federbruch an der Hinterachse auf dem Weg durchs Aïr-Gebirge mit Ziel Timia.