PROLOG
Aufbruch vor Tag
Warum schreibt einer? Womit hat er sein Leben verbracht? Was hat ihn einen Weg geführt, auf dem er kein Glück fand und der sich jetzt zum Ende neigt? Wo liegen die Ursprünge eines Menschen und dessen, was er getan hat? Je näher das endgültige Dunkel rückt, desto drängender werden die Fragen, desto unausweichlicher die Suche nach einer Antwort. Viel Zeit bleibt nicht mehr, und bald ist es Nacht. Wo aber wäre diese Antwort zu finden? Je dichter die Finsternis, desto tiefer taucht der Blick zurück in die fernsten Fernen der Vergangenheit, in die Anfänge eines Lebens, das fast vorüber ist.
Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Schreibend hat er sein Leben gelebt und schreibend erlebt er sein Ende. Und nur schreibend gelingt es ihm, sich jenen Fragen zu stellen, die er beantworten muss, denn bald ist es zu spät. Die Worte tasten sich zurück in eine dunkle Ferne, in der es keine Worte gibt, wo aber der Ursprung all dessen liegt, was der Mann je geschrieben hat. Jetzt oder niemals muss er finden, wonach er sucht. Ein alter Mann sitzt im Hause seiner Kindheit am Tisch und tastet mit Worten nach den frühesten Anfängen seiner selbst. Er schreibt.
»Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gefühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum.
Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: Es waren Klänge.
Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr.
Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes.
Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung.
Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten, und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen.
Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und zu Grunderichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren.
Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das ›Mam‹ nannte.
Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.«
Im September 1866, nur wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod, war Adalbert Stifter nach langer Zeit noch einmal zurückgekehrt in sein bäuerliches Geburtshaus im böhmischen Oberplan. Hier, am äußersten Rande seiner Lebenszeit und im Angesicht der Orte von Kindheit und Jugend, entstanden jene Seiten, die wahrhaft einzigartig dastehen in der Weltliteratur. Gibt es jemanden, dem gelungen wäre, tiefer einzudringen in die eigenen Anfänge? Denn es sind ja nicht einfach Kindheitserinnerungen, was hier niedergeschrieben wurde, es sind tastende Schritte in einen Bereich, der noch vor dem eigentlichen Erwachen des Bewusstseins liegt. Ein Bereich diesseits von Worten und Begriffen, diesseits der gliedernden und ordnenden Vernunft. Davon gibt bereits die Sprache dieser Aufzeichnungen Zeugnis: »Finsternis« und »Nichts«, das »Fächelnde« und das »Schwimmen«, schon dies unpersönliche »Es« sind Versuche, das Begriffslose in den ersten Lebenserfahrungen, das Gestaltlose, Wortlose frühester Eindrücke mit dem einzigen festzuhalten, was dem Erwachsenen zur Verfügung steht – mit Worten.
Stifters Sätze sind Umkreisungen, sind suchender Zugriff auf etwas, was sich niemals erfassen lässt, weil Worte die Wortlosigkeit dieser »Urerinnerungen« zwangsläufig aufheben. Unglaubhaft mag scheinen, dass diese verschwimmenden Bilder, die bis in die ersten Lebenswochen und -monate des Kindes zurückreichen müssen, auf einer tatsächlichen Erinnerung des alten Mannes beruhen; noch unwahrscheinlicher jedoch, Stifter könnte in diesen Blättern, an deren Veröffentlichung er nicht gedacht hat, seiner Phantasie freien Lauf gelassen haben. Zu ernst war die existentielle Situation; zu deutlich und drängend stand ihm das Ende vor Augen: Erschöpft von Krankheiten und Depression, ankämpfend gegen den immer stärker werdenden Sog in den Selbstmord, von einem Ort zum anderen eilend, ruhlos und durch wiederkehrende Panikzustände getrieben, versuchte er sein Äußerstes, sich Klarheit zu schaffen und Rechenschaft abzulegen über das eigene Leben. Für literarische Posen war da kein Raum.
Es war nicht wenig, was er in den Tiefen seines Gedächtnisses fand. Die erste Prägung hat Stifters Leben tatsächlich so bestimmt, wie er geschrieben hatte: »der erste Druck in das weiche Herz giebt ihm meist seine Gestalt für Lebenlang«, und bereits in der Morgenfrühe seiner Charakterbildung findet sich als formgebende Gestalt derselbe grundlegende, sein ganzes Wesen durchdringende Gegensatz. Hier ist das Kind »Wonne und Entzücken« unterworfen, dort »Entsetzlichem und Zugrunderichtendem«, und auch das Glück erlebt es als überlegene Macht, »gewaltig fassend, fast vernichtend«. Hier »Jammervolles, Unleidliches«, dort »Süßes, Stillendes«. Das Bewusstsein von einer immerfort drohenden »fürchterlichen Wendung der Dinge«, wie es später in einer der frühen Erzählungen heißen wird, durchdringt sein Leben und Werk ebenso, wie Trost und Geborgenheit zumindest in der Sehnsucht erhalten bleiben. Der Drang zur Ausgeglichenheit, zur versöhnenden Lösung der Widersprüche ist da – stärker und stärker jedoch zeigt sich die Macht des Dunklen, des Bedrohlichen und Schweren. Die Wirklichkeit der Welt wird bereits in diesen frühesten Momenten als elementare Gewalt der Dinge erfahren, als Widerstand und hinabziehende Schwerkraft: »Merkwürdig ist es, daß in der allerersten Empfindung meines Lebens etwas Äußerliches war, und zwar etwas, das meist schwierig und sehr spät in das Vorstellungsvermögen gelangt, etwas Räumliches, ein Unten. Das ist ein Zeichen, wie gewaltig die Einwirkung gewesen sein muß, die jene Empfindung hervorgebracht hat.«
Eindringlicher lässt sich in Worten das Erwachen eines Bewusstseins von der äußeren, der materiellen Welt kaum nachzeichnen – eine Außenwelt, die vor allem als Grenze erlebt wird, als Macht, als eine dem Individuum widerstehende Kraft. Und etwas von dieser Haltung hat sich Stifter ein Leben lang bewahrt: Es ist Naivität im engsten Sinne – ein Blick auf die Welt immer wieder so, als wäre es der erste, als wäre das Äußere immer wieder neu, immer wieder das Niegesehene. »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten. Dies ist der Grund und die Entschuldigung, daß ich die folgenden Worte aufschreibe. Sie sind zunächst für mich allein.«
Diese Naivität aber hat etwas Doppelbödiges. Zum einen erblickt man hier das Bildnis eines alten Mannes, der, angelangt am Ende seiner Tage, sich selbst gegenüber zugibt, vor dem eigenen Leben als vor dem Fremdesten zu stehen, vor dem Unbegreiflichsten überhaupt. Zum anderen aber will er diesem unbegreiflichen Leben die Einfachheit des Kornhalms zusprechen. Das Einfache ist nicht weniger unbegreiflich als das Komplizierte, und die einzige Haltung, die Stifter dieser unbegreiflichen Einfachheit angemessen erscheint, ist die reglose Kontemplation. Damit schließt er die Augen vor der Erkenntnis, dass man sich dem eigenen Leben gegenüber nicht als unbeteiligter Betrachter verhalten kann. Und Stifters Leben wuchs ganz und gar nicht einfach und gerade, in der organischen Einheit einer Pflanze; es war das Leben eines Menschen, der in seinem Geist die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz erfuhr und sich in dem vergeblichen Bemühen aufrieb, die dunklen Gewalten im eigenen Inneren zu beherrschen. An keiner anderen Stelle, weder im Werk noch in den Briefen, hat Stifter sich so eindringlich klargemacht, dass jenes »Entsetzliche und Zugrunderichtende« in seinem Leben nicht einfach Folge eines äußerlichen Zufalls war, sondern angelegt in den Grundzügen seines Charakters. Was das Kind in der Morgendämmerung seines Daseins erfuhr, hat es geprägt für ein ganzes Leben.
Der naive, kindliche Zug in Stifters Wesen ist unverkennbar; um den unerfüllten Kinderwunsch kreisen ein Leben lang seine Gedanken, und nur wenige Autoren gibt es, in deren Bilderwelt das Kind eine so herausgehobene Stellung einnimmt. Viele seiner Erzählungen haben Kinder zu Hauptfiguren; eine seiner bekanntesten Sammlungen, Bunte Steine, ist ausdrücklich Kindern zugedacht, und Kindheitserinnerungen bestimmen häufig auch die Charakterzüge seiner erwachsenen Gestalten. In dem Menschen Adalbert Stifter offenbarte sich diese Naivität immer wieder als die Unfähigkeit, mit den Wechselfällen...