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E-Book

Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge

Biographie

AutorWolfgang Matz
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl392 Seiten
ISBN9783835329041
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Matz' Stifter-Biographie gilt als Standardwerk - jetzt liegt sie in einer gründlich bearbeiteten und erweiterten Neuausgabe vor. »Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet', so schrieb Thomas Mann in der Entstehung des Doktors Faustus, und damit zählte er zu denjenigen, die eine neue Beschäftigung mit dem lange so verkannten Autor angestoßen haben. Als Idylliker abgetan, nach seinem Tod fast vergessen, wurde Adalbert Stifter im 20. Jahrhundert als einer der größten Erzähler seiner Zeit wiederentdeckt. Wolfgang Matz' Buch ist das Standardwerk zu Leben und Werk Adalbert Stifters. Matz folgt den Lebensspuren Stifters und zeichnet gleichzeitig die Entwicklung seines Erzählens nach: Von den frühen, an romantischen Vorbildern orientierten Versuchen, die Ungereimtheiten des Lebens literarisch zu verarbeiten, über das Streben nach Klassizität bis hin zu dem großen Epochenroman »Der Nachsommer' und dem spröden, von den Zeitgenossen nicht mehr verstandenen Spätwerk.

Wolfgang Matz, geb. 1955, lebte von 1987 bis 1995 in Poitiers (Frankreich), wo er am Institut für deutsche Sprache und Literatur lehrte und als Literaturübersetzer tätig war. Seitdem arbeitet er als Verlagslektor in München. Als Übersetzer französischer Prosa und Lyrik wurde er mit dem Paul Celan-und dem Petrarca-Preis ausgezeichnet.

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Leseprobe

PROLOG

Aufbruch vor Tag


Warum schreibt einer? Womit hat er sein Leben verbracht? Was hat ihn einen Weg geführt, auf dem er kein Glück fand und der sich jetzt zum Ende neigt? Wo liegen die Ursprünge eines Menschen und dessen, was er getan hat? Je näher das endgültige Dunkel rückt, desto drängender werden die Fragen, desto unausweichlicher die Suche nach einer Antwort. Viel Zeit bleibt nicht mehr, und bald ist es Nacht. Wo aber wäre diese Antwort zu finden? Je dichter die Finsternis, desto tiefer taucht der Blick zurück in die fernsten Fernen der Vergangenheit, in die Anfänge eines Lebens, das fast vorüber ist.

Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Schreibend hat er sein Leben gelebt und schreibend erlebt er sein Ende. Und nur schreibend gelingt es ihm, sich jenen Fragen zu stellen, die er beantworten muss, denn bald ist es zu spät. Die Worte tasten sich zurück in eine dunkle Ferne, in der es keine Worte gibt, wo aber der Ursprung all dessen liegt, was der Mann je geschrieben hat. Jetzt oder niemals muss er finden, wonach er sucht. Ein alter Mann sitzt im Hause seiner Kindheit am Tisch und tastet mit Worten nach den frühesten Anfängen seiner selbst. Er schreibt.

»Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gefühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum.

Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: Es waren Klänge.

Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr.

Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes.

Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung.

Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten, und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen.

Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und zu Grunderichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren.

Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das ›Mam‹ nannte.

Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.«

Im September 1866, nur wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod, war Adalbert Stifter nach langer Zeit noch einmal zurückgekehrt in sein bäuerliches Geburtshaus im böhmischen Oberplan. Hier, am äußersten Rande seiner Lebenszeit und im Angesicht der Orte von Kindheit und Jugend, entstanden jene Seiten, die wahrhaft einzigartig dastehen in der Weltliteratur. Gibt es jemanden, dem gelungen wäre, tiefer einzudringen in die eigenen Anfänge? Denn es sind ja nicht einfach Kindheitserinnerungen, was hier niedergeschrieben wurde, es sind tastende Schritte in einen Bereich, der noch vor dem eigentlichen Erwachen des Bewusstseins liegt. Ein Bereich diesseits von Worten und Begriffen, diesseits der gliedernden und ordnenden Vernunft. Davon gibt bereits die Sprache dieser Aufzeichnungen Zeugnis: »Finsternis« und »Nichts«, das »Fächelnde« und das »Schwimmen«, schon dies unpersönliche »Es« sind Versuche, das Begriffslose in den ersten Lebenserfahrungen, das Gestaltlose, Wortlose frühester Eindrücke mit dem einzigen festzuhalten, was dem Erwachsenen zur Verfügung steht – mit Worten.

Stifters Sätze sind Umkreisungen, sind suchender Zugriff auf etwas, was sich niemals erfassen lässt, weil Worte die Wortlosigkeit dieser »Urerinnerungen« zwangsläufig aufheben. Unglaubhaft mag scheinen, dass diese verschwimmenden Bilder, die bis in die ersten Lebenswochen und -monate des Kindes zurückreichen müssen, auf einer tatsächlichen Erinnerung des alten Mannes beruhen; noch unwahrscheinlicher jedoch, Stifter könnte in diesen Blättern, an deren Veröffentlichung er nicht gedacht hat, seiner Phantasie freien Lauf gelassen haben. Zu ernst war die existentielle Situation; zu deutlich und drängend stand ihm das Ende vor Augen: Erschöpft von Krankheiten und Depression, ankämpfend gegen den immer stärker werdenden Sog in den Selbstmord, von einem Ort zum anderen eilend, ruhlos und durch wiederkehrende Panikzustände getrieben, versuchte er sein Äußerstes, sich Klarheit zu schaffen und Rechenschaft abzulegen über das eigene Leben. Für literarische Posen war da kein Raum.

Es war nicht wenig, was er in den Tiefen seines Gedächtnisses fand. Die erste Prägung hat Stifters Leben tatsächlich so bestimmt, wie er geschrieben hatte: »der erste Druck in das weiche Herz giebt ihm meist seine Gestalt für Lebenlang«, und bereits in der Morgenfrühe seiner Charakterbildung findet sich als formgebende Gestalt derselbe grundlegende, sein ganzes Wesen durchdringende Gegensatz. Hier ist das Kind »Wonne und Entzücken« unterworfen, dort »Entsetzlichem und Zugrunderichtendem«, und auch das Glück erlebt es als überlegene Macht, »gewaltig fassend, fast vernichtend«. Hier »Jammervolles, Unleidliches«, dort »Süßes, Stillendes«. Das Bewusstsein von einer immerfort drohenden »fürchterlichen Wendung der Dinge«, wie es später in einer der frühen Erzählungen heißen wird, durchdringt sein Leben und Werk ebenso, wie Trost und Geborgenheit zumindest in der Sehnsucht erhalten bleiben. Der Drang zur Ausgeglichenheit, zur versöhnenden Lösung der Widersprüche ist da – stärker und stärker jedoch zeigt sich die Macht des Dunklen, des Bedrohlichen und Schweren. Die Wirklichkeit der Welt wird bereits in diesen frühesten Momenten als elementare Gewalt der Dinge erfahren, als Widerstand und hinabziehende Schwerkraft: »Merkwürdig ist es, daß in der allerersten Empfindung meines Lebens etwas Äußerliches war, und zwar etwas, das meist schwierig und sehr spät in das Vorstellungsvermögen gelangt, etwas Räumliches, ein Unten. Das ist ein Zeichen, wie gewaltig die Einwirkung gewesen sein muß, die jene Empfindung hervorgebracht hat.«

Eindringlicher lässt sich in Worten das Erwachen eines Bewusstseins von der äußeren, der materiellen Welt kaum nachzeichnen – eine Außenwelt, die vor allem als Grenze erlebt wird, als Macht, als eine dem Individuum widerstehende Kraft. Und etwas von dieser Haltung hat sich Stifter ein Leben lang bewahrt: Es ist Naivität im engsten Sinne – ein Blick auf die Welt immer wieder so, als wäre es der erste, als wäre das Äußere immer wieder neu, immer wieder das Niegesehene. »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten. Dies ist der Grund und die Entschuldigung, daß ich die folgenden Worte aufschreibe. Sie sind zunächst für mich allein.«

Diese Naivität aber hat etwas Doppelbödiges. Zum einen erblickt man hier das Bildnis eines alten Mannes, der, angelangt am Ende seiner Tage, sich selbst gegenüber zugibt, vor dem eigenen Leben als vor dem Fremdesten zu stehen, vor dem Unbegreiflichsten überhaupt. Zum anderen aber will er diesem unbegreiflichen Leben die Einfachheit des Kornhalms zusprechen. Das Einfache ist nicht weniger unbegreiflich als das Komplizierte, und die einzige Haltung, die Stifter dieser unbegreiflichen Einfachheit angemessen erscheint, ist die reglose Kontemplation. Damit schließt er die Augen vor der Erkenntnis, dass man sich dem eigenen Leben gegenüber nicht als unbeteiligter Betrachter verhalten kann. Und Stifters Leben wuchs ganz und gar nicht einfach und gerade, in der organischen Einheit einer Pflanze; es war das Leben eines Menschen, der in seinem Geist die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz erfuhr und sich in dem vergeblichen Bemühen aufrieb, die dunklen Gewalten im eigenen Inneren zu beherrschen. An keiner anderen Stelle, weder im Werk noch in den Briefen, hat Stifter sich so eindringlich klargemacht, dass jenes »Entsetzliche und Zugrunderichtende« in seinem Leben nicht einfach Folge eines äußerlichen Zufalls war, sondern angelegt in den Grundzügen seines Charakters. Was das Kind in der Morgendämmerung seines Daseins erfuhr, hat es geprägt für ein ganzes Leben.

Der naive, kindliche Zug in Stifters Wesen ist unverkennbar; um den unerfüllten Kinderwunsch kreisen ein Leben lang seine Gedanken, und nur wenige Autoren gibt es, in deren Bilderwelt das Kind eine so herausgehobene Stellung einnimmt. Viele seiner Erzählungen haben Kinder zu Hauptfiguren; eine seiner bekanntesten Sammlungen, Bunte Steine, ist ausdrücklich Kindern zugedacht, und Kindheitserinnerungen bestimmen häufig auch die Charakterzüge seiner erwachsenen Gestalten. In dem Menschen Adalbert Stifter offenbarte sich diese Naivität immer wieder als die Unfähigkeit, mit den Wechselfällen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Umschlag1
Titel4
Inhalt8
Prolog. Aufbruch vor Tag12
Erster Teil. Auf dem Weg18
Erstes Kapitel. Kindheit im böhmischen Dorf20
Zweites Kapitel. Ein Zögling in Kremsmu?nster34
Drittes Kapitel. In die Wildnis der Stadt54
Viertes Kapitel. Éducation sentimentale70
Zweiter Teil. Prekäres Gleichgewicht96
Erstes Kapitel. Der Dichter greift zur Feder98
Der Condor – Feldblumen – Das Haidedorf101
Zweites Kapitel. Eheszenen117
Drittes Kapitel. Waldphantasien eines Städters132
Der Hochwald134
Wien und die Wiener142
Viertes Kapitel. In den Wohnungen der Vorfahren147
Die Mappe meines Urgroßvaters150
Die Narrenburg156
Fu?nftes Kapitel. Sonnenfinsternis162
Abdias163
Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842167
Das alte Siegel168
Brigitta172
Sechstes Kapitel. Bildnis eines Klassikers179
Studien187
Siebentes Kapitel. Der unfruchtbare Feigenbaum197
Der Hagestolz198
Der Waldsteig203
Die Schwestern213
Der beschriebene Tännling216
Achtes Kapitel: Figuren der Einsamkeit219
Zuversicht220
Der Waldgänger224
Prokopus235
Neuntes Kapitel: Revolution!240
Dritter Teil: Auf des Messers Schneide260
Erstes Kapitel: Das sanfte Gesetz262
Die Pechbrenner263
Bunte Steine272
Kalkstein276
Bergkristall277
Kazensilber – Turmalin278
Zweites Kapitel: Ein Nachsommertagtraum282
Der Nachsommer294
Drittes Kapitel: Obstruktionen302
Nachkommenschaften315
Viertes Kapitel: Die Große Geschichte319
Witiko325
Der Waldbrunnen334
Fu?nftes Kapitel: In die weiße Finsternis339
Der Kuß von Sentze – Der fromme Spruch345
Die Mappe meines Urgroßvaters348
Aus dem bairischen Walde352
Epilog: Über die Berge358
Anhang364
Nachwort zur Neuausgabe366
Literatur und Biographie370
Nachweise375
Bibliographie384
Register389
Impressum393

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