Einführung
Der Unterscheidung von Geist und Macht wohnt etwas Willkürliches inne. Denn natürlich kennen wir alle geistreiche Politiker und machtbewusste Intellektuelle. Und doch überwiegen die Unterschiede. Worauf ist das zurückzuführen?
Es liegt daran, dass die politisch Handelnden nach der Macht streben. Es bleibt zu hoffen, dass sie es tun, um einer besseren Gesellschaft Gestalt zu geben. Natürlich geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, wie es in unserer Verfassung heißt. Aber es kann sie nicht wahrnehmen, es delegiert sie. In der Regel bündelt sich die Macht in der politischen Klasse. In ihr gibt es natürlich auch Intellektuelle. Winston Churchill war dafür als Politiker und Schriftsteller ein herausragendes Beispiel. 1953 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Ausgezeichnet wurde sein monumentales Werk zum Zweiten Weltkrieg.
Vita activa und contemplativa
Der eigentliche Raum des Politikers ist und bleibt jedoch die »Vita activa«, der Raum des tätigen Lebens, wie ihn Hannah Arendt bezeichnete, und nicht die »Vita contemplativa«, der Raum des freien Denkens. Hier ist vor allem der Intellektuelle zu Hause. Beide Räume schließen einander nicht grundsätzlich aus. Doch die in ihnen geltenden Rahmenbedingungen sind unterschiedlich. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dies vor allem bei der Wahrnehmung von Verantwortung. Der Politiker ist vor allem anderen gegenüber verantwortlich, der Intellektuelle vor allem sich selbst. Der verantwortlich handelnde Politiker ist deshalb in starkem Maße auf Kompromisse angewiesen. Um die Macht zu erwerben und zu behaupten, sucht er nach einem Ausgleich divergierender Interessen, die in jeder Gesellschaft vorhanden sind. Dies gilt für die Demokratie mehr als für die Diktatur.
Dem Intellektuellen bleibt der Raum des Handels von Ausnahmesituationen abgesehen verschlossen. Kompromisse sind ihm suspekt, weil sie der Radikalität und Rationalität seines Denkens entgegenstehen. Darin unterscheidet sich der Intellektuelle von der immer einflussreicher werdenden Gruppe der Intelligenz. Sie kennzeichnet spezifische Fähigkeiten, die sie in Berufen anwenden als Ärzte in den großen Kliniken, als Ingenieure in den modernen Entwicklungszentren, als Juristen in den Bürokratien oder als Wissenschaftler in den großen Forschungslaboren. Hier geht es vor allem um drei Dinge: Kompetenz, Effizienz und Ertrag. Darum geht es den Intellektuellen nicht. Ihnen geht es um Werte und Standpunkte, um den Menschen als kulturelles, soziales und politisches Wesen. Sie richten sich nicht an eine kleine Gruppe von Experten, sondern an alle. Ihr Deutungsraum ist das alltägliche Leben des Menschen. Sie wollen es verbessern, zumindest aber erträglicher gestalten.
Mit diesem Ziel treten sie in Konkurrenz zur politischen Klasse, vor allem aber der politischen Elite, die in der Öffentlichkeit agiert. In der Demokratie will auch sie das gute Leben gestalten. Selbst wenn die Vorstellungen darüber nicht auseinandergehen, unterscheiden sich die Wege dorthin. Die Intellektuellen suchen den direkten Weg, die Politiker den gangbaren. In den Augen der Intellektuellen handelt es sich dabei nicht selten um einen vermeidbaren Umweg, wenn nicht um einen Irrweg. Er wurde nach ihrer Meinung in Deutschland im 20. Jahrhundert häufig beschritten, in den Diktaturen wie in den Demokratien.
Intellektuelle und politische Elite
Im Gegensatz zur politischen Elite handeln die Intellektuellen nicht organisiert. Sie treten in der Regel als Einzelne auf und sprechen zunächst nur für sich. Darin liegt eine Stärke. Sie sollen und dürfen die Dinge so darlegen, wie sie es für richtig halten. Doch dürfen sie in der Wahrnehmung dieser Freiheit bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Ihre Meinungsfreiheit endet dort, wo sie die Persönlichkeitsrechte anderer verletzen. In ihrer Stärke liegt auch ihre Schwäche. Im Gegensatz zur politischen Elite, die ja zuvörderst für andere sprechen soll, haben sie es schwer, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Gelingt es ihnen als Einzelne oder im Verbund mit anderen, sich Gehör zu verschaffen, sind die Intellektuellen gegenüber der politischen Elite nicht ohnmächtig. Sie können sie herausfordern. Dies gilt insbesondere für die wortmächtigste Gruppe unter ihnen: die Schriftsteller. Gemeinsam oder mit anderen Wissenschaftlern, Künstlern und Repräsentanten gesellschaftlicher Kräfte verfügen sie über Einfluss. Sie können das Denken und Handeln anderer beeinflussen. Sie können verbreiteten Ansichten widersprechen, ja im äußersten Fall auch gegen politische Entscheidungen Widerstand leisten. Dies kennzeichnet das besondere Verhältnis der Unmächtigen zu den Mächtigen. [1] Ihre Bühne ist, wie die der Macht, die Öffentlichkeit.
Öffentliches Bewusstsein
Gelingt es im Zusammenspiel mit den Medien, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu gewinnen, dann können sie kurz-, aber auch langfristig das öffentliche Bewusstsein erreichen, beeinflussen und verändern. Deshalb sind die Intellektuellen nicht ohnmächtig, sondern allenfalls unmächtig, weil ihnen die klassischen Instrumente staatlicher Gewaltausübung nicht zur Verfügung stehen. In welchem Maße es den Unmächtigen gelungen ist, die Macht herauszufordern, ihr die Stirn zu bieten oder mit ihr im Bunde zu stehen und sie zu stützen, darüber vermag ein Blick in die deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit vom Absolutismus bis zur Gegenwart reichhaltig Auskunft zu geben.
Zu den prominenten Beispielen, die der Macht aus den unterschiedlichsten Gründen trotzten, zählten u. a. Martin Luther, Friedrich Schiller, Georg Büchner, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Georg Herwegh, Heinrich Heine oder auch Karl Marx. Die hier Genannten stellen nur eine kleine Auswahl aus dem großen, kaum überschaubaren Kreis der politisch verfolgten Schriftsteller, Dichter und Denker, Künstler und Wissenschaftler in Deutschland dar. Auch handelt es sich dabei keineswegs um ein nur in deutschen Landen anzutreffendes Phänomen. Die Politik wurde der Kultur und Wissenschaft immer dann zum Verhängnis, wenn in Ausübung intellektueller Freiheit bis dahin gültige Dogmen, manches Mal auch nur Konventionen, in Frage gestellt wurden. Dabei ging es meistens um moralische oder politische Ansichten, die dem Staat oder der Kirche ein Dorn im Auge waren. Sie glaubten mit Hilfe der Zensur oder Verboten gängige Lehrmeinungen schützen zu müssen. Damit stellten sie nicht selten die Existenz der Betroffenen in Frage. Doch so schlimm und bedrohlich diese Sanktionen auch für den Einzelnen gewesen sein mögen, sie boten vor der Gründung des deutschen Reiches 1871 immer noch die Möglichkeit, in einen anderen deutschen Staat zu fliehen und dort unterzutauchen.
Weg ins Exil
Das 20. Jahrhundert eröffnete diese Möglichkeiten kaum mehr. Dafür ausschlaggebend war nicht nur die Überwindung der Kleinstaaterei, sondern die seitdem stetig gewachsenen Mittel der politischen Verfolgung, sei es innerhalb oder auch auf diplomatischem Wege außerhalb nationalstaatlicher Grenzen. Das Ausmaß der Brutalität und die Intensität der Repressionen nahmen zu. Verfolgungen endeten häufig nicht mehr an der Landesgrenze. Das galt insbesondere für das »Dritte Reich«, aber auch für die SED-Diktatur. Die Flucht ins Exil bedeutete in der Regel für den Schriftsteller nicht nur den Verlust der Heimat, sondern auch den Übertritt in einen anderen Kultur- oder Sprachraum. Anna Seghers, Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Hilde Domin und mit ihnen vor allem viele jüdische Künstler und Wissenschaftler mussten das nationalsozialistische Deutschland verlassen, um Repression, Verfolgung und Zuchthaus, ggf. sogar dem KZ zu entgehen. Viele flohen zunächst nach Österreich, um im deutschen Sprach- und Kulturraum zu bleiben. Mit dem Einmarsch Hitlers 1938 wurden sie jedoch gezwungen, weiterzuziehen. Die nächste Station im Exil stellte für viele Frankreich und nach seiner Besatzung durch die deutsche Wehrmacht und einer oft überstürzten Flucht über die Pyrenäen die Vereinigten Staaten von Amerika dar. Nur wenigen eröffnete sich auf Grund ihres internationalen Ansehens die Möglichkeit, Europa mit Hilfe Dritter organisiert zu verlassen. Zu ihnen zählten Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger oder auch Franz Werfel.
Den verfolgten Schriftstellern in der DDR blieb im Gegensatz dazu der Schritt in einen anderen Kultur- und Sprachraum erspart. Sie konnten, wenn auch nach dem Bau der Berliner Mauer nur mit behördlicher Genehmigung, von einem deutschen Staat in den anderen wechseln. Allein über hundert Schriftsteller verließen zwischen 1949 und 1989 die DDR. Hinzu kamen viele Wissenschaftler, Maler, Bildhauer, Schauspieler etc. Auch ihnen fiel diese Entscheidung keineswegs leicht. Sie verloren damit die ihnen vertraute Umgebung. Deshalb zögerten viele, diesen Schritt ins Ungewisse zu tun. Er kam in vielerlei Hinsicht einem Neuanfang gleich. Mit dem Wechsel von Ost nach West ging ihnen die unmittelbare Nähe zu den Menschen, den ihnen bekannten sozialen Räumen und damit auch ihr Thema verloren, das sie in ihren Arbeiten künstlerisch gestalteten. Und doch kam der Ausreise aus der DDR und der Ankunft in der Bundesrepublik eine andere Dimension zu als dem Gang in das Exil. Denn die Sprache und der vertraute Kulturraum blieben erhalten.
Schriftsteller und Staat
Die Mehrzahl der Schriftsteller diente vor dem 20. Jahrhundert dem Staat. Sie waren ihm beruflich verbunden. Sie...