Einleitung
Die in diesem Band vereinigten Aufsätze sind ein Querschnitt aus meiner fast vierzigjährigen Beschäftigung mit der Geschichte des Adels und der Elitenbildung in Deutschland. Die für diesen Band ausgewählten Aufsätze und Vorträge übergreifen mehr als zwei Jahrhunderte dieser Geschichte. Sie erheben – eigentlich unnötig, dies zu sagen – nicht den Anspruch, dieses inzwischen so vielfältig und produktiv gewordene Forschungsfeld in seiner Entwicklung und Gänze mit quasi-exemplarischen Texten zu repräsentieren. Mit dieser Auswahl sollen zum einen die Anfänge der modernen deutschen Adelsforschung in den 1980er und 1990er Jahren akzentuiert werden. Zum anderen stehen die Aufsätze für die schnell fortschreitende Dynamisierung und Ausdifferenzierung dieses Forschungsfeldes, zu dem die von mir herausgegebene Reihe „Elitenwandel in der Moderne“ und der Kreis von Historikern, die diese Reihe bis heute und fernerhin tragen, mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten kontinuierlich und nachhaltig beigetragen haben. Da das Profil des Berliner und Hallenser Beitrags zur modernen Adelsforschung in starkem Maße von meiner Arbeit als Hochschullehrer, Organisator, Teammitglied und Kollege mitgeprägt worden ist, sei hier ein kurzer Rückblick auf die nachhaltig prägenden Kontexte dieser Arbeit erlaubt.
Anfänge und Entwicklung der modernen deutschen Adelsforschung
Unter den Stationen (Bochum, Münster, Bielefeld, Essen, Berlin) meiner mehr als vier Jahrzehnte währenden Hochschullaufbahn waren ohne Zweifel Bielefeld und Berlin die prägendsten und wissenschaftlich ergiebigsten. Ohne die Bielefelder Jahre wäre ich weder zum Adel als Gegenstand sozial- und kulturgeschichtlicher Forschung gekommen noch zu der Art und Weise, wie ich seitdem Adelsforschung betrieben und dieses Forschungsfeld thematisch wie methodisch mit anderen fortentwickelt habe. Berlin verdanke ich insbesondere die Einsicht in das hohe, kreative Potenzial Generationen übergreifender intensiver Zusammenarbeit in Forscherteams, in den DFG-Projekten „Elitenwandel in der Moderne“ und „Adels-Autobiographien“ einerseits, dem Graduiertenkolleg Berlin-New York zur „Geschichte und Kultur der Metropolen“ andererseits.
Der „Bielefelder Schule“ ist in den vergangenen Jahren viel zugeschrieben und vorgeworfen worden. Für meine wissenschaftliche Arbeit waren zwei Bielefelder Erfahrungen von nachhaltiger Bedeutung: Einerseits die starke Faszination, die von den auf 1933 und seine Folgen ausgerichteten Thesen und Erklärungsansätzen des amerikanischen, in Berkeley lehrenden Emigranten Hans Rosenberg ausging, zumal diese von Hans Ulrich Wehler gegen die damaligen Traditionalisten des Faches, aber auch in der medialen Öffentlichkeit, sprachgewaltig in Stellung gebracht wurden. Ein Kernelement dieses liberal-sozialdemokratischen Struktur- und Prozesskonstrukts vom Deutschen Sonderweg war der „ostelbische Junker“, einer der Hauptakteure des Wegs in die deutsche Katastrophe, eine zwischen Imagination, Stereotypisierung und wissenschaftlich greifbarer Realität schwankende „Figur“ der deutschen Geschichte, die mich bis heute beschäftigt. Andererseits gab es in Bielefeld ein starkes Antidot gegen jede dogmatische Fixierung auf die hier präferierten analytischen Konzepte und Begriffe: das in den so genannten Freitagskolloquien praktizierte Verfahren einer konsequent agonalen internen Kritik, das nicht zuletzt zu einem Wettbewerb1 im Auffinden, Ausdiskutieren und Erproben stets neuer, wissenschaftlich ergiebiger Methoden, Theorien mittlerer Reichweite und gesamtgesellschaftlicher Erklärungsansätze führte, nicht nur von Marx bis Weber, sondern, für meine Studie zum katholischen Adel Westfalens wichtiger, von Schumpeter und Halbwachs bis zu Simmel.
Ebenso anregend wie nachhaltig wirksam war das großzügig budgetierte Bielefelder Programm an Gastvorträgen, zu denen gerade auch solche junge Historiker und Historikerinnen eingeladen wurden, die – wie zum Beispiel David Blackbourn und Geoff Eley – die zentralen Aussagen der „Bielefelder Schule“ besonders scharf kritisierten oder gar ablehnten. Für mich wurde so die Zusammenarbeit mit den in Bielefeld auftretenden Historikern des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, mit Hans Medick, Jürgen Schlumbohm, Peter Kriedte, David Sabean, Robert Berdahl und Heidi Rosenbaum, und – vermittelt über Göttingen – mit den Berlinerinnen Karin Hausen, Barbara Duden und Regina Schulte einerseits, den Wienern Michael Mitterauer, Reinhard Sieder, Josef Ehmer und Hannes Stekl andererseits von besonderer Bedeutung, weil durch sie schon früh familiensoziologische, historischanthropologische und mikrohistorische Perspektiven in meine Adelsstudien Eingang gefunden haben. Das führte im Grunde schon Ende der siebziger Jahre zu einer Sozialgeschichte des Adels in kulturgeschichtlicher Erweiterung sowie zur schrittweisen Abkehr von jeglichen strikt dualistischen Analysekonzepten und der Vorstellung eines eindeutig strukturierten, Jahrhunderte übergreifenden, linear-zielgerichtet auf Demokratisierung zuschreitenden Geschichtsprozesses, der jedoch in Deutschland angeblich durch schwerwiegende ständische Verwerfungen und Abweichungen vom „westlichen“ Normalweg gravierend gestört worden war. Das befreite vom Druck zu abstrakter Begriffssysteme und schützte vor einem Analysieren wie Erklären, das, von komplexen Theorievorgaben vorbestimmt, nicht selten auch simplifiziert wurde und allzu oft den zwischen Strukturen und Prozessen vermittelnden historischen Akteuren, ihren handlungsleitenden Werten, Deutungsmustern und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zu wenig Aufmerksamkeit einräumte. Das Gespür für individuelle Sinnhorizonte und Motive, insbesondere für abweichendes und alternatives Verhalten ging so leicht verloren. Dem freien Erzählen wurde die Luft zum Atmen genommen .
Meine Studie zum katholischen Adel Westfalens ergab auf der Grundlage einer Vielzahl gut geordneter Adelsarchive (die es für den altpreußischen Adel leider nicht mehr gibt) im Kontrast zur „Junkererzählung“ Hans Rosenbergs ein deutlich abweichendes Bild: Hier war der Adel aufgrund seiner festen Einbindung in die Führungspositionen der katholischen Laienbewegung, des politischen Katholizismus und der westfälischen Bauernverbandsbewegung schon um 1860 als politische wie gesellschaftliche Elite seiner Region voll anerkannt. Zwar lehnte er weitere Demokratisierungsschritte zumeist ab, akzeptierte aber die Parlamente als „Arenen der Elitenvergesellschaftung“ (Michael G. Müller) und trieb – wie Markus Raasch in seiner jüngst erschienenen Studie über den Zentrumsadel gezeigt hat2 – über diese den Modernisierungsprozess in zahlreichen Politikfeldern wirksam voran. Erst nach 1928 wechselte dann auch ein großer Teil dieses Adels ins autoritäre Lager über.
In den achtziger Jahren kam neue Dynamik in die Adelsforschung: Historiker west- und südwestdeutscher Universitäten (Elisabeth Fehrenbach, Volker Press, Lothar Gall, Christof Dipper, Bernd Wunder, Wolfgang von Hippel, Walter Demel u. a.) kritisierten die Preußen-Lastigkeit der bisherigen, überwiegend sozialgeschichtlichen Adelsforschung und brachten damit verstärkt den Adel des Rheinbündischen und „Dritten Deutschland“ auf die Forschungsagenda. Zugleich wuchs die Kritik an einer Sozialgeschichte, die mit ihren weit reichenden, auf generalisierbare Ergebnisse ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Theorien und abstrakten Begriffsarsenalen den Blick auf das historische Geschehen unzulässig zu verengen drohte. Kurz: die Suche nach neuen Wegen der Adelsforschung gewann an Momentum.
Die ersten Arbeitsschwerpunkte nach meinem Wechsel an die TU Berlin ergaben sich aus diesen Befunden und Kritiken: ein Resümee des bisher erreichten Forschungsstands, eine empirische Überprüfung der dem Rosenbergschen Junker-Narrativ zu Grunde liegenden Struktur- und Prozessaussagen sowie die thematische, konzeptuelle und begriffliche Fundierung einer Sozialgeschichte in kulturgeschichtlicher Erweiterung. Dies mit dem übergreifenden Ziel, dem gesellschaftlichen Wandel, in den der Adel eingebunden war, einen Teil seiner Komplexität zurückzugeben, durch Abkehr von kurzschlüssig-linearen Entwicklungs- wie dichotomischen Strukturkonzepten und durch verstärkte Berücksichtigung der zwischen Strukturen und Prozessen vermittelnden Akteure mit ihren jeweiligen Werte-, Deutungs-, Motiv- und Handlungswelten.
Ein wichtiger Ausgangs- und inspirierender Treffpunkt der neuen Adelsforschung war über die nun folgenden Jahre hinweg das Doktoranden-Kolloquium am Institut für Geschichtswissenschaft der TU Berlin. Getragen wurde dieses Forschungsseminar wie auch die Projekte „Elitenwandel“ und „Adels-Autobiographien“ unter meiner Leitung von Stephan Malinowski, Marcus Funck, Rainer Pomp, Wolfram Theilemann, Thierry Jacob (Lyon), Martin Kohlrausch, René Schiller, Kay-Uwe Holländer, Katrin Wehry, Jan Bockelmann und Mischa Klemm. Hinzu traten mit der Zeit, als assoziierte Doktoranden bzw. Promovierte Gunter Heinickel und Hartwin Spenkuch.
Das Berliner Forschungskolloquium wurde, nicht zuletzt wegen der außergewöhnlich hohen Vernetzungs- und Einladungsaktivitäten...