Einleitung
Der erste Band dieser Hitler-Biographie, der 2013 erschien, behandelt die »Jahre des Aufstiegs«. Darin wird geschildert, wie der unbekannte Gefreite des Ersten Weltkriegs sich in den zwanziger Jahren zum unbestrittenen »Führer« der völkisch-nationalen Rechten in Deutschland emporarbeitete, im Januar 1933 im Bündnis mit den konservativen Eliten an die Schalthebel der Macht gelangte und sich nach Errichtung seiner Diktatur Schritt für Schritt des Versailler Vertrages entledigte, um anschließend den Übergang von der Revisions- zur Expansionspolitik zu vollziehen. Der Band endet mit dem unter großem Pomp begangenen 50. Geburtstag Hitlers am 20. April 1939. Damals schien seine schwindelerregende Laufbahn unaufhaltbar zu sein, doch tatsächlich hatte, wie scharfblickende Zeitgenossen erkannten, der Abstieg bereits begonnen, kündigte sich die Nemesis an.
Der zweite Band nun beschäftigt sich mit den »Jahren des Untergangs«. Er umfasst die kurze Zeitspanne von sechs Jahren – von der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs im Sommer 1939 bis zum Selbstmord des Diktators im Bunker der Reichskanzlei im Frühjahr 1945. Zu Recht ist gesagt worden, dass Hitler und der Nationalsozialismus mit diesem Krieg »gleichsam zu sich selbst« gefunden hätten.[1] In ihm verdichtete sich, wie in einem Brennspiegel, die kriminelle Dynamik des NS-Regimes und des Mannes an seiner Spitze. Erst der Krieg bot Hitler die Möglichkeit, seine ideologischen Obsessionen und die daraus resultierenden verbrecherischen Ziele zu verwirklichen: zum einen die Eroberung von »Lebensraum im Osten« als Basis für eine Vormachtstellung in Europa und später der Welt; zum anderen die »Entfernung« der Juden aus Deutschland und, wenn möglich, aus ganz Europa. Allerdings hätten, wie gezeigt werden wird, diese Ziele nicht bis ins Stadium der Realisierung geführt werden können, wenn Hitler nicht willige Helfer in fast allen Institutionen des NS-Staates und aus weiten Teilen der deutschen Gesellschaft zur Seite gestanden hätten.
Im Krieg begegnet uns Hitler in einer neuen Rolle – der des Feldherrn. Spätestens mit dem unerwartet schnellen Sieg über Frankreich im Mai und Juni 1940 übte er die Funktion des Obersten Befehlshabers nicht nur nominell, sondern auch faktisch aus. In zunehmendem Maße beanspruchte er, bei der Planung und Durchführung der militärischen Operationen sich die letzte Entscheidung vorzubehalten und den Einfluss der professionellen Militärs im Generalstab zurückzudrängen. Den größten Teil seiner Zeit und Arbeitskraft widmete er den militärischen Lagebesprechungen in seinen wechselnden Hauptquartieren. Parteiführer und Reichskanzler war er gewissermaßen »nur noch im Nebenberuf«.[2] Das bedeutet aber auch, dass der militärischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs in diesem Buch ein angemessener Platz eingeräumt werden muss. Das zehnbändige, vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg herausgegebene Werk »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« bietet dafür eine unverzichtbare Grundlage.[3]
In ihren nach 1945 erschienenen Memoiren haben die deutschen Generäle jede Schuld an der militärischen Niederlage von sich gewiesen. Der Krieg, so behaupteten sie, hätte gewonnen werden können, wenn ihnen der »Dilettant« Hitler nicht ins Handwerk gepfuscht hätte. Als einer der ersten Kronzeugen trat der ehemalige Generalsstabschef Franz Halder auf. Ihn hatten die Amerikaner bereits im Sommer 1946 für die deutsche Abteilung der »Historical Division« engagiert – in der Absicht, sich die Erfahrungen der Wehrmachtgeneralität in der kommenden Auseinandersetzung mit der Sowjetunion zunutze zu machen. In einer 1949 veröffentlichten Broschüre sprach Halder Hitler alle militärischen Führungsqualitäten ab: Er sei »kein soldatischer Führer im deutschen Sinne« und »erst recht kein Feldherr« gewesen. Sein dämonischer Wille habe die Grenzen des militärisch Möglichen immer wieder missachtet und so die Katastrophe herbeigeführt.[4] Diese Erzählung vom realitätsfernen, militärisch in jeder Hinsicht inkompetenten Diktator hatte, wie unschwer zu erkennen ist, eine entlastende Funktion. Denn indem man Hitler zum alleinigen Sündenbock für alle Fehlschläge stempelte, musste über den eigenen Anteil nicht mehr gesprochen werden.
Wie die meisten hohen Funktionsträger des NS-Staates stilisierten sich auch die Generäle zu Opfern Hitlers, die sich seinen Befehlen nicht hätten widersetzen können. Für die Verbrechen im Krieg gegen Polen und die Sowjetunion trügen die Einsatzgruppen Himmlers und Heydrichs die Verantwortung; die Wehrmachtführung und die ihr unterstellten Verbände hätten damit nichts zu tun gehabt. Erst die beiden Wehrmachtausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995 und 2001 haben der Legende von der »sauberen Wehrmacht«, die in der Nachkriegszeit ersonnen und hartnäckig über Jahrzehnte gepflegt wurde, endgültig den Boden entzogen.[5] Im Gefolge der heftigen Debatten, die vor allem durch die erste Ausstellung ausgelöst wurden, ist eine Reihe historischer Untersuchungen erschienen, welche die Beteiligung zahlreicher Wehrmachteinheiten an den Massenverbrechen des Nationalsozialismus zweifelsfrei belegt haben.[6] Der Charakter des Unternehmens »Barbarossa« als eines in der Geschichte bislang beispiellosen rassenideologischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges ist seither in der Forschung nicht mehr strittig, auch wenn diese Erkenntnis noch längst nicht in dem Maße ins historische Bewusstsein der Bundesrepublik und ihrer politischen Repräsentanten eingegangen ist, wie es im Interesse einer friedlichen Zukunft auf dem Kontinent wünschenswert wäre.
Für unsere Darstellung ergibt sich aus dem Gesagten die Notwendigkeit, dem Verhältnis zwischen Hitler und der Wehrmachtelite besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wie übte der oberste Kriegsherr seine militärische Führungsrolle aus, und auf welche Weise war der Generalstab an seinen strategischen Entscheidungen beteiligt? Inwieweit stimmten die Generäle mit Hitlers verbrecherischen Zielen überein, und welche Initiativen entwickelten sie, um sie zu befördern oder womöglich zu behindern? Gab es in den Beziehungen zwischen dem Diktator und den führenden Militärs im Laufe des Krieges Veränderungen, und, wenn ja, wodurch wurden sie bewirkt?
Im Mittelpunkt dieses Bandes steht die von den Nationalsozialisten so genannte »Endlösung der Judenfrage«, der Massenmord an den europäischen Juden – ein einzigartiges Menschheitsverbrechen, weil, wie Eberhard Jäckel im »Historikerstreit« des Jahres 1986 ausgeführt hat, »noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen Machtmitteln in die Tat umsetzte«.[7]
Die Forschungen über den Holocaust gehörten auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eher zu den vernachlässigten Themen der Geschichtswissenschaft, und es ist kein Zufall, dass ihm Joachim Fest in seiner gefeierten Hitler-Biographie aus dem Jahr 1973 nur wenige Seiten widmete.[8] Erst seit den 1990er Jahren, auch im Zusammenhang mit der verspäteten Rezeption des Grundlagenwerks von Raul Hilberg »The Destruction of the European Jews« von 1961, hat sich die Holocaust-Forschung als bedeutsamer Zweig etabliert, und seither steht das Gedenken an das Menschheitsverbrechen auch im Zentrum der deutschen wie der internationalen Erinnerungskultur.[9]
Die Literatur zum Holocaust ist inzwischen kaum noch überschaubar, und mit der auf insgesamt sechzehn Bände angelegten Dokumentation »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945« ist 2008 ein ehrgeiziges Editionsprojekt begonnen worden, das einen umfassenden Blick auf alle beteiligten europäischen Länder ermöglicht.[10] Vor allem zwei Ergebnisse verdanken wir den neuen Forschungen: 1. Der Kreis der deutschen und österreichischen Täter war viel größer, als lange Zeit angenommen wurde. Mittlerweile geht man von einer Zahl von mindestens 200000 bis 250000 aus. Dazu kommen noch einmal Millionen von Nutznießern und Profiteuren des Judenmords. 2. Es gab keinen schriftlichen Befehl Hitlers, der gleichsam als Initialzündung den Vernichtungsprozess in Gang setzte. Vielmehr entwickelte sich das Mordgeschehen in einem komplexen Wechselspiel zwischen der Zentrale in Berlin und den an der Peripherie des deutschen Herrschaftsbereichs operierenden Einheiten von SS, Polizei und Wehrmacht. Dabei rücken auch die Kollaborateure vor allem in den besetzten Ländern Osteuropas verstärkt ins Blickfeld.
So richtig es aber einerseits ist, die Perspektive nicht auf Hitler und die unmittelbaren Exekutoren seiner Wahnideen, Himmler und Heydrich, zu begrenzen, so falsch wäre es andererseits, die forcierende und legitimierende Rolle des Diktators als Zentrum des Entscheidungsprozesses zu bagatellisieren. Diese Darstellung macht es sich daher zur...