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In Ängsten - und siehe, wir leben

Lebenserinnerungen eines Wolhynienpfarrers 1909-2009

AutorHugo Karl Schmidt, Jürgen Joachim Taegert
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl376 Seiten
ISBN9783741246609
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Im Streit um den Umgang mit globalen Flüchtlingsbewegungen heben heute viele abwehrend die Hände, sie wollen die Grenzen dichtmachen. Da erinnern sich viele Deutsche ihrer eigenen Flüchtlingsvergangenheit: Rd. 22 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Spätaussiedler aus den Ländern des aufgelösten Ostblocks sind von Kriegsende bis heute in Deutschland integriert worden. Als Hauptleidtragende der größten Flüchtlingsbewegung im 20. Jh. kennen sie die gewaltigen Hürden der Integration und sind sie Fremden gegenüber meist milder gestimmt. Zu solch einer versöhnliche Einstellung wollen auch die packenden Lebenserinnerungen des evangelischen 'Wolhynienpfarrers' Hugo K. Schmidt auf jeder der 376 Seiten Mut machen. Deutsche Siedler waren, bedingt durch ihre Geschichte, stets bereit, mit Fremden zusammenzuleben. Fremdenfeindlichkeit, wie sie die Nazis später dem Volk überstülpen wollten, ist für Deutsche eher untypisch. Von Herzen wünschen deshalb heute viele, dass Abwehrhaltungen durch eine 'Kultur des Willkommens' ersetzt wird. Hugo Schmidt, Nachfahre von Schwaben, der sich in der kurzen preußischen Herrschaft um 1805 einladen ließen, den Umkreis um die spätere polnische Industriestadt Lodz zu besiedeln, hat sich als junger Pastor der Evang.-Augsburgischen Kirche in Polen zum Dienst in den volkskirchlich geprägten Gemeinden Wolhyniens berufen lassen. Dabei war er wie einer 'ersten Liebe' seiner seelsorgerlichen Aufgabe an diesen kernigen Menschen in dem heute ukrainischen Gebiet verfallen. Umso verstörendere Migrationserfahrungen erwarteten ihn und eine weitere ¾ Million 'Volksdeutscher' durch den Hitler-Stalin-Pakt: Beginnend im strengen Winter 1939-1940 wurden alle deutschen Volksgruppen vom Baltikum bis Südtirol zur notvollen Umsiedlung 'heim ins Reich' genötigt, als seien sie Schachfiguren, eine erzwungene Völkerwanderung, die Hitlers Utopie vom 'Lebensraum im Osten' im eroberten Polen Gestalt verleihen sollte. Die Zumutungen der Flucht von 1945 klangen hier schon an: verlustreiche Pferdetrecks, ungeheizte Eisenbahnzüge, Versorgungsmängel, verlogene Propaganda... Dass in solchen Zeiten des lebensverneinenden Chaos gerade auch der christliche Glaube ein besonderer Wert ist, will der Buchtitel mit dem Bibelzitat 'In Ängsten - und siehe wir leben' unterstreichen. Es preist einen Gott, der den Menschen immer wieder neu zur Umkehr und ins Leben ruft und dem Gewissen ein verlässlicher Ratgeber ist. 328 z.T. farbige Bilder und Karten veranschaulichen das Geschehen.

Der Autor Hugo Karl Schmidt, 2009 im begnadeten Alter von fast 100 Jahren verstorben, war der erste Pfarrer aus den östlichen Provinzen des zusammengebrochenen Deutschen Reiches, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dienst der Evang.-Luth. Kirche in Bayern übernommen wurde. Er leitete hier die Pfarrstellen von Roth II und Katzwang. Bis zuletzt setzte er sich auch rührend für seine ehemaligen Gemeindeglieder ein, die er als Pfarrer in Wolhynien und als Superintendent (Dekan) in Rypin im Wartheland (Dobriner Land) betreut hatte und die nach ihrer Flucht 1945 nun in alle Winde verstreut waren. Er ist Gründer des Historischen Vereins Wolhynien und zugleich dessen Ehrenvorsitzender. Sein historisch bedeutsames Hauptwerk ist, neben gut 40 weiteren Veröffentlichungen, das Buch 'Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Wolhynien' (1992). Hugo Schmidt stammt aus einer Siedlerfamilie schwäbischer Herkunft und wurde 1909 in der Industriestadt Lodz im damals russisch beherrschten 'Kongress-Polen' geboren. Die Restitution des polnischen Staates und die Diktatur Józef Pisudskis nötigten den Heranwachsenden, in Polnisch sein Abitur zu machen. Er nahm auch den wachsenden Konflikt zwischen dem strikt katholischen polnischen Nationalismus und dem vom Protestantismus geprägten Deutschtum wahr. Das Theologiestudium führte ihn nach Leipzig und zu Beginn des 'Dritten Reichs' erstmals auch nach Erlangen. Zum Mentor für sein Vikariat wählte Hugo Schmidt den Pfarrer der deutschen Gemeinde von Rozyszcze im damals polnischen West-Wolhynien (heute Ukraine). Nach seiner Heirat ließ er sich in dieser volkskirchlich geprägten Landschaft als Pastor der Gemeinde Tuczyn einsetzen. Die Polen verhafteten ihn bei Kriegsbeginn 1939 und sperrten ihn mitsamt vielen anderen deutschen Intellektuellen im berüchtigten polnischen Konzentrationslager Bereza Kartuska (heute Weißrussland) ein, doch kam er mit Auflösung der äußeren Ordnung frei. Hitlers Geheimabkommen mit Stalin nötigte seit dem eiskalten Winter 1939/40 alle 'Volksdeutschen', ihre Heimat zu verlassen. Die Nazis zerstreuten Schmidts Gemeinde im deutschen 'Mustergau' Wartheland, der nach ihrem Wunsch möglichst religionslos sein sollte. Als Pfarrer von Rypin und inzwischen beauftragter Superintendent von Lipno waren für ihn die Konflikte mit dem System vorprogrammiert. Rechtzeitig vor Kriegsende konnte Hugo Schmidt seine weitläufige Familie und auch sich selbst vor der heranrückenden Roten Armee in Sicherheit bringen.

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Leseprobe

EINFÜHRUNG


Ein Buch voller Wunder in einer Welt voller Schrecken 1909–2009


- von Jürgen Taegert

Ein eindrückliches Titelbild ziert dieses Buch. Die Vorlage heißt „Der große Treck“ und stellt die Ankunft der wolhyniendeutschen Umsiedler im Januar 1940 in den Lagern um die Stadt ŁÓDŹ in Mittelpolen dar. Aus Gründen, über die noch nachzudenken sein wird, habe ich aber das Originalmotiv bewusst um 180° horizontal gewendet.

Wir sehen, wie ein Mann in wärmendem Pelz im Morgengrauen auf die Stadt ŁÓDŹ zugeht, die mit ihrer mystischen Silhouette der Basilika St. Stanislaus Kosta schemenhaft aus dem Frühnebel auftaucht. Links und rechts seines Weges sind, soweit das Auge reicht, Planwagen und beladene Bauernwagen abgestellt und abgeschirrt. Zwei einsame Menschen stehen etwas entfernt wartend und fragend am Weg. Ein dunkler Doppelspänner kommt ihnen von Ferne entgegen. Sonst ist die Szene menschenleer.

Der Pinselstrich ist expressiv und rau, das Motiv wirkt keineswegs heroisierend, wie man es von Künstlerbildern der Hitlerzeit vielleicht erwarten würde. Hier wird kein Paradies und kein Heldentum dargestellt, eher ein von Kälte und Härte gezeichnetes Leben in Wartestellung, das fragt, wie es weitergehen soll.

Ob HUGO KARL SCHMIDT dieses Bild gekannt hat, muss hier offenbleiben. Immerhin waren Werke des Künstlers OTTO ENGELHARDT-KYFFHÄUSER (1884–1965) auf der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ 1940 im Haus der Deutschen Kunst in MÜNCHEN ausgestellt; hier wollte HITLER „deutsche klare“ Kunst von den „zersetzenden Tendenzen“ der „entarteten Kunst“ der „vorgeschichtlichen prähistorischen Kultur-Steinzeitler und Kunststotterer“ getrennt und unterschieden wissen. Außerdem waren Engelhardts Bilder dann vor allem bei der ersten Ausstellung eines deutschen Künstlers im besetzten Polen vom 2.-12. Februar 1940 in der Krakauer Kunsthalle zu sehen. Und im weiteren Verlauf des Jahres 1940 wurde auch eine ständige Ausstellung seiner Bilder unter dem gleichen Titel „Der große Treck“ im Ständehaus in GÖRLITZ eröffnet. Nicht zuletzt ließen sich die Nazis 1940/41 aber von Engelhardts Bildmotiven zu ihrem großen propagandistischen Spielfilm „Heimkehr“ inspirieren und setzen dafür die Filmgrößen ihrer Zeit ein, wie PAULA WESSELY, PETER PETERSEN, ATTILA HÖRBIGER, RUTH HELLBERG, CARL RADDATZ u.v.a.m.

Was malt der Künstler hier, und was hat ihm mit solchen ernst gestimmten Bildern ausgerechnet bei den Nazis solchen Ruhm beschert? Es war Hitlers raffinierter Propagandaminister JOSEF GOEBBELS, der den Maler ENGELHARDT, der sich als regimetreuer Nazi offenbart hatte, im Januar 1940 mit einer makabren Mission beauftragte: Er sollte die „Rückführung“ der über 60.000 Wolhyniendeutschen aus den Gebieten, die nach dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes der Sowjetunion zufallen sollten, begleiten und in seinen Skizzen und Zeichnungen festhalten.

Es war durchaus Absicht der Nazis, dass diese Umsiedlung „heim ins Reich“ voll in die kälteste Jahreszeit von Weihnachten 1939 bis Mitte Januar 1940 fiel. Auch wurde den Ausziehenden damals keinerlei Unterstützung von außen zuteil; vielmehr wurde ihnen Beistand bewusst verweigert, mit der Begründung: „Es ist ja Krieg, wir brauchen unsere Transportmittel für unsere Truppen an der Front“. So waren diese Exulanten voll auf sich selbst gestellt und mussten entsprechende bittere Schläge hinnehmen, wie auch die diesbezüglichen dramatischen Berichte in den folgenden „Lebenserinnerungen“ zeigen.

So entstehen damals in der Wirklichkeit für den Film „lebensechte“ Bilder voller Anspannung und Dramatik. Sie schildern die Auseinandersetzung der Menschen mit den Naturgewalten im Kampf ums Überleben. Es sind Bilder „nach dem Herzen des Führers“; er will sein Volk in diesem Kampf um die Überlegenheit der arischen Rasse siegen oder untergehen sehen.

Hitlers Geschichtsdenken ist ja auf makabre Weise von seinem Glauben an einen Sozialdarwinismus bestimmt, in dem das überlegene Volk Anspruch auf Herrschaft über die übrige Menschheit hat. „Deutschland wird Weltmacht oder gar nicht sein", so hatte Hitler einst bei seinem Gefängnisaufenthalt in Landsberg 1924 profezeit, nach dem Motto: Alles oder nichts. In seinen letzten Tagen im Führerbunker in Berlin eine knappe Generation später im April 1945 wird er die Niederlage und Zerstörung Deutschlands konsequenterweise als „verdienten Untergang“ seines Volkes bezeichnen, das sich zu seiner großen Enttäuschung als das Schwächere erwiesen habe.

Die Bilder, die bei der Umsiedlung 1940 entstanden sind, zeigen den ganzen existenziellen Einsatz und das tiefe Leid von Menschen. Diese Bilder werden nach dem Krieg als „Ikonen der Vertreibung“ missbraucht und müssen seitdem immer wieder in verschiedensten Veröffentlichungen auch renommierter Verlage völlig anachronistisch und unkritisch zur Darstellung der deutschen Flucht und Vertreibung im Osten 1945 herhalten, welch makabere Zweckentfremdung!

Die Geschichten in diesen Bildern vom Januar 1940 werden im Film ergänzt durch Szenen über Gräueltaten, welche die Nazis den authentischen Erlebnissen der Wolhynier abgelauscht und nun bewusst tendenziös zu einer Handlung verdichtet haben. Es könnten durchaus auch Aussagen von HUGO SCHMIDT und seinen Gemeindegliedern und Kollegen verwertet worden sein. Die gutgläubigen Wolhynier, die von solcher Zweckentfremdung ihrer Zeugnisse nichts ahnten, wurden damals von GOEBBELS gezielt für die Kriegspropaganda gegen Polen und dann vor allem „gegen den Bolschewismus“ instrumentalisiert.

Künstler mit Spezialauftrag: Otto Engelhardt-Kyffhäuser als Berater der Dreharbeiten des Nazi-Propagandafilms „Heimkehr“ 1941; hinter ihm die Gestalt des fellbekleideten Wolhyniers, der auch das Titelbild ziert

Genau zu dem Zeitpunkt, als HITLER im Jahr 1941 seinen Feldzug gegen Russland beginnt, kommt der 3,7 Millionen Reichsmark teure, nach heutigem Geldwert etwa das Zehnfache kostende Film in den deutschen Kinos heraus und soll den Deutschen den wahren Kriegsgrund im Ostfeldzug vor Augen führen, nämlich das „Untermenschentum der slawischen Völker“, denen gegenüber es nur einen Kampf ums Überleben der Deutschen mit allen Mitteln geben könne

Betrachten wir die Handlung dieses Films genauer: Im Mittelpunkt steht die wolhyniendeutsche Minderheit in der Woiwodschaft LUCK, die dem Gebiet von ROWNO und TUCZYN, in dem HUGO SCHMIDT seinerzeit wirkte, unmittelbar westlich benachbart ist. Die Deutschen dort werden nach der Aussage dieses Films von der polnischen Mehrheit drangsaliert. Dem deutschen Arzt erlaubt man für notwendige Operationen nicht die Nutzung des örtlichen Krankenhauses. Seine Tochter MARIE, die, wie die damaligen kirchlichen Kantorlehrer, an der deutschen Schule unterrichtet, muss erleben, dass ihre Schule staatlicherseits von Polen enteignet und von aufgebrachten Volksmassen demoliert wird. Sie beruft sich ohne Erfolg beim polnischen Bürgermeister auf den verfassungsmäßig garantierten Minderheitenschutz und will deshalb ihr Anliegen bei der nächsthöheren Ebene in der Hauptstadt vorbringen, findet dort jedoch ebenfalls kein Gehör.

Als sie mit ihrem Verlobten FRITZ und einem von der polnischen Armee zwangsrekrutierten Deutschen den Aufenthalt in LUCK für einen Kinobesuch nutzt, erlebt sie, dass alle Anwesenden dort die polnische Nationalhymne singen und von den anwesenden Deutschen das Gleiche erwarten. Als sie sich weigern, werden sie vom aufgebrachten Mob angegriffen, der Verlobte FRITZ wird schwer verletzt und stirbt, nachdem er im Krankenhaus abgewiesen wird. Danach eskalieren die Gewalttätigkeiten gegen die deutsche Minderheit; eines ihrer Opfer wird auch Maries Vater.

Die Deutschen wollen dann heimlich in einer Scheune Hitlers Reichstagsrede vom 1. September 1939 hören, sie werden ertappt und ins Gefängnis geworfen. Die Wachmannschaften misshandeln sie und treiben sie in einen Folterkeller voller Wasser, wo sie knapp einem Massaker entgehen. Deutsche Soldaten befreien sie in letzter Sekunde. Dann beginnen die Vorbereitungen für die Umsiedlung mitsamt einigen dramaturgischen retardierenden Momenten. Schließlich passiert der Treck der Wolhyniendeutschen die Grenze zum deutsch besetzten polnischen Warthegau, über dessen Grenzstation, einem Triumphbogen gleich, ein riesiges Hitlerbild prangt und sie willkommen heißt.

Den Wolhyniendeutschen war der Zweck des eigentümlichen Besuchs des Künstlers OTTO ENGELHARDT vor der Bild- und Filmherstellung nie klar, sie betrachteten seine Anwesenheit als ehrliche Anteilnahme an ihrem Geschick. Und so konnten viele Wolhyniendeutsche auch seinem Ergebnis in Form der Bilder und der dramatischen Handlung des Films nichts Schlimmes abgewinnen, sie hatten ja alles genauso erlebt, wenn auch nicht so verdichtet, sondern aufgeteilt in unzählige Einzelerzählungen.

So blieb den meisten Filmbesuchern die heimtückische Absicht der psychologischen Kriegsführung der Nazis verborgen. Nur einzelne sahen das Machwerk mit eher gemischten Gefühlen und befürchteten, es könnte gegenseitige Hassgefühle im Zusammenleben von Polen und Deutschen wecken. Anderen sprach der Film aus der Seele, und sie stellten sich dem System sogar für vergleichbare Taten der Revanche zur Verfügung, die sie vorher bei den Polen so energisch gebrandmarkt hatten.

Wenn ich Engelhardts Bild für den Titel um 180° gewendet habe, so auch, um zu dokumentieren, wie kritisch man allem Bildmaterial von damals gegenüberstehen muss. Mit manchen Bildern wurde seinerzeit – und wird noch heute – viel Missbrauch getrieben. Ein Nebeneffekt dieser Bild-Wende: Nun schaut der Mann nicht mehr...

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