2 Psychotherapeutische Grundlagen für die Anwendung des Manuals
2.1 Die therapeutische Haltung und weitere Grundvoraussetzungen
Das vorliegende Therapiemanual orientiert sich an dem Selbstmanagementkonzept nach Kanfer et al. (2012), der dialektischen Verhaltenstherapie nach Linehan (1996) und den Prinzipien des motivational Interviewing (Miller und Rollnick, 2015). Bei der praktischen Durchführung hat es sich bewährt, wenn die Therapeuten den Patienten gegenüber eine dialektische Grundhaltung einnehmen:
Die Beziehung zwischen Alkoholabhängigen und ihren Behandlern wird unter anderem dadurch geprägt, dass die Betroffenen das Gesundheitswesen über einen langen Zeitraum ineffektiv nutzen. Sie stellen sich zumeist schon in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Suchtentwicklung vor und begeben sich oft erst unter erheblichem Außendruck in eine suchtspezifische Behandlung. Eine bedeutsame Ursache dafür ist die unklare und widersprüchliche Einstellung der Gesellschaft gegenüber Alkohol. Die in Deutschland herrschende, in bestimmten Hinsichten gestörte, Trinkkultur lässt Betroffene, aber auch Behandler, den größten Teil einer Suchtentwicklung als vollkommen harmlos erscheinen. Gleichzeitig verstößt dieselbe Gesellschaft Menschen, die sie als »Alkoholiker« bezeichnet bei einer ihrer Meinung nach ungenügenden Bewältigung der Erkrankung aus ihrem Verbund und sorgt damit nicht selten für die Aufrechterhaltung des Trinkverhaltens. Für die Therapeuten gilt: Vor allem zu Beginn der Behandlung hat sich ein konfrontatives und direktives Therapeutenverhalten als wenig effektiv erwiesen. Durch ein solches Vorgehen wird vielmehr häufig Reaktanz erzeugt, die zumindest zu einer Störung der Therapeut-Patienten Beziehung bis hin zum Therapieabbruch oder Rückfall führen kann. Stattdessen ist ein edukativer, aber sorgsamer, verständnisvoller und akzeptierender Umgang des Therapeuten mit der Ambivalenz der Betroffenen hinsichtlich einer Veränderung ihres Alkoholkonsums und seiner Fertigkeiten erforderlich. Bei alkoholabhängigen Menschen ist ebenso wie bei anderen psychiatrisch erkrankten Personen das Prinzip der Validierung ein Schlüssel zu einer effektiven therapeutischen Beziehung.
Eine weitere Besonderheit ist, dass einige Patienten unter dem Einfluss von Alkohol über völlig andere Verhaltensweisen, (Selbst-)Wahrnehmung, innere Haltung und (Selbst-)Bewertung verfügen als im nüchternen Zustand. Das Kippen dieser Fertigkeiten erfolgt in der Regel während der Entzugsbehandlung. Das bedeutet also innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes. Sehr häufig besteht nach dem körperlichen Entzug eine unrealistisch hohe Selbstwirksamkeitserwartung. Diese zeigt sich in der hartnäckigen Fehleinschätzung der Betroffenen, dass allein der eigene Wille ausreiche, um die neue Abstinenz ohne weitere therapeutische Hilfe aufrechterhalten zu können. Diese Ansicht wird von einem Teil der Patienten trotz einer Vielzahl an gescheiterten Versuchen nicht aufgegeben, sondern immer wieder erneuert. Da die oben benannten Mechanismen bei vielen Menschen mit Alkoholabhängigkeit auftreten, liegt die besondere Professionalität des Suchttherapeuten darin, diese Schwankungen einschließlich der Fehleinschätzungen flexibel, aber mit stabiler therapeutischer Strategie zu begleiten und so den Änderungsprozess zu unterstützen. Dies ist das zentrale Anliegen des vorliegenden Therapiemanuals. Die therapeutisch angewandten Strategien sollten sich dabei an der Therapiemotivation des Patienten ausrichten ( Teil A, Kap. 3).
Bei den Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Therapieprogramm sollte Folgendes berücksichtigt werden:
• Gruppentherapeutische Maßnahmen greifen tief in die Privatsphäre des Patienten ein und sind noch weniger selbstverständlich als Einzeltherapien.
• Keine Suizidalität, keine akute Fremdgefährdung.
• Vor Beginn sollte für jeden Patienten eine erste Zielanalyse einschließlich Motivationsdiagnostik durchgeführt werden. Denn von ihrem Ergebnis hängt ab, welchen Stellenwert die Teilnahme eines Patienten innerhalb seines Veränderungsprozesses haben kann.
• Viel diskutiert ist auch, welches die passenden formellen Voraussetzungen/Regeln sind, die den Ein- oder Ausschluss von Teilnehmern in solche Therapieprogramme regulieren. Einerseits sind selbstverständlich genaue zeitliche Absprachen über die Dauer der Behandlung sowie Kontingenzen bei Regelbrüchen oder Nichterscheinen zu den Therapiesitzungen zu treffen. Jedoch sind Patienten mit Suchterkrankungen bedingt durch die Biologie ihrer Störung v. a. zum Zeitpunkt einer Entzugsbehandlung in der Einhaltung eines Regulariums eingeschränkt. Aus diesem Grund ist hier ein therapeutisch flexibles Vorgehen notwendig. So kann nach einem Rückfall bei einer insgesamt niedrigen Veränderungsmotivation eine Unterbrechung der Teilnahme am Gruppenprogramm die sinnvollste Intervention sein. Dagegen kann es bei einem Patienten mit hohem Motivationsgrad selbst nach dem dritten Rückfall unter bestimmten Bedingungen noch therapeutisch sinnvoll sein, das Gruppenprogramm weiter fortzusetzen.
Rigide schriftliche Therapievereinbarungen oder das Reglement einer strengen Hausordnung haben sich in der Praxis als obsolet erwiesen. Sie entspringen einem Menschenbild, in dem die rationale Willensteuerung als Grundlage menschlichen Handelns angenommen wird. Gerade diese ist aber bei Menschen mit Abhängigkeiten aufgrund der biologischen Veränderungen der Sucht zumindest punktuell oftmals nicht gegeben. Stattdessen ist es die Aufgabe des Therapeuten, den Patienten für eine fortgesetzte und aktive Gruppenteilnahme zu gewinnen. Wie im ambulanten Setting muss daher jede einzelne Gruppenstunde zumindest so positiv für den Patienten verlaufen, dass er zur Wiederteilnahme an der nächsten Sitzung motiviert ist.
Auf Seiten des Therapeuten ist eine abgeschlossene psychotherapeutische Ausbildung und eine längere Erfahrung in der Durchführung von Gruppentherapie wünschenswert. Der Therapeut sollte über profundes Wissen über die neurobiologischen, psychologischen und sozialen Aspekte einer Alkoholabhängigkeit verfügen, um für die Patienten als glaubwürdiger Experte gelten zu können.
2.2 Anamnese bei Alkoholproblematik
Inhaltlich unterscheidet sich die Anamnese bei Alkoholerkrankung in ihrem Aufbau grundsätzlich nicht von der Erhebung anderer Vorgeschichten. Therapeuten, die ein solches Programm für dieses Klientel anbieten, sollten vor Beginn der Behandlung Wert auf die Durchführung einer ausführlichen Diagnostik legen, um mögliche Differentialdiagnosen oder komorbide Störungen aufzudecken. Da mit Dauer und Intensität des Alkoholkonsums die Wahrscheinlichkeit von internistischen oder neurologischen Folgeerkrankungen ansteigt, sind zu Beginn der Therapie eine ärztliche Untersuchung und bei längerer Behandlungsdauer Folgeuntersuchungen zwingend notwendig.
Zu einer Basisanamnese bei alkoholabhängigen Patienten gehören folgende Informationen (in Anlehnung an Sackett et al., 2000; Evidenzbasierte Suchtmedizin, 2006):
Tipp
Basisanamnese bei Alkoholproblematik
1. Name, Alter und Geschlecht des Patienten
2. Aufnahmemodus oder Hintergrund der ambulanten Vorstellung
3. Allgemeine Beschwerden, die zur Vorstellung geführt haben
4. Störungsspezifisch:
− Derzeitige Trinkmenge
− Menge des letzten Konsums
− Epileptische Entzugsanfälle oder Delirien in der Vorgeschichte?
− Beginn des Alkoholkonsums (Jahreszahl)
− Werden oder wurden weitere Substanzen konsumiert?
− Situativer Kontext des Trinkens, verstärkende oder lindernde Faktoren
− Trinkmuster (episodisch oder durchgehend, Häufigkeit, trinkfreie Tage)
− Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens von Toleranz-, Entzugssymptomen oder Kontrollverlust
− Anzahl der stationären oder ambulanten Entgiftungen
− Anamnese Motivationstherapien, Langzeittherapien und Selbsthilfegruppen
− Dauer der Abstinenzphasen, situativer Kontext von Rückfällen
− Körperliche Folgeerkrankungen
− Reaktion des sozialen Umfeldes auf die Alkoholabhängigkeit
− Alkoholspezifische Familienanamnese
− Sozialanamnese (Berufstätigkeit, Wohnsituation, Familienstand, Freunde, Finanzen, evtl. Geld- oder Haftstrafen,...